24 August 2015

Goethe: Zwei Gedichte - Hölderlin: eins

Gesang der Geister über den Wassern 
Des Menschen Seele 
Gleicht dem Wasser: 
Vom Himmel kommt es, 
Zum Himmel steigt es, 
Und wieder nieder 
Zur Erde muß es, 
Ewig wechselnd. 
Strömt von der hohen, 
Steilen Felswand 
Der reine Strahl, 
Dann stäubt er lieblich 
In Wolkenwellen 
Zum glatten Fels, 
Und leicht empfangen 
Wallt er verschleiernd, 
Leisrauschend 
Zur Tiefe nieder. 
Ragen Klippen 
Dem Sturz entgegen, 
Schäumt er unmutig 
Stufenweise 
Zum Abgrund. 
Im flachen Bette 
Schleicht er das Wiesental hin, 
Und in dem glatten See 
Weiden ihr Antlitz 
Alle Gestirne. 
Wind ist der Welle 
Lieblicher Buhler; 
Wind mischt vom Grund aus 
Schäumende Wogen. 
Seele des Menschen, 
Wie gleichst du dem Wasser 
Schicksal des Menschen, 
Wie gleichst du dem Wind!

Man vergleiche damit:

Hyperions Schiksalslied

Ihr wandelt droben im Licht
Auf weichem Boden, selige Genien!
Glänzende Götterlüfte
Rühren euch leicht,
Wie die Finger der Künstlerin
Heilige Saiten.

Schicksallos, wie der schlafende
Säugling, atmen die Himmlischen;
Keusch bewahrt
In bescheidener Knospe,
Blühet ewig
Ihnen der Geist,
Und die seligen Augen
Blicken in stiller
Ewiger Klarheit.

Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab.

Bei Goethe ist der Mensch in beiden Sphären, bei Hölderlin nur im stürzenden Wildbach.
vergleiche auch: Grenzen der Menschheit

Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
 Wer nie die kummervollen Nächte
 Auf seinem Bette weinend saß, 
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte. 
Ihr führt ins Leben uns hinein, 
Ihr laßt den Armen schuldig werden, 
Dann überlaßt ihr ihn der Pein: 
Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.

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