05 Juni 2014

Wahrheit, Gutsein, Mystik (Ulrich und Agathe II)

Er erinnerte sich, schon einmal auf den Gedanken gekommen zu sein, es käme heute jede Wahrheit in ihre Halbheiten geteilt auf die Welt, und trotzdem könnte sich auf diese windige und bewegliche Weise eine größere Gesamtleistung ergeben, als wenn jeder ernst und einsam nach ganzer Pflicht strebe. [...]
Wenn man ihr sagte, etwas sei nötig oder wahr, so richtete sie sich danach und nahm alles, was man von ihr forderte, willig hin, weil es ihr so am mindesten anstrengend vorkam, und es wäre ihr unsinnig erschienen, etwas gegen feste Einrichtungen zu unternehmen, die mit ihr keinen Zusammenhang hatten und offenbar zu einer Welt gehörten, die nach dem Willen von Vätern und Lehrpersonen aufgebaut war. Sie glaubte aber kein Wort von dem, was sie lernte, und weil sie trotz ihres scheinbar willigen Betragens keineswegs eine Musterschülerin war und dort, wo ihre Wünsche ihren Überzeugungen widersprachen, in gelassener Weise das tat, was sie wollte, genoß sie die Achtung ihrer Mitschülerinnen, ja sogar jene bewundernde Neigung, die in der Schule findet, wer es sich bequem zu machen versteht. [...]
Denn sie hatte wenig Begabung zur Untreue bewiesen: Liebhaber kamen ihr, sobald sie sie erst kennen gelernt hatte, nicht bezwingender vor als Gatten, und es dünkte sie bald, daß sie ebensogut die Tanzmasken eines Negerstamms ernstnehmen könnte wie die Liebeslarven, die der europäische Mann anlegt. Nicht, daß sie niemals darüber von Sinnen gekommen wäre: aber es ging schon bei den ersten Wiederholungsversuchen verloren! Die ausgeführte Vorstellungswelt und Theatralik der Liebe ließ sie unberauscht. Diese hauptsächlich vom Mann ausgebauten Regievorschriften der Seele, die alle darauf hinauslaufen, daß das harte Leben hie und da eine schwache Stunde haben soll, – mit irgendeiner Unterart des Schwachwerdens: dem Versinken, dem Ersterben, dem Genommenwerden, dem sich Geben, dem Erliegen, dem Verrücktwerden und so weiter – kamen ihr schmierenhaft übertrieben vor, da sie sich in keiner Stunde anders empfand als schwach, in einer von der Stärke der Männer so vortrefflich erbauten Welt. [...]
»Es scheint, daß eigentlich nur Menschen, die nicht viel Gutes tun, imstande sind, sich ihre ganze Güte zu bewahren«! Aber in dem Augenblick, wo sie diesen Satz hatte, einleuchtend so, wie ihn Ulrich gesprochen haben mußte, kam er ihr durchaus unsinnig vor. Man konnte ihn nicht aus dem vergessenen Zusammenhang des Gesprächs allein herausnehmen. Sie versuchte die Worte anders zu stellen und tauschte sie gegen ähnliche um; aber da zeigte sich nun doch, daß der erste Satz der richtige war, denn die anderen waren wie in den Wind gesprochen und es blieb gar nichts von ihnen zurück. [...]
Manchmal, wenn sie als Pensionsmädchen des Morgens im Halbdunkel erwacht war, hatte sie den Eindruck gehabt, sie treibe in ihrem Körper wie zwischen den Planken eines Kahns der Zukunft entgegen. Jetzt war sie ungefähr doppelt so alt wie damals. Und es war im Wagen ebenso halbdunkel wie damals. Aber sie konnte sich noch immer nicht ihr Leben vorstellen und hatte keinen Begriff, wie es sein müßte. Männer waren eine Ergänzung und Vervollständigung des eigenen Körpers, aber kein seelischer Inhalt; man nahm sie, wie sie einen nahmen. [...]
