25 Juni 2014

Bruchstücke aus Musils Nachdenken über "Der Mann ohne Eigenschaften"

Daß sich die Gespräche über Liebe so ausgebreitet haben, hat den Hauptfehler, daß der zweite Lebenspfeiler, der des Bösen oder des Appetitiven und so weiter, zu wenig und zu spät in Erscheinung tritt! Die Teilprobleme, wie sie zwischen Ulrich und Agathe auftauchen, schraube sie auf ihre Kleinheit zurück! [...]
Die Schwierigkeiten, die mir durch Jahre alle berührten Probleme bereiten, die immer erneuten Umarbeitungen, Hoffnungen und Enttäuschungen, haben mich die Sache immer prinzipieller anfassen lassen. Obwohl das nun gedanklich noch beiweitem nicht genügt, hat sich darstellend-stilistisch eine unangenehme Umständlichkeit eingeschlichen. Ich muß unbekümmerter und kürzer schreiben. Das ist der Sinn der irgendwo notierten Bemerkung, daß die Einfalle aphoristischer auszudrücken seien. [...]
Der Mann, der alles prüft und sich nach seinem Gewissen entscheidet, ist ein Atavismus. Der naturwissenschaftliche Mensch ist das Kind, das sein Spielzeug auseinandernimmt, der geisteswissenschaftliche der, der sich an ihm erregt. Ohne und mit Phantasie spielen ----- Aber jeder weiß, daß man das Zerlegen nicht mehr wirklich verbieten kann. Also ist es wichtig, den entscheidenden Unterschied zu isolieren, das Hormon der Phantasie zu gewinnen, und das ist das ganze Bemühen um den »anderen Zustand«. [...]
Ironische Abwehr des Einwands, daß nur böse Menschen geschildert werden: Die guten Menschen sind für den Krieg. Die bösen gegen ihn! Im Ganzen muß der Roman wohl das »gute Böse« erfinden und darlegen, da es die Welt mehr braucht als die utopische »gute Güte«. [...]
1870 hatte sich ein großer europäischer Organismus konstituiert. Bis 1890 zehrte er den übernommenen Ideenfond auf; war im Kampf gegen Grün-dertum, Kriegsnachrausch und dergleichen tugendhaft, bis alle Ideen leer waren. Dann kam um 1890 die geistige Krisis, Wehen einer eigenen Seele. Dieser Versuch mißlingt. Die um 1910 auftretende Erlöseridee ist bereits Resignation, ebenso die Wendung zu Religion und Seele. Die Synthese Seele-Ratio ist mißlungen. Das führt in direkter Linie zum Kriege. [...]
Das war die geistige Situation vor dem Krieg; sie war ohne innere Direktion. Menschen, die das auf den verschiedenen Linien mitgemacht haben, gehören in den Roman. Auch Vertreter des Georgetypus und so weiter. Außer diesen geistigen Sphären dann noch die beziehungslosen der Wissenschaft und so weiter. Der Druck des kommenden wissenschaftlichen, objektiven Zivilisationszeitalters, wo alle Menschen weise und gemäßigt sein werden, lastet schon auf dieser Generation, deren letzte Zuflucht die Sexualität und der Krieg ist. [...]

Eine fingierte Biographie erzählen. Und zwar so, wie wenn ich die Essays schreiben wollte. Die Geschwisterliebe muß sehr verteidigt werden. Als etwas ganz Tiefes mit seiner Ablehnung der Welt Zusammenhängendes empfindet sie Ulrich. Die autistische Komponente seines Wesens schmilzt hier mit der Liebe zusammen. Es ist eine der wenigen Möglichkeiten von Einheit, die ihm gegeben sind ----- Ich hatte keinen Freund (das Verhältnis zu Walter ist sehr wenig freundschaftlich wird der Leser sagen!). Das ist ein Grund für Agathe. [...]
Menschen wollen, daß andre handeln, wie es ihrer literarisch typisch bestimmten Vorstellung entspricht, ob diese mögen oder nicht. So Klementine Fischel von Leo Fischel, daß er der feine und überlegene Financier sei ----- Schmeißer, Hagauer, Lindner von Agathe jeder in seiner Art. Rachel vom romantischen Soliman. Nicht in Zeitreihe erzählen. Sondern hintereinander, zum Beispiel: ein Mensch denkt a, tut Wochen später das Gleiche, aber denkt b. Oder sieht anders aus. Oder tut das Gleiche in einer anderen Umwelt. Oder denkt das Gleiche, aber es hat eine andere Bedeutung und so weiter. Die Menschen sind Typen, ihre Gedanken, Gefühle sind Typen; nur das Kaleidoskop ändert sich. Dann aber so Zusammengehöriges in continuo erzählen. Vorgreifend. Oder zurück- und nochmals aufgreifend. ----- Nicht sich schildern, sich immer versetzen. Nicht sich als erkennendes, sondern als erlebendes, erleidendes, sonderbar fühlendes und wollendes Objekt schildern. Zeit als unwirklich darstellen. Technik daher holen, daß ich wahrer Zeitschilderung gar nicht fähig bin. (Parallelaktion müßte zum Beispiel an Eucharistischen Kongreß anknüpfen und dergleichen, wovon ich zu wenig weiß. Aus diesem Fehler unbedingt die Technik machen!) Schreiben ist eine Verdoppelung der Wirklichkeit. Die Schreibenden haben nicht den Mut, sich für utopische Existenzen zu erklären. Sie nehmen ein Land Utopia an, in dem sie auf ihrem Platz wären; sie nennen es Kultur, Nation und so weiter. Eine Utopie ist aber kein Ziel, sondern eine Richtung. Aber alle Erzählungen fingieren, daß es etwas gibt, das gewesen oder gegenwärtig ist, wenn auch an einem unwirklichen Ort. Es muß gesagt werden: Ulrich hatte keine Sympathie für die guten Menschen. Gründe: sie sind unwahr, Literaten, man findet sie nicht, sie sind tot, bewegungslos, sie ver-balhornen (!) den seltenen Fall der großen Güte — — [...]
Wenn Ulrich zur Zeit gelebt hätte, wo die deutsche Nation durch Reformation und Gegenreformation gespalten wurde, so wäre er gewiß weder Katholik noch Protestant gewesen. Wie denkt er sich den Dichter? Jedenfalls nicht aus der Intuition heraus schaffend. Dem in der Eingebung die Gedanken wachsen wie Haare oder Blätter. Sondern aus dem Wissen der Zeit heraus und aus ihren Interessen. Bloß rascher als sie, im Tempo ihr so weit voraus, daß er sich im Gegensatz zu ihr fühlt. Ihr besseres Ich, der Anwalt der Zeit gegen die Zeit. Ihre Privatgefühle entwickeln sich planlos, anarchisch, Aus den Schieberinteressen heraus. Ihre offiziellen Gefühle sind weit hinter ihren Gedanken und Interessen zurück. Der Dichter muß aus dem Schieberkreis so viel annehmen wie die Hochsprache aus dem Argot, wenn sie leben bleiben will. Er muß es aber mit der Mathematik in Einklang setzen. Ulrich will kein Dichter sein, sondern ein Essayist.

Eine rein auf das äußere Geschehen konzentrierte Zusammenfassung des Romans anhand von Playmobilfiguren

Der Leser Jörg Mielczarek über "Der Mann ohne Eigenschaften"

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