Mir legt sich der Vergleich mit Anne Franks "Tagebuch" nahe. Beide Male sehr genaue Beobachtung und das Bemühen, dem Leser Zusammenhänge zu erklären. Beide Autoren waren um 13 Jahre alt, als sie ihren Text begannen.
Freilich: Ortheil beschreibt eine kurze Reise. Am Ende der Reise ist er noch 12 Jahre. Anne Frank macht ein unfreiwilliges soziales Experiment in dauernder latenter Lebensgefahr durch, das ihre soziale Beobachtungsgabe weit über ihr Alter hinaus reifen lässt. Ihre Texte hat sie mit 14 oder 15 Jahren noch einmal überarbeitet.
In Ortheils Text geht mehr sprachliche Reflexion ein. Anne beschreibt intensive soziale Erfahrungen, die ihr viel zu verarbeiten geben.
Auch Ortheils Buch berührt ungemein sympathisch. Eindrucksvoll die Motive (vier unbekannte tote Brüder, empfindliche Mutter, fürsorglicher, zugewandter Vater), die erst spät in Ortheils literarischer Laufbahn intensiv aufgearbeitet werden. Aber wie!
Was die Bücher unterscheidet, ist, dass Anne eine glückliche Kindheit hatte und dann ermordet wurde, während Ortheil eine schwierige Kindheit hatte und ihm sein Vater so half, dass er ein erfolgreicher Schriftsteller werden konnte.
Annes Schicksal wurde von vielen 100 000 Kindern und Jugendlichen geteilt. Ortheils Schicksal ist eine Ausnahme. Anne steht für viele, denen man die Zukunft genommen hat, Ortheil hat ein Sonderschicksal und einen Vater, der durch schier unglaubliche Zuwendung zu einer sehr erfolgreichen Zukunft verholfen hat. Annes Tagebuch ist Weltliteratur. Ortheils Buch ist nicht so bedeutend, doch zeigt es einen Schriftsteller im Werden und ist so faszinierender als viele seiner späteren Werke.
Doch genug des Vergleichs. Was ich über Annes Tagebuch zu sagen weiß, ist ohnehin bekannt. Was Ortheils Berlinreise so liebenswert macht, wird wohl am deutlichsten durch ein paar Zitate:
Das Leben am Wasser An einem großen Wasser fühlt man sich freier als sonst, einfach nur, weil das große Wasser da ist. Das große Wasser verscheucht die ewigen kleinen Gedanken und das Drandenken an dies und das und sagt einem, dass man einmal still und ruhig werden soll. Man wird plötzlich ganz "spiegelglatt", ich meine im Innern. Und man atmet ganz ruhig und spürt die Luft vom vom Wasser her, wie sie das Gesicht kühlt und dafür sorgt, dass die Sonne sich einbrennen kann in das Gesicht. (S.109/110)
Das Knistern von Ost-Berlin Ost-Berlin wird auf einen ahnungslosen Besucher aus dem Westen sehr fremd. Das besonders Fremde entsteht dadurch, dass man hinter vielen Dingen etwas Russisches vermutet. Das Russische im Deutschen und das Deutsche im Russischen führen zu einem Knistern, wie bei elektrischen Strom . Minus und Plus, Plus und Minus. Dadurch bekommt der ahnungslose Besucher aus dem Westen immer wieder kleine Stromschläge mit und zuckt zusammen. (S.143/144)
Wir frühstückten dann wieder ziemlich lange, und Papa in unterhielt sich mit Paul und Hanna (diesmal vor allem über den Osten), und ihrer Unterhaltung war eine richtig politische, so dass Papa sogar ein Zigarillo rauchte (was zu der politischen Unterhaltung sehr gut passte). [...] Ich habe zwei oder dreimal im Fernsehen die Sendung der Internationale Frühschoppen mit Werner Höfer gesehen. Diese Sendung ist auch eine richtig politische Unterhaltung, und zwar mit mehreren Journalisten aus verschiedenen Ländern. Werner Höfer leitet die Sendung und spricht immer einen anderen Journalisten an, und dann sagt der Journalist etwas nippt an seinem Glas und raucht eine Zigarette oder ein Zigarillo." (S.159/160)
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