09 August 2017

Wieland: Der goldene Spiegel

"Alle Welt kennt den berühmten Sultan von Indien, Schach-Riar, der, aus einer wunderlichen Eifersucht über die Negern seines Hofes, alle Nächte eine Gemahlin nahm, und alle Morgen eine erdrosseln ließ; und der so gern Märchen erzählen hörte, daß ihm in tausend und einer Nacht kein einziges Mal einfiel, die unerschöpfliche Scheherezade durch irgend eine Ausrufung, Frage oder Liebkosung zu unterbrechen, so viele Gelegenheit sie ihm auch dazu zu geben beflissen war.
Ein so unüberwindliches Phlegma war nicht die Tugend oder der Fehler seines Enkels Schach-Baham, der (wie jedermann weiß) durch die weisen und scharfsinnigen Anmerkungen, womit er die Erzählungen seiner Visire zu würzen pflegte, ungleich berühmter in der Geschichte geworden ist, als sein erlauchter Großvater durch sein Stillschweigen und seine Untätigkeit. Schach-Riar gab seinen Höflingen Ursache, eine große Meinung von demjenigen zu fassen, was er hätte sagen können, wenn er nicht geschwiegen hätte; aber sein Enkel hinterließ den Ruhm, daß es unmöglich sei, und ewig unmöglich bleiben werde, solche Anmerkungen oder Reflexionen (wie er sie zu nennen geruhte) zu machen wie Schach-Baham." (mehr ...)

Der goldene Spiegel (Wikipedia)

Friedrich Sengle meint, Wieland habe der Herzogin Anna Amalia gegenüber, die einen Prinzenerzieher für ihren Sohn Carl August suchte, seinen pädagogischen Eifer und sein politisches Verantwortungsbewusstsein übertrieben herausgestellt, obwohl es ihm in Wirklichkeit um die wirtschaftliche Absicherung seiner Schriftstellertätigkeit gegangen sei. (nach dreijähriger Erziehertätigkeit winkte eine lebenslängliche Pension - vgl. Sommer: Ch.M. Wieland, S.34) 

Was er Goethe vorgeworfen hat, weiß ich nicht. Von heutigem Bewerbungstraining und heutigen Politikern, die ihre politische Tätigkeit als Vorbereitung auf gut bezahlte Lobbyistenjobs nutzen, wusste Sengle jedenfalls noch nichts. Von Castingshows für die weniger Begünstigten, die offen zugeben, was ihr Ziel ist, ebenso wenig.
Dass Wieland geschäftstüchtig war, hat er mit seinem Teutschen Merkur zum Wohle der deutschen Literatur der ausgehenden 18. Jhs.  bewiesen. So lange hielt damals keine deutsche Literaturzeitschrift durch. 

" »Herr Danischmend, ein paar Worte, ehe wir weiter gehen«, sagte der Sultan. »Wenn es ohne der historischen Wahrheit Gewalt anzutun, geschehen könnte, daß du uns auf diesen Azor, der (unter uns!) die Erlaubnis schwach zu sein ein wenig zu sehr mißbraucht, diesen Abend einen guten König gäbest, so würdest du mir keinen kleinen Gefallen erweisen. Ich weiß wohl, die Geschichte soll den Fürsten nicht schmeicheln; und dies aus einem gedoppelten Grunde: erstens, weil es genug ist, daß uns in unserm Leben geschmeichelt wird; und dann, weil die Wahrheit, die man nach unserm Tode von uns sagt, uns nicht mehr schaden, der Welt hingegen nützen kann. Aber ich möchte doch auch nicht, daß es so heraus käme, als ob ich mir alle Abende in meinem Schlafzimmer eine Satire auf die Sultanen von Scheschian machen ließe. Ich erinnere mich irgendwo gelesen zu haben, ein Mensch sollte nichts, was einen Menschen angeht, für fremd ansehen; und ich sehe nicht ab, warum wir Sultanen uns nicht in dem nämlichen Falle befinden sollten. Mit Einem Worte, ich interessiere mich für die Sache, und dies ist, denke ich, genug.«
»Ihre Hoheit befehlen also daß ich den Sultan Isfandiar überhüpfe?« fragte Danischmend –
»Eine weise Frage!« antwortete Schach-Gebal. »Ich muß doch wohl zuvor wissen, wer Sultan Isfandiar war, eh ich sie beantworten kann!«
»Er war Azors unmittelbarer Nachfolger, sein einziger Sohn von der schönen Alabanda, und einer von den scheschianischen Sultanen, deren Regierung einer förmlichen Satire auf böse Fürsten ähnlich sieht.«
»Er war also noch schlimmer als Azor?«
»Um Vergebung, Sire! Azor war in der Tat kein böser Fürst; er war nur schwach. Isfandiar hingegen« – –" (Der goldene Spiegel 2. Teil 1. Kapitel)

Über die Erziehung Isfandiars:
"Hingegen nahm sich sein Lehrer in der Moral sehr in Acht, die Zärtlichkeit seines Ohres durch Erwähnung des unangenehmen Wortes Pflichten zu beleidigen. Er bildete sich ein, es vortrefflich gemacht zu haben, wenn er dem Prinzen, in zierlich gedrehten Perioden oder durch rührend ausgemalte Beispiele, Gerechtigkeit und Wohltätigkeit als die höchsten Tugenden eines Fürsten vorschilderte. Aber der Ton, worin er von diesen Tugenden schwatzte, das unbesonnene und übertriebene Lob, womit er einige Fürsten wegen ziemlich zweideutiger Handlungen dieser Art unter die Götter versetzte, mußte natürlicher Weise eine verkehrte Wirkung bei seinem Untergebenen tun. Der junge Isfandiar machte sich von Gerechtigkeit und Wohltätigkeit einen Begriff, der für das Glück seiner künftigen Untertanen gänzlich verloren ging. Er glaubte, die Ausübung dieser Tugenden hange bloß von seiner Willkür ab; und er mutmaßte auch nicht von ferne, daß sie allein durch ihre unzertrennliche Verbindung zu Tugenden werden, und daß die unermüdete Bestrebung, beide in dem ganzen Umfang des Regentenamtes auszuüben, eine so wesentliche Fürstenpflicht sei, daß derjenige, welcher sie funfzig Jahre lang in der höchsten Vollkommenheit ausgeübt hätte, beim Schlusse seines Lebens kein andres Lob verdient hätte, als das Zeugnis seine Schuldigkeit getan zu haben. Kurz, der höfische Mentor hatte keinen Begriff davon, daß man einem jungen Fürsten die Ausübung aller Tugenden, von welchen das Wohl seiner Untergebenen und die möglichste Vollkommenheit seines Staates abhängt, unter der Gestalt von Verbindlichkeiten vorstellen müsse, deren Forderungen eben so dringend als unverletzlich sind; es sei nun, daß man sie von den Gesetzen des höchsten Wesens, als des Königs über die Könige, oder von einem gesellschaftlichen Vertrag ableite, vermöge dessen derjenige, der die meisten Rechte zu haben scheint, gerade der ist, der die meisten Pflichten hat.«
»Ohne Unterbrechung, Herr Doktor«, sagte der Sultan: »ich sollte doch denken, der Sittenlehrer des jungen Prinzen Isfandiar habe nicht so ganz unrecht gehabt, ihm das, was ihr die Pflichten der Fürsten nennt, unter einer gefälligen Gestalt zu zeigen. Das Wort Pflicht ist ein hartes Wort: es hat für die Untertanen selbst einen widrigen Ton; wie sollten wir andere unsere Ohren daran gewöhnen können? Wir werden die Tugend immer liebenswürdiger finden, wenn unsere Neigung zu ihr freiwillig ist, als wenn sie uns mit Gewalt aufgebürdet wird.«

»Um Vergebung, gnädigster Herr«, erwiderte der freimütige und unhöfische Danischmend. »Es gibt ein weniger gefährliches Mittel uns unsere Pflichten angenehm zu machen. Anstatt uns zur Tugend durch Lobeserhebungen anzuspornen, welche die Ausübung unserer Schuldigkeit zu einem Gegenstande der Ruhmsucht und Eitelkeit machen, würde besser getan sein, uns zu überzeugen, daß die Vollziehung unsrer Pflichten mit den unmittelbarsten und wichtigsten Vorteilen und mit dem reinsten Vergnügen verbunden ist. " (Der goldene Spiegel 2. Teil 1. Kapitel, S.158/59)

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