In Wahrheit hätten wir nicht Taten von einander zu fordern, sondern ihre Voraussetzungen erst zu schaffen; so ist mein Gefühl!« [...]
»Ich habe bei unsrer Kusine einmal Graf Leinsdorf den Vorschlag gemacht, daß er ein Weltsekretariat der Genauigkeit und Seele gründen solle, damit auch die Leute, die nicht in die Kirche gehn, wüßten, was sie zu tun haben. Natürlich habe ich das nur zum Spaß gesagt, denn wir haben zwar seit langer Zeit für die Wahrheit die Wissenschaft geschaffen, aber wenn man für das, was übrig bleibt, etwas Ähnliches verlangen wollte, müßte man sich heute beinahe noch einer Torheit schämen. [...]
Fast könnte man sagen, unsere bösen Wünsche seien die Schattenseite des Lebens, das wir wirklich führen, und das Leben, das wir wirklich fuhren, sei die Schattenseite unserer guten Wünsche. [...]
Die Gesetzlosigkeit ihres Wesens hatte bis dahin die traurige und ermüdete Gestalt der Überzeugung gehabt: »Ich darf alles, aber ich will ohnehin nicht«, und so machten die Fragen seiner jungen Schwester nicht unberechtigterweise zuweilen auf Ulrich einen ähnlichen Eindruck, wie es die Fragen eines Kindes tun, die so warm sind wie die kleinen Hände dieses hilflosen Wesens. [...]
Moral ist nichts anderes als eine Ordnung der Seele und der Dinge, beide umfassend, und so ist es nicht sonderbar, daß junge Menschen, deren Lebenswille noch allseitig unabgestumpft ist, viel von ihr reden. [...]
Er kannte natürlich den Unterschied, der zwischen Natur- und Sittengesetzen so gemacht wird, daß man die einen der sittenlosen Natur ablese, die anderen aber der weniger hartnäckigen Menschennatur auferlegen müsse; doch war er der Meinung, daß irgendetwas an dieser Trennung heute nicht mehr stimme, und hatte gerade sagen wollen, daß sich die Moral dabei in einem um hundert Jahre verspäteten Denkzustand befinde, weshalb sie den veränderten Bedürfnissen so schwer anzupassen sei. [...]
»Es steckt eine paradoxe Sinnlosigkeit in diesen guten Menschen« meinte Ulrich. »Sie machen aus einem Zustand eine Forderung, aus einer Gnade eine Norm, aus einem Sein ein Ziel! In dieser Familie der Guten gibt es lebenslang nur Reste zu essen, und dazu geht das Gerücht um, daß einmal ein Festtag gewesen sei, von dem sie herrühren! Gewiß, von Zeit zu Zeit werden ein paar Tugenden von neuem Mode, aber sobald das geschehen ist, verlieren sie auch schon wieder die Frische.« [...]
»In früheren Jahrhunderten« dachte sie »wäre ein Mensch in meiner Stimmung in ein Kloster eingetreten« und daß sie statt dessen geheiratet hatte, war nicht frei von einer unschuldigen Komik, die ihr bisher entgangen war. Diese Komik, die ihr jugendlicher Sinn nicht früher bemerkt hatte, war allerdings keine andere als die der gegenwärtigen Zeit, die das Bedürfnis nach Weltflucht schlimmstenfalls in einem Touristengasthof, gewöhnlich aber in einem Alpenhotel befriedigt und sogar das Bestreben hat, die Strafanstalten nett zu möblieren. Es spricht daraus das tiefe europäische Bedürfnis, nichts zu übertreiben. Kein Europäer geißelt sich, beschmiert sich mit Asche, schneidet sich die Zunge ab, gibt sich wirklich hin oder zieht sich auch nur von allen Menschen zurück, vergeht vor Leidenschaft, rädert oder spießt heute noch; aber jeder hat zuweilen das Bedürfnis danach, so daß es schwer zu sagen ist, worin eigentlich das Vermeidenswerte liege, ob im Wünschen oder im Nichttun. [...]
