21 August 2017

Wieland: Von der Regierungszeit König Azors (in: Der goldene Spiegel)

Azor, ein Sohn der schönen Lili, bestieg nach dem Tode seines namenlosen Vaters den Thron unter den glücklichsten Vorbedeutungen. Er war der schönste junge Prinz seiner Zeiten, einnehmend in seinem Bezeigen, sanft von Gemütsart, geneigt Vergnügen zu machen, und sich denjenigen völlig zu überlassen, welche die Werkzeuge des seinigen waren. Das Volk, gewohnt von allem nach dem Eindrucke der auf seine Sinne gemacht wird, zu urteilen, erwartete von der Regierung eines so guten Prinzen goldne Zeiten, und hatte unrecht; es betete ihn zum voraus deswegen an, und hatte unrecht; es hassete und verachtete ihn zwanzig Jahre hernach eben so unmäßig als es ihn geliebt hatte, und hatte sehr unrecht.« [...]
»Der junge Azor war wie die meisten Menschen (Prinzen oder nicht) mit einer Anlage geboren, aus welcher, unter den bildenden Händen eines Weisen, ein vortrefflicher Privatmann, und vielleicht sogar ein guter König hätte hervorkommen mögen. Freilich war er keiner von diesen mächtigen und seltnen Geistern, die sich selbst bilden; die mitten unter einer rohen oder verderbten Nation, in einem unglücklichen Zeitalter, ohne einen andern Anführer oder Gehülfen als ihren eigenen Genius, die Wege der Unsterblichkeit gehen, durch die natürliche Erhabenheit und Scharfsicht ihres Geistes den ganzen Umkreis der menschlichen Angelegenheiten übersehen, und, kurz, die großen Grundregeln einer weisen Regierung in ihrem eigenen Verstande, so wie in ihrem Herzen das Urbild jeder königlichen Tugend finden.« »Allergnädigster Herr«, sagte Danischmend, »ich bitte um Vergebung; aber es ist mir unmöglich, die schöne Nurmahal nicht zu unterbrechen. Der Verfasser, aus dem sie diese prächtige Periode entlehnt hat, glaubte vermutlich etwas sehr Schönes gesagt zu haben; aber es ist bloßer Schall. Es gibt keine so wundervolle Menschen als er uns bereden will; und Prinzen sind, bei allen ihren Vorteilen vor uns andern, im Grunde doch, wie man sagen möchte, nur eine Art von – Menschen. Um der menschlichen Natur und dem guten Sultan Azor das gebührende Recht angedeihen zu lassen, wollen wir lieber ohne alle Wörterpracht heraus sagen: Er befand sich nicht in den glücklichen Umständen, welche sich vereinigen müssen, um aus einem jungen Prinzen von der besten Anlage einen vortrefflichen Fürsten zu bilden. So war es in der Tat; und ich bin erbötig im Notfall gegen die ganze Akademie von Dely zu behaupten: Daß von Erschaffung der Welt an (welches schon lange sein mag) kein einziger großer Mann gelebt hat, der sich ohne Anführer, ohne Beispiele, und ohne Gehülfen, bloß durch die Stärke seines eigenen Genius gebildet hätte.« [...]
Man kann aus dieser Probe sicher schließen, wie gut er in den Pflichten, die mit dieser Krone verbunden waren, müsse unterrichtet gewesen sein. In der Tat waren diese Pflichten für Personen, welche einen so angenehmen Gebrauch von ihrem Leben zu machen wußten, als man es an dem Hofe zu Scheschian gewohnt war, allzu beschwerlich, als daß nicht ein jedes, das man damit beladen wollte, geeilet haben sollte, sich einer so mühsamen Bürde so bald nur immer möglich wieder auf die Schultern einer andern Person zu entledigen. Der junge König überließ den größten Teil davon seiner Mutter; seine Mutter ihrem Günstlinge; der Günstling seinem ersten Sekretär; der erste Sekretär seiner Mätresse; die Mätresse einem Bonzen, welcher, unter dem Vorwand an ihrer Seele zu arbeiten, Gelegenheit fand sich sehr tief in die Angelegenheiten der Welt zu mischen, und endlich eine große Rolle zu spielen, ohne einen andern Beruf dazu zu haben, als einen lächerlichen Ehrgeiz, und die Neigung zum Ränkeschmieden, die damals ein unterscheidendes Merkmal der Personen seines Standes in Scheschian war. [...]
»Die Pflichten eines Königs also, sind: Einem jeden sein Recht so bald und so wohlfeil als möglich widerfahren zu lassen, und alle Ungerechtigkeiten, die er nicht verhindern kann, zu bestrafen; die tauglichsten Personen zu den öffentlichen Ehrenstellen und Ämtern zu befördern; die Verdienste zu belohnen; die Staatseinkünfte weislich anzuwenden; und seinen Völkern sowohl innerliche Ruhe als Sicherheit vor auswärtigen Feinden zu verschaffen. [...]
Die Natur bildet (ordentlicher Weise wenigstens) keine Fürsten; dies ist ein Werk der Kunst, und ohne Zweifel ihr höchstes und vollkommenstes Werk: aber man hatte sich begnügt den guten Azor zu einem liebenswürdigen Edelmanne zu bilden. Da er also genötigt war, seine wichtigsten Geschäfte andern zu übertragen, und da es unmöglich ist, ohne die Kenntnisse, welche ihm mangelten, eine gute Wahl zu treffen: wie konnte sich Azor, jung und unerfahren wie er war, anders helfen, als sie denjenigen zu überlassen, von denen er am günstigsten dachte, weil sie die meiste Gewalt über sein Herz hatten? [...]
Was diejenigen, denen das gemeine Wohl zu Herzen ging, am empfindlichsten beleidigte, war die Gleichgültigkeit des Hofes bei solchen Zufällen, wodurch ganze Provinzen, in den kläglichsten Notstand gesetzt wurden. In einigen richtete, zum Exempel, das Austreten gewisser Flüsse von Zeit zu Zeit die schrecklichsten Verwüstungen an. In andern hatte der Mißwachs, aus Mangel gehöriger Vorsorge und Polizei, Hunger und Seuchen veranlaßt, wodurch ganze Gegenden zum Grabe ihrer elenden Bewohner wurden. Die Hälfte der Unkosten, welche man während dieser öffentlichen Not auf die gewöhnlichen und auf außerordentliche Hoflustbarkeiten verwendete, wäre hinlänglich gewesen, allem diesem Elende zuvorzukommen; [...]
Aber weder Azor noch Alabanda wußten, daß diese hunderttausend Unzen Silbers, die an einem einzigen Feste in mutwilliger Üppigkeit verschwendet wurden, den Wert des Brotes ausmachten, welches an eben diesem Tage zweimal hunderttausend Familien hätte sättigen sollen, wenn es nicht mit einer unmenschlichen Hartherzigkeit diesen von Arbeit, Kummer und Dürftigkeit entkräfteten Menschen, und ihren vor Hunger weinenden Kindern, aus dem Munde gerissen worden wäre, um von demjenigen, der sich ihren allgemeinen Vater nennen ließ, in Sardanapalischen Gastmälern verzehrt, und unter die Genossen und Werkzeuge seiner tyrannischen Ausschweifungen verteilt zu werden.«

»Dies ist ein so abscheulicher Gedanke«, rief Schach-Gebal, »daß ich lieber heute noch in die Kutte eines Derwischen kriechen, oder, wie ein gewisser König, sieben Jahre lang ein Ochse sein und Gras fressen, als länger Sultan bleiben wollte, wenn ich Ursache hätte zu glauben, daß ich mich in diesem Falle befinden könnte.« Nach einer so nachdrucksvollen Erklärung würde es nicht nur sehr unhöflich, sondern wirklich grausam gewesen sein, dem guten Sultan zu entdecken, daß er sich schon oft in diesem Falle befunden habe. Man versicherte ihn also einhellig des Gegenteils, mit dem gebührenden Dank für diese abermalige Probe seiner Menschlichkeit, [...] (Wieland: Der goldene Spiegel Kapitel 7 bis Kapitel 10)

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