21 August 2017

Wieland: Vom Gebrauch der Vernunft (in: Der goldene Spiegel)

Hier fiel der Sultan Danischmenden in die Rede. »Du berührst«, sagte er, »einen Punkt, über den ich schon lange gewünscht habe etwas Gewisses bei mir selbst festsetzen zu können. Es ist, wie du wohl bemerkt hast, nicht ratsam die Quelle von solchen Übeln zu verstopfen, die aus dem Mißbrauch einer Sache entstehen, wovon der Gebrauch gut ist. Und gleichwohl ist das Übel, von dem du sprichst, von einer so gefährlichen Art, daß man schlechterdings genötigt ist seinem Fortgange zu steuern. Ich möchte wohl hören, was du mir in diesem Falle zu tun raten wolltest.«
»Sire« (antwortete Danischmend), »die Frage, worüber ich meine Meinung sagen soll, hätte vorlängst besser als zwanzig andre verdient von unsrer Akademie zu einer Preisfrage gemacht zu werden. Ich unterstehe mich nicht zu sagen, daß ich die Auflösung davon gefunden habe; und mir deucht, diejenigen, welche sie so leicht finden, möchten sich wohl nie die Mühe genommen haben, ihre Tiefe zu erforschen. Doch vielleicht ist sie eine von den Fragen, deren Auflösung gar nicht einmal möglich ist, oder, welche sich wenigstens nicht anders als durch einen kühnen Schnitt auflösen lassen.
Der Fall dünkt mich dieser zu sein: Wir befinden uns zwischen zwei Übeln, wovon wir schlechterdings genötigt sind eines zu wählen; es fragt sich also, welches wir wählen sollen?
Hier, deucht mich, kann zuversichtlich als ein unstreitiger Grundsatz angenommen werden: daß in einem solchen Falle, wenn das eine Übel einen unendlichen und unheilbaren Schaden tut, das andere hingegen unter gewissen Bedingungen ins unendliche vermindert werden kann, notwendig das letztere gewählt werden müsse.
Dies vorausgesetzt kommen hier zwei Übel in Betrachtung: der Schade, der aus dem Mißbrauch der Vernunft und des Witzes, wenn ihnen völlige Freiheit gelassen wird, entspringen kann und wird; und derjenige, der daher entstehen muß, wenn diese Freiheit durch irgend eine Art von Zwangsmitteln eingeschränkt wird. Nun sage ich: Den Gebrauch der Vernunft und des Witzes in einem Staat einschränken, ist eben so viel, als Unwissenheit und Dummheit mit allen ihren Wirkungen und Folgen in dem besagten Staate verewigen, falls sich die Nation noch in einem barbarischen Zustande befindet; oder, wenn sie sich bereits zu einem gewissen Grade der Erleuchtung empor gehoben hat, sie in Gefahr setzen, von Stufe zu Stufe wieder in diese Barbarei zurück zu sinken, die den Menschen zu den übrigen Tieren herab würdiget, ja gewisser Maßen unter sie erniedriget. Denn, wie soll diese Grenzlinie, in welche man Vernunft und Witz einschränken will, gezogen werdenWer soll sie bestimmen? Was für Regeln sollen dazu festgesetzt werden? Wer soll Richter sein, ob diese Regeln in jedem vorkommenden Falle beobachtet oder überschritten werden? Wodurch will man verhindern, daß der Richter nicht seine eigene Denkungsart, seine Vorurteile, seinen persönlichen Geschmack, vielleicht auch seine Leidenschaften und besondern Absichten, zur Richtschnur oder zum Beweggrunde seiner Urteile mache? Wird die Vernunft und der Witz der Nation nicht dadurch von dem Grade der Erkenntnis oder Unwissenheit, der Redlichkeit oder Unlauterkeit des Richters, oder von der ungereimten Voraussetzung, daß ihn seine Weisheit und Rechtschaffenheit nie verlassen werde, abhängig gemacht? Wenn wir denken dürfen, warum sollten wir nicht über alles denken dürfen? Und ist denken nicht etwas andres als nachsprechen? Kann man denken ohne zu untersuchen? oder untersuchen ohne zu zweifeln? Und wenn sich dieses Recht zu zweifeln bis man untersucht hat, und zu untersuchen eh man irgend ein Urteil faßt, nicht auf alle Gegenstände erstreckt; wenn man annehmen wollte, daß es solche gebe, welche man nicht untersuchen dürfe, weil schädliche Folgen daher entspringen könnten: würde die Nation nicht immer in Gefahr schweben, daß es ihren Obern einmal einfallen könnte, die Untersuchung alles dessen für schädlich zu erklären, was sie bloß ihres eignen Vorteils wegen nicht untersucht haben wollten? Die Jahrbücher des menschlichen Geschlechts belehren uns, daß unsre Obern zuweilen Tyrannen gewesen sind, oder wenigstens schwach genug, sich von irrigen Meinungen und von Leidenschaften, eigenen oder fremden, beherrschen zu lassen. Auf welchem seichten Grunde würde demnach die öffentliche Glückseligkeit stehen, wenn es von der Willkür etlicher weniger Sterblichen abhinge, die großen Triebfedern des allgemeinen Besten der Menschheit, Vernunft und Tugend, nach ihren besondern Begriffen und Absichten einzuschränken?
Was ich von der Vernunft gesagt habe, gilt in seiner Art auch von dem Witze, dessen wichtigster Gebrauch ist, alles was in den Meinungen, Leidenschaften und Handlungen der Menschen mit der gesunden Vernunft und dem allgemeinen Gefühl des Wahren und Schönen einen Mißlaut macht, das ist, alles wasungereimt ist, als belachenswürdig darzustellen. Jede Einschränkung dieses Gebrauchs ist ein Freiheitsbrief für die Torheit, und ein stillschweigendes Geständnis, daß es ehrwürdige Narrheiten gebe. Unvermerkt würden sich noch andre Torheiten hinter diese verstecken; denn ihre Familie ist zahlreich, und manche sehen einander so ähnlich, daß es sehr leicht ist eine für die andere anzusehen. Was anders würde also aus der Einschränkung der Vernunft und des Witzes erfolgen, als daß, unter dem bleiernen Zepter der Dummheit, Aberglaube und Schwärmerei, Tyrannei über Seelen und Leiber, Verfinsterung der Vernunft, Verderbnis des Herzens, Ungeschliffenheit der Sitten, und zuletzt allgemeine Barbarei und Wildheit die Oberhand gewinnen würden?
Und dies würde nicht etwa bloß eine zufällige Folge, es würde die notwendige und unvermeidlicheWirkung davon sein, wenn man den freien Lauf der Vernunft und des Witzes hemmen, und es in die Gewalt einzelner Personen geben wollte, den Zügel, womit man sie gefesselt hätte, nach ihrem Gutbefinden anzuziehen oder nachzulassen.
Nun lassen Sie uns auf der andern Seite sehen, ob der Schaden, welchen man von dieser Freiheit zu besorgen hat, so beträchtlich ist, daß er gegen den Schaden ihrer Unterdrückung in Betrachtung kommen kann; und ob er nicht vielmehr unter gewissen Bedingungen sich nach und nach ins unendliche vermindern muß?
Es ist wahr, die Freiheit der Vernunft, des Witzes, der Einbildungskraft, und dessen was man Laune nennt, kann und wird zuweilen gemißbraucht werden, um Weisheit und Tugend selbst in ein falsches Licht zu stellen, und vielleicht die ehrwürdigsten Gegenstände, um unwesentlicher Gebrechen willen, lächerlich zu machen. Man hat überdies einige Beispiele, daß etwas ungereimt Scheinendes bei anwachsender Einsicht wahr befunden worden, und also aufgehört hat ungereimt zu sein. Es ist also möglich, daß die Freiheit, welche dem Mutwillen des Witzes gelassen würde, den Fortgang der Wahrheit selbst aufhalten könnte. Aber alle diese Übel, so groß man sie auch immer sich einbilden mag, sind zufällig und selten; der Nachteil, den sie der menschlichen Gesellschaft bringen können, wird durch tausend entgegen wirkende Ursachen teils verhütet, teils unmerklich gemacht, und, was das wichtigste ist, er muß, vermöge der Natur der Sache, immer abnehmen. Der Krieg zwischen Vernunft und Witz, und ihren ewigen Feinden Unverstand und Dummheit, ist ein Übel wie alle andre Kriege. Er bringt zwar zufälliger Weise allerlei schädliche Ausbrüche hervor, und es sind immer viele, die auf diese oder jene Weise darunter leiden: aber er ist ein notwendiges Übel, welches durch seine Folgen das größte Gut befördert. Jede neue Eroberung, die von jenen über diese gemacht wird, schwächt den Feind, befestigt die rechtmäßige Oberherrschaft, und beschleuniget den Anbruch jener glückseligen Zeiten, deren Unmöglichkeit noch niemand bewiesen hat, und welche (wenn es auch unwahrscheinlich wäre, daß sie jemals kommen würden) dennoch das große Ziel aller Freunde der Menschheit sein müssen; der Zeiten, wo Polizei, Religion und Sitten, Vernunft, Witz und Geschmack einträchtig zusammen wirken werden, die menschliche Gattung glücklich zu machen.« (Wieland: Der goldene Spiegel 1. Teil Kapitel 10)

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