Agathe vergewisserte sich, daß Ulrich nicht auf sie achte, und öffnete vorsichtig ihr Kleid an der Brust, wo sie auf der Haut die Kapsel mit dem kleinen Bild verwahrte, das sie durch Jahre nicht von sich gelassen hatte. Sie ging ans Fenster und tat als sähe sie hinaus. Behutsam ließ sie den scharfen Rand der winzigen goldenen Auster aufspringen und betrachtete verstohlen ihren toten Geliebten. Er hatte volle Lippen und weiches, dichtes Haar, und der kecke Blick des Zwanzigjährigen sprang aus einem Gesicht, das noch halb in der Eischale stak. Sie wußte lange nicht, was sie dachte, aber mit einem Mal dachte sie: »Mein Gott, ein einundzwanzigjähriger Mensch!« Was sprechen so junge Leute miteinander? Welche Bedeutung geben sie ihren Angelegenheiten? Wie komisch und anmaßend sind sie oft! Wie täuscht sie die Lebhaftigkeit ihrer Einfälle über deren Wert! Agathe wickelte neugierig alte Aussprüche aus Seidenpapier der Erinnerung, die sie als wunder wie klug darin aufbewahrt hatte: Mein Gott, das war ja beinahe bedeutend, dachte sie; aber eigentlich ließ sich selbst das nicht mit Sicherheit behaupten, wenn man sich nicht den Garten vorstellte, worin es gesprochen worden war, mit den sonderbaren Blumen, deren Bezeichnung sie nicht wußten, den Schmetterlingen, die sich wie müde Trunkenbolde auf jene setzten, und dem Licht, das über ihre Gesichter floß, als ob Himmel und Erde darin aufgelöst wären. Wenn sie sich daran maß, so war sie heute eine alte und erfahrene Frau, obwohl die Zahl der vergangenen Jahre nicht gar groß war, und sie bemerkte ein wenig verwirrt das Mißverhältnis, daß sie, die Siebenundzwanzigjährige, bis jetzt noch den Zwanzigjährigen geliebt hatte: er war viel zu jung für sie geworden! Sie fragte sich: »Welche Gefühle müßte ich eigentlich haben, wenn mir, in meinem Alter, dieser knabenhafte Mann wirklich das Wichtigste sein sollte?!« Es wären wohl recht sonderbare Gefühle gewesen; sie bedeuteten ihr nichts, sie vermochte sich nicht einmal eine deutliche Vorstellung von ihnen zu bilden. Eigentlich löste sich alles in nichts auf. Agathe anerkannte in einer großen, schwellenden Empfindung, daß sie in der einzigen stolzen Leidenschaft ihres Lebens einem Irrtum erlegen war, und der Kern dieses Irrtums bestand aus einem feurigen Nebel, der sich nicht berühren und fassen ließ, mochte man nun sagen, daß Glauben nicht eine Stunde alt werden dürfe, oder es anders nennen; und immer war es das, wovon ihr Bruder sprach, seit sie beisammen waren, und immer war es sie selbst, von der er sprach, auch wenn er allerhand begriffliche Umstände machte und seine Vorsicht für ihre Ungeduld oft viel zu langsam war. Sie kamen immer wieder auf das gleiche Gespräch zurück, und Agathe brannte selbst vor Verlangen, daß sich seine Flamme nicht verkleinere. Als sie nun Ulrich ansprach, hatte er die lange Dauer der Unterbrechung gar nicht bemerkt. Aber wer das, was zwischen diesen Geschwistern vorging, nicht schon an Spuren erkannt hat, lege den Bericht fort, denn es wird darin ein Abenteuer beschrieben, das er niemals wird billigen können: eine Reise an den Rand des Möglichen, die an den Gefahren des Unmöglichen und Unnatürlichen, ja des Abstoßenden vorbei, und vielleicht nicht immer vorbei führte; ein »Grenzfall«, wie das Ulrich später nannte, von eingeschränkter und besonderer Gültigkeit, an die Freiheit erinnernd, mit der sich die Mathematik zuweilen des Absurden bedient, um zur Wahrheit zu gelangen. [...]
»Man braucht durchaus kein Heiliger zu sein, um etwas davon zu erleben! Man kann auch auf einem umgestürzten Baum oder einer Bank im Gebirge sitzen und einer weidenden Rinderherde zusehn und schon dabei nichts Geringeres mitmachen, als wäre man mit einemmal in ein anderes Leben versetzt! Man verliert sich und kommt mit einemmal zu sich: du hast ja selbst schon davon gesprochen!« [...]
Was auf der Bildfläche bleibt, könnte man am ehesten ein Gewoge von Empfindungen nennen, das sich hebt und senkt oder atmet und gleißt, als ob es ohne Umrisse das ganze Gesichtsfeld ausfüllte. Natürlich sind darin auch noch unzählige einzelne Wahrnehmungen enthalten, Farben, Hörner, Bewegungen, Gerüche und alles, was zur Wirklichkeit gehört: aber das wird bereits nicht mehr anerkannt, wenn es auch noch erkannt werden sollte. Ich möchte sagen: die Einzelheiten besitzen nicht mehr ihren Egoismus, durch den sie unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, sondern sie sind geschwisterlich und im wörtlichen Sinn ›innig‹ untereinander verbunden. Und natürlich ist auch keine ›Bildfläche‹ mehr da, sondern irgendwie geht alles grenzenlos in dich über.« Nun übernahm wieder Agathe lebhaft die Beschreibung: »Jetzt brauchst du bloß statt Egoismus der Einzelheiten Egoismus der Menschen zu sagen,« rief sie aus »so ist es das, was man so schwer ausdrücken kann: ›Liebe deinen Nächsten!‹ heißt nicht, liebe ihn so, wie ihr seid, sondern es bezeichnet eine Art Traumzustand!« »Alle Sätze der Moral« bestätigte Ulrich »bezeichnen eine Art Traumzustand, der aus den Regeln, in die man ihn faßt, bereits entflohen ist!« »Eigentlich gibt es dann gar kein Gut und Bös, sondern nur Glaube – oder Zweifel!« rief Agathe aus, der jetzt der sich selbst tragende ursprüngliche Zustand des Glaubens so nahe zu sein schien und ebenso sein Verlust in der Moral, von dem ihr Bruder gesprochen hatte, als er sagte, Glaube könne nicht eine Stunde alt werden. [...]
»Einmal im Leben« antwortete Agathe darauf schwärmerisch entschieden »geschieht alles, was man tut, für einen anderen. Man sieht für ihn die Sonne scheinen. Er ist überall, und selbst ist man nirgends. Und doch ist das kein ›Egoismus zu zweien‹, denn dem anderen muß es genau so gehn. Zuletzt sind beide kaum noch für einander da, und was übrig bleibt, ist eine Welt für lauter zwei Menschen, die aus Anerkennung, Hingabe, Freundschaft und Selbstlosigkeit besteht!« [...]
»Das sind christliche, jüdische, indische und chinesische Zeugnisse; zwischen einzelnen von ihnen liegt mehr als ein Jahrtausend. Trotzdem erkennt man in allen den gleichen vom gewöhnlichen abweichenden, aber in sich einheitlichen Aufbau der inneren Bewegung. Sie unterscheiden sich von einander fast genau nur um das, was von der Verbindung mit einem Lehrgebäude der Theologie und Himmelsweisheit herrührt, unter dessen schützendes Dach sie sich begeben haben. Wir dürfen also einen bestimmten zweiten und ungewöhnlichen Zustand von großer Wichtigkeit voraussetzen, dessen der Mensch fähig ist und der ursprünglicher ist als die Religionen.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften,

Keine Kommentare: