[...] Es ist nichts dabei zu erzählen; es war ein Tag wie alle andern, sie waren allein im Wohnzimmer wie hundertmal zuvor, und sie hatten von gleichgültigen Dingen gesprochen, und was nach außen hin geschah, war so gewöhnlich und alltäglich wie möglich; es war nichts weiter, als daß Niels am Fenster stand und hinausblickte, und Fennimore ebenfalls hinkam und hinaussah; das war alles, aber es war genug; denn gleichsam wie durch einen Blitzstrahl verwandelten sich Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft für Niels Lyhne durch die Erkenntnis, daß er das Weib, das an seiner Seite stand, liebte; nicht wie etwas Leichtes und Süßes und Glückliches und Schönes, das ihn zu Glückseligkeit und Entzücken emporzuheben vermochte, – so war seine Liebe nicht; aber er liebte sie wie etwas, ohne daß er ebensowenig sein konnte, wie ohne Lebensodem; und wie einer, der dem Ertrinken nahe ist, um sich greift, so ergriff er ihre Hand und drückte sie ans Herz.
Und sie verstand ihn. Beinahe mit einem Schrei und in einem Ton voll Furcht und Jammer rief sie ihm wie eine Antwort und ein Bekenntnis zu: »O ja, Niels!« und entriß ihm die Hand.
Bleich und zögernd stand sie einen Augenblick da; dann sank sie mit einem Knie auf einen gepolsterten Stuhl, verbarg das Gesicht in der Sammetlehne und schluchzte laut.
Niels war während einiger Sekunden wie blind, und seine Hände suchten zwischen den Blumenzwiebelgläsern nach einer Stütze.
Das dauerte nur wenige Sekunden; dann trat er an den Stuhl, auf dem sie lag, und beugte sich mit der einen Hand auf die Lehne gestützt, über sie, ohne sie zu berühren.
»Sei nicht so verzweifelt, Fennimore, blick auf und laß uns miteinander reden. Willst du nicht? Fürchte nichts, laß es uns zusammen tragen, meine einzig Geliebte, laß uns! Versuche, ob du es kannst.«
Sie erhob den Kopf ein wenig und sah zu ihm auf. »O Gott, was sollen wir anfangen? – Ist es nicht fürchterlich, Niels? Warum mußte es mir so auf dieser Welt gehen? Und wie herrlich hätte es sein können – so glücklich!« und sie schluchzte wieder. –
»Hätte ich schweigen sollen,« klagte er, »arme Fennimore, hättest du es lieber niemals erfahren wollen?«
Wieder erhob sie den Kopf und griff nach seiner Hand. »Ich hätte es erfahren wollen und dann sterben; oh, läge ich im Grabe und wüßte es; das wäre so schön, oh, so wohlig und gut ...!«
»Es ist bitter für uns, Fennimore, daß das erste, was unsere Liebe uns bringt, nur Angst und Tränen sind, meinst du nicht auch?«
»Du darfst nicht hart gegen mich sein, Niels, ich kann ja nicht anders, du kannst es nicht so ansehn wie ich; ich bin's, die stark sein sollte, weil ich es bin, die gebunden ist; könnte ich meine Liebe mit Gewalt nehmen, und sie in die heimlichste Tiefe meiner Seele verschließen, und taub sein gegen all ihr Jammern und Flehen, und dann zu dir treten und sagen, daß du weit, weit fortreisen solltest; aber ich kann nicht, ich habe soviel gelitten; dies kann ich nicht auch noch ertragen, ich kann nicht, Niels, ich kann nicht ohne dich leben, sieh, kann ich es denn? Glaubst du, daß ich es könnte?« [...]
Sie erhob sich und preßte sich an seine Brust.
»Hier bin ich und lasse dich nicht los; ich will dich nicht fortlassen und selbst in der alten Finsternis zurückbleiben. Es ist wie eine grundlose Tiefe von Ekel und Pein, ich will mich nicht hinstürzen, eher springe ich ins Wasser, Niels; und wenn das neue Leben auch Schmerzen bringt, so sind es doch neue Schmerzen, die nicht den stumpfen Stachel der alten haben, und die nicht so sicher treffen können, wie die alten, die mein Herz so grausam genau kennen. Rede ich irre? – Ja gewiß, aber es tut so wohl, ohne Rückhalt mit dir sprechen zu können, ohne mich mehr davor hüten zu müssen, dir all das viele zu sagen, was nicht recht war. Aber jetzt hast du ein Recht vor allen! Wenn du mich nur ganz hinnehmen möchtest, so daß ich ganz dein wäre, ohne daß auch nur das Geringste einem andern gehörte; könntest du mich herausheben aus allen Verhältnissen, die mich umgeben?«
»Wir müssen sie durchbrechen, Fennimore. Ich werde es so gut einrichten; hab' nur keine Angst; eines Tages, bevor noch jemand das Geringste ahnt, sind wir weit fort.«
»Nein, nein, wir dürfen nicht fortlaufen, nur das nicht; lieber alles andere, als daß meine Eltern erfahren sollten, ihre Tochter sei fortgelaufen; das ist unmöglich; und ich tue es nimmermehr, bei Gott im Himmel, Niels, ich tue es nimmermehr.« [...]
Aber wie süß war es auch zu lieben, einmal die Liebe des wirklichen Lebens zu lieben; denn das, was er früher für Liebe gehalten, war ja keine Liebe, weder die schwermütige Sehnsucht des Vereinsamten, noch das glühende Verlangen des Phantasten oder die ahnungsvolle Nervosität des Kindes; es waren Ströme in dem großen Ozean der Liebe, einzelne Reflexe ihres vollen Lichtes, Splitter der Liebe, gleichsam wie die Meteore, die die Luft durchrasen, die Splitter eines Weltkörpers sind; denn die Liebe, sie ist eine Welt, ein Ganzes, etwas Volles, Großes, Geordnetes. Keine wirre, inhaltlose Fahrt von Gefühlen und Stimmungen – die Liebe ist wie die Natur, ewig wechselnd und ewig gebärend, in ihr erstirbt keine Stimmung, welkt kein Gefühl, ohne dem Keim zu etwas noch Vollkommenerem, den sie in sich trägt, Leben zu geben. Ruhig, gesund, mit tiefen Atemzügen, so war es schön zu lieben, von ganzer Seele zu lieben. Und jetzt fielen die Tage neu und blank vom Himmel herunter, sie kamen nicht selbstverständlich aufeinander folgend, wie die abgenutzten Bilder eines Guckkastens; jeder von ihnen war eine Offenbarung, denn an jedem einzigen fand er sich selbst größer und stärker und gewachsener vor. Er hatte eine solche Innigkeit und Macht des Gefühls nie gekannt, und es gab Augenblicke, in denen er sich weit mehr Titan als Mensch dünkte, eine solche Unerschöpflichkeit spürte er in seinem Innern, eine so flügelstarke Zärtlichkeit schwoll in seinem Herzen empor, – so weit war sein Blick – so heroisch und mild war sein Urteil.
Dies war der Anfang und das Glück, und sie waren lange glücklich.
Die tägliche Falschheit und Verstellung, die Atmosphäre von Unehre, in der sie lebten, alles das hatte noch keine Macht, es konnte sie in der verzückten Höhe, zu der Niels das Verhältnis und dadurch sie beide emporgehoben hatte, noch nicht erreichen; denn er war nicht einfach ein Mann, der das Weib seines Freundes verführte, oder besser gesagt, er war es, er sagte voll Trotz, daß er es sei; aber er war auch derjenige, der eine schuldlose Frau erlöste, die vom Leben verwundet, versteinert und besudelt war; eine Frau, die sich bereits niedergelegt, um ihre Seele sterben zu lassen; und ihr hatte er das Vertrauen zum Leben wiedergegeben, den Glauben an seine besten Kräfte; er hatte ihren Geist zu Hoheit und Adel erhoben; er hatte ihr Glück gegeben; was war denn besser, jenes unverschuldete Elend, oder daß er sie errungen hatte? Er fragte nicht mehr, er hatte seine Wahl getroffen.
Ganz so hatte er es nicht gemeint. Der Mensch baut sich oft Theorien auf, in denen er doch nicht wohnen möchte; die Gedanken gehen oft so viel weiter als das Gefühl für Recht und Unrecht Lust hat, ihnen zu folgen. Aber jene Vorstellung bestand für ihn und nahm der fortwährend notwendigen List, Falschheit, Niedrigkeit und Erbärmlichkeit viel von ihrem ewig fressenden Eitergift. [...]
Das Glück stand nicht mehr still über ihren Häuptern, sie mußten sein Lächeln und sein Licht erhaschen, wo und wie sie konnten; List und Verschlagenheit waren keine traurige Notwendigkeit mehr, sondern erfreuliche Triumphe; die Falschheit wurde ihr wahres Element und machte sie so klein und gemein. Es gab auch entwürdigende Geheimnisse, über die sie früher getrauert hatten, jeder für sich, weil sie sich gegenseitig unwissend stellten; jetzt mußten sie teilen, denn Erik war nicht schüchtern, und es fiel ihm oft ein, seine Frau in Niels Gegenwart zu liebkosen, sie zu küssen, sie auf den Schoß zu nehmen und sie zu umarmen; und Fennimore wagte nicht, diese Liebkosungen zurückzuweisen, oder sie hatte nicht mehr wie früher die Macht dazu; das Bewußtsein ihrer Schuld machte sie unsicher und ängstlich.
So sank und sank ihrer Liebe hohes Schloß, von dessen Zinnen sie so stolz in die Welt hinabgeblickt, in dem sie sich so stolz und stark gefühlt.
Aber sie waren auch froh zwischen den Ruinen.
Wenn sie jetzt im Walde spazieren gingen, so geschah es meist an trüben Tagen, wo der Nebel in den braunen Zweigen hing und es zwischen den feuchten Stämmen noch dunkler machte, so daß niemand sehen konnte, wenn sie sich hier küßten, dort umarmten, niemand hören konnte, wenn ihre leichtsinnigen Worte in ausgelassenen Lachfanfaren ausklangen.
Jener Stempel von Melancholie der Ewigkeit, den ihre Liebe getragen, war ausgelöscht; eitel Lachen und Scherz herrschte jetzt zwischen ihnen; eine fieberhafte Eile war über sie gekommen, eine Gier nach den hinschwindenden Sekunden der Ewigkeit, als müßten sie sich beeilen zu lieben und hätten nicht das ganze Leben vor sich.
Es führte keine Veränderung mit sich, daß Erik seiner Idee nach Ablauf eines Monats müde wurde, und seine Fahrten von neuem so eifrig begann, daß er selten zwei Tage hintereinander zu Hause war. Wohin sie gefallen, dort blieben sie. Vielleicht daß sie einmal in einsamen Stunden klagend zu jener Höhe hinaufblickten, von der sie herabgefallen; vielleicht auch, daß sie nur verwundert dachten, wie anstrengend es gewesen, sich dort oben zu halten, und daß sie sich dort weicher gebettet dünkten, wo sie jetzt lagen. Keine Veränderung trat ein. Wenigstens keine, die zu den alten Tagen zurückgeführt hätte; jedoch die schlaffe Gemeinheit, die darin lag, daß sie lebten, wie sie lebten und doch nicht miteinander entflohen, kam ihnen mehr und mehr zum Bewußtsein und koppelte sie fester und niedriger in ihrem gemeinsamen Schuldgefühl aneinander; denn keiner von ihnen wünschte die Dinge anders, als sie waren. Ebensowenig verbargen sie dies voreinander, denn es war zu jener zynischen Vertraulichkeit zwischen ihnen gekommen, die leicht unter Mitschuldigen entsteht, und es gab garnichts in ihrem Verhältnis, das mit Worten zu berühren sie etwa gescheut hätten. Mit traurigem Mut nannten sie die Dinge bei dem rechten Namen, blickten ihnen ins Auge, sagten sie, wie sie waren.
Im Februar hatte es ausgesehen, als sei es mit dem Winter zu Ende, aber dann kam Mutter März in ihrem weißen Mantel mit dem losen Futter, und Schneegestöber auf Schneegestöber bedeckte die Erde mit einer dicken Schicht. Später wurde es still mit klingendem Frost, der Fjord trug viertelzolldickes Eis, das lange liegen blieb.
Gegen Ende des Monats saß Fennimore eines Abends nach der Teezeit allein im Wohnzimmer und wartete.
Es war sehr hell da drinnen, das Klavier, dessen Kerzen brannten, war geöffnet, der Schirm war von der Lampe genommen, so daß Goldleisten und alles, was an den Wänden hing, deutlich und wach hervortrat. Die Hyazinthen waren von den Fenstern fortgerückt und auf den Schreibtisch gestellt; sie bildeten jetzt einen Büschel glänzender Farben und erfüllten die Luft mit ihrem reinen, gleichsam kühlend starken Duft. Im Ofen brannte das Feuer mit gedämpftem, behaglichen Schnurren.
Fennimore ging auf und ab im Zimmer und balancierte beinahe auf einem der dunkelroten Streifen des Teppichs. Sie hatte ein etwas altmodisches schwarzes Seidenkleid an, das mit schweren Garnierungen auf dem Boden schleppte und sich, während sie ging, von einer Seite auf die andere legte.
Sie sang leise vor sich hin und hatte mit beiden Händen die Kette mattgelber Bernsteinperlen gefaßt, die sie um den Hals trug, und wenn sie auf ihrem roten Streifen schwankte, hörte sie auf zu singen, fuhr aber fort, die Kette zu halten. Vielleicht sollte ihr Gang ihr prophetisch sein, so, daß Niels kommen würde, wenn sie so und so viele Male durchs Zimmer gehen könnte, ohne von dem Streifen abzuweichen oder die Kette loszulassen.
Er war am Vormittag dort gewesen, als Erik fortgefahren, und war bis gegen Abend geblieben, aber er hatte versprochen, noch einmal herüberzusehen, sobald der Mond hervorkommen und es hell genug werden würde, um die Wuhnen draußen auf dem Fjord vermeiden zu können. [...]
Es sei ein Brief da, sagte Trine, als sie zur gnädigen Frau ins Zimmer trat.
Fennimore nahm ihn, es war eine Depesche. Ruhig gab sie dem Mädchen die Quittung und ließ es gehen; sie war durchaus nicht erschrocken, Erik hatte in der letzten Zeit oft an sie telegraphiert, daß er am nächsten Tage mit ein paar Fremden kommen würde.
Dann las sie.
Plötzlich erblaßte sie, fuhr entsetzt von ihrem Stuhl empor und starrte mit erwartungsvoller Furcht nach der Tür.
Sie wollte es nicht herein haben, sie konnte nicht; mit einem Satz hatte sie sich gegen die Tür geworfen und stemmte ihre Schulter dagegen, sie drehte an dem Schlüssel, bis er ihr tief in die Hand schnitt. Aber wie fest sie ihn auch faßte, er wollte sich nicht drehen lassen. Dann ließ sie ihn los. Es war ja auch wahr –, es war ja nicht hier, weit fort von hier in einem fremden Hause.
Sie begann zu zittern, die Füße trugen sie nicht länger, und sie sank an der Tür zu Boden.
Erik war tot. Die Pferde waren mit ihm durchgegangen, hatten den Wagen an einer Straßenecke umgeworfen, und er war mit dem Kopf an eine Mauer geschleudert. Der Schädel war zermalmt, und jetzt lag er tot in Aalborg. So hatte es sich zugetragen, und das meiste davon stand im Telegramm. [...]
Sie begann in ihrem Glaskäfig auf und ab zu gehen. Hier standen keine anderen Möbel als ein Sofa aus gebogenem Holz, und dieses lag voll welker Efeublätter, von den Ranken da oben unter der Decke. Jedesmal, wenn sie vorüberging, raschelten die Blätter leise im Luftzug, und dann und wann fand ihr Kleid auch Laub auf dem Fußboden und zog es mit kratzendem Laut mit sich über die Dielen.
Der Kälte trotzend und die Arme über der Brust gekreuzt, ging sie auf ihrer traurigen Wacht hin und her.
Er kam.
Mit einem Ruck hatte sie die Tür geöffnet und trat mit ihren dünnen Schuhen auf den eisigen Schnee.
Sie gönnte sich dies; barfüßig hätte sie zu dieser Begegnung gehen mögen.
Beim Anblick der schwarzen Gestalt auf dem weißen Schnee hatte Niels seine Fahrt gemäßigt und kam nun mit zögernden, prüfenden Schwenkungen langsam an Land.
Es war, als brenne diese schleichende Gestalt ihr in die Augen. Jede Bewegung, jeder Zug, den sie wiedererkannte, traf sie wie ein schamloser Hohn, gleichsam prahlend mit seinen entwürdigenden Geheimnissen. Sie zitterte vor Haß, ihr Herz quoll über von Flüchen, und sie war ihrer selbst kaum mächtig.
»Ich bin's,« rief sie ihm höhnend entgegen, »die Dirne Fennimore.«
»Aber um Gottes willen, du Liebe?« fragte er verwundert, jetzt nur noch ein paar Schritte von ihr entfernt.
»Erik ist tot.«
»Tot?! Wie?« Er mußte mit seinen Schlittschuhen in den Schnee treten, um nicht umzufallen. »Aber so sag' doch!«, und eifrig trat er noch einen Schritt näher.
Jetzt standen sie sich Angesicht zu Angesicht gegenüber, und sie mußte sich Gewalt antun, um nicht mit der geballten Faust in diese bleichen, verstörten Züge zu schlagen.
»Ich werde es dir schon sagen,« sprach sie, »er ist tot, wie ich gesagt, die Pferde sind in Aalborg mit ihm durchgegangen, sein Kopf ist zerschmettert, und wir gingen hier umher und betrogen ihn.«
»Das ist schrecklich,« stöhnte Niels und faßte sich an die Schläfen, »wer hätte auch ahnen können ... ah! Wären wir ihm doch treu gewesen, Fennimore. Erik, armer Erik! – Wäre ich es doch gewesen!« Und er schluchzte laut und krümmte sich vor Schmerz.
»Ich hasse dich, Niels Lyhne.«
»Bah! Wir!« stöhnte Niels ungeduldig, »wenn wir ihn nur wiederhätten. Arme Fennimore,« verbesserte er sich dann, »kümmere dich nicht um mich. Du sagst, du hassest mich? Das magst du tun, ja, das magst du.« Plötzlich richtete er sich auf. »Laß uns hineingehen,« sagte er, »ich weiß nicht mehr, was ich sage. Wer, sagtest du, hat telegraphiert?«
»Hinein!« schrie Fennimore, die heftig wurde, weil er ihre Feindseligkeit nicht beachtete. »Dort hinein! Nimmermehr wirst du deinen feigen, ehrlosen Fuß in dieses Haus setzen. Wie wagst du nur daran zu denken, du Elender, du falscher Hund, der du hierhergeschlichen kamst und deines Freundes Ehre stahlst, weil sie schlecht verwahrt war. Wie, hast du sie nicht vor seinen Augen gestohlen, weil er glaubte, du seist ehrlich, du Hausdieb!« [...]
Sie hatte die Arme drohend nach ihm ausgestreckt, jetzt wandte sie sich ab und ging; leise klirrte die Tür der Veranda hinter ihr.
Erstaunt, fast ungläubig, stand Niels da und blickte den Weg entlang, den sie gegangen; ihm war, als stände es noch vor ihm, das bleiche, rachedurstige Antlitz, das so seltsam gemein und roh in seiner Leidenschaftlichkeit und seiner gewohnten formenzarten Schönheit so ganz beraubt war, daß es aussah, als sei es in all seinen Linien von einer schonungslosen, unbarmherzigen Hand umgepflügt.
Er stolperte vorsichtig auf das Eis zurück und begann, mit dem Mondlicht vor sich und dem Wind im Rücken, langsam der Fjordmündung zuzulaufen. Nach und nach, als seine Gedanken die Aufmerksamkeit von der Umgebung ablenkten, lief er schneller, und die Eissplitter vom Eisen seiner Schlittschuhe rasselten, von dem stets zunehmenden Frostwinde getrieben, klirrend mit ihm über die blanke Fläche.
Also das war das Ende! So also hatte er die Frauenseele erlöst und sie emporgehoben und ihr Glück gegeben! Wie schön war es, das Verhältnis zu dem toten Freunde, seinem Jugendfreunde, für den er Zukunft, Leben und alles hatte opfern wollen! Er mit seinem Opfern und Erlösen! Himmel und Erde sollten ihn ansehen, wenn sie einen Mann sehen wollten, der sein Leben auf der Höhe der Ehre erhielt, ohne Flecken und ohne Fehler, damit er nicht auch einen Schatten auf die Idee werfe, der er diente, und die zu verkünden er berufen war!
Er lief weiter.
Das war nun auch so einer von seinen großprahlerischen Gedanken, daß sein erbärmliches Leben Flecken auf die Sonne der Idee werfen könnte. Herrgott! Stets mußte er alles so hoch nehmen! Das war ihm nun einmal angeboren; konnte er nichts Besseres werden, so wollte er wenigstens ein Judas sein und sich in großartiger Unheimlichkeit Ischariot nennen. Das klang doch nach etwas. – Mußte er sich denn stets gebärden, als sei er verantwortlicher Minister bei der Idee und Mitglied ihres geheimen Staatsrates, der alles, was die Menschheit betraf, aus erster Hand hatte! – Ob er niemals lernen würde, in aller Bescheidenheit danach zu streben, seine Pflicht im Garnisondienst der Idee zu tun als Gemeiner niederen Ranges?
Auf dem Eise waren rote Feuer, und er kam so nahe an ihnen vorüber, daß ein riesenhafter Schatten für einen Augenblick aus seinen Füßen herausschoß, sich nach vorwärts drehte und verschwand.
Er dachte an Erik und an den Freund, der er für Erik gewesen. Oh, er! Die Kindheitserinnerungen rangen die Hände über ihn; die Jugendträume verhüllten ihr Antlitz und weinten über ihn; seine ganze Vergangenheit sah ihm mit einem langen, vorwurfsvollen Blicke nach. Diesem allen war er so treulos gewesen um einer Liebe willen, die so klein und niedrig wie er selbst. – Trotzdem war etwas Erhabenes in ihrer Liebe gewesen; auch dem war er treulos geworden. Wohin fliehen vor all diesen Anläufen, die immer im Grabe endeten? Sein ganzes Leben war nichts anderes gewesen, und auch in Zukunft würde es nicht anders werden, er wußte es, er fühlte es so sicher, daß er krank wurde bei all dieser Aussicht auf all diese unnütze Mühe, und von ganzer Seele wünschte, daß er diesem sinnlosen Schicksal entfliehen könnte. Wenn nur das Eis unter ihm brechen wollte, wie er so darüber hinfuhr, und alles mit einem Aufschnappen und Hinabsinken in das kalte Wasser vorüber wäre.
Ermattet vom Lauf blieb er stehen und blickte zurück. Der Mond war fort, und der Fjord lag dunkel und lang zwischen den weißen Hügeln des festen Landes. Nun kehrte er um und arbeitete gegen den Wind an. Dieser war stark, und er war müde. Er suchte windsicher ans hohe Ufer zu gelangen, aber als er so vorwärtsrang, kam er auf eine Windwuhne, und das dünne Eis gab mit knisterndem, zähen Knacken unter ihm nach.
Wie leicht ward ihm aber doch ums Herz, als er wieder auf festes Eis kam! Die Angst hatte die Müdigkeit beinahe verjagt, und kräftig steuerte er vorwärts.
Während er sich draußen mühte, saß Fennimore im hellerleuchteten Zimmer, enttäuscht und zermartert. Sie kam sich wie um ihre Rache betrogen vor, sie wußte nicht, was sie erwartet hatte, aber es war etwas ganz anderes gewesen; ihr hatte etwas Erhabenes und Mächtiges, etwas wie Schwerter und rote Flammen vorgeschwebt, oder auch das nicht, etwas, das sie trug und sie auf einen Thron setzte; und nun war es so kleinlich und alltäglich ausgefallen, und sie war sich mehr wie eine Zänkerin vorgekommen, als eine, die verflucht...
Sie hatte doch etwas von Niels gelernt.
Früh am nächsten Morgen, als Niels von Ermüdung überwältigt noch schlief, reiste sie ab.
(Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne 11. Kapitel)
12. Kapitel (die Opernsängerin)
13. Kapitel (Gerda)
"Ungefähr ein Jahr hatte Niels auf Lönborghof gewohnt und die Bewirtschaftung geleitet, so gut er konnte, oder soviel sein Verwalter es zuließ. Er hatte seinen Schild vom Nagel genommen, die Devise ausgelöscht und entsagt. Die Menschheit mußte sich ohne ihn behelfen, er hatte das Glück kennengelernt, das die rein körperliche Arbeit gewährt, wenn wir den Haufen unter unseren Händen wachsen sehen, wenn wir wirklich fertig werden können, so, daß wir fertig sind; zu wissen, wenn wir müde fortgegangen, daß die Kräfte, die wir zugesetzt, hinter uns in unserer Arbeit zurückbleiben, und daß die Arbeit bleiben wird, daß sie nicht während der Nacht vom Zweifel verzehrt, nicht von der Kritik einer mißmutigen Morgenstunde auseinandergeblasen werden kann. In der Landwirtschaft lagen keine Sisyphussteine.
Und dann seinen Körper müde gearbeitet zu haben; der Genuß, zur Ruhe zu gehen und sich wieder Kräfte anzuschlafen, um sie von neuem zuzusetzen, regelmäßig, wie Tag und Nacht aufeinanderfolgen, ohne von den Launen seines Gehirns behindert zu werden, ohne daß man sich vorsichtig zu berühren braucht wie eine gestimmte Gitarre mit abgenutzten Schrauben!
Er war so recht gleichmäßig glücklich, und oft konnte man ihn sitzen sehen, wie sein Vater gesessen, an einer Heckentür oder an einem Grenzstein, in seltsam vegetativer Ergriffenheit auf den goldenen Weizen oder den ährenschweren Hafer starrend.
Noch hatte er nicht begonnen, mit den Familien der Umgegend weiteren Umgang zu suchen; der einzige Ort, wohin er einigermaßen häufig kam, war Kanzleirat Skinnerups Haus in Varde. Die Leute waren in die Stadt gekommen, als sein Vater noch lebte, und da der Kanzleirat einer von Lyhnes alten Universitätsfreunden war, kamen die Familien viel zusammen. Skinnerup, ein milder, kahlköpfiger Herr mit scharfen Zügen und sanften Augen war jetzt Witwer und hatte das Haus mehr als voll mit vier Töchtern, von denen die älteste siebzehn, die jüngste zwölf Jahr alt war.
Niels liebte es, sich mit dem sehr belesenen Kanzleirat über allerlei ästhetische Gegenstände zu unterhalten, denn weil er angefangen hatte, seine Hände zu gebrauchen, war er doch noch nicht plötzlich Bauer geworden. Ihm war auch die ein wenig komische Vorsicht angenehm, mit der er sich ausdrücken mußte, sobald von einem Vergleich zwischen dänischer und ausländischer Literatur die Rede war, oder überhaupt auch sonst, wenn Dänemark mit etwas verglichen wurde, das nicht dänisch war; denn es war sehr notwendig, vorsichtig zu sein. Der milde Kanzleirat war nämlich einer von diesen guten, wütenden Patrioten, die damals existierten, Leute, die
man dahin bringen konnte, mißmutig einzugestehen, daß Dänemark nicht die bedeutendste der Großmächte sei, die aber sonst kein einziges weiteres Zugeständnis machten, welches das Land, oder irgend etwas, das mit dem Lande zu tun hatte, anderswohin stellen konnte als an die Spitze. – Was ihm an diesem Gesprächen sonst noch lieb war, aber ganz unbestimmt und ohne das geringste Gewicht darauf zu legen, war die frohe Bewunderung zu sehen, mit der die siebzehnjährige Gerda ihm folgte, wenn er sprach; sie suchte stets zugegen zu sein, wenn er da war, und war so innig bei der Sache, daß er sie häufig vor Entzücken erröten sehen konnte, wenn er etwas gesagt hatte, was ihr besonders schön erschien. [...]"
14. Kapitel
"[...]
In bitterer Schwermut geht Niels Lyhne in den leeren Zimmern umher. Etwas in ihm ist gebrochen, in der Nacht, als das Kind starb. Er hat das Selbstvertrauen verloren, seinen Glauben an die Kraft des Menschen, das Leben zu ertragen, das er zu leben bekommen. Das Dasein war widerlich geworden, und sein Inhalt sickerte bedeutungslos nach allen Seiten fort. [...]
Dann kam jener Novembertag, an dem der König starb, und der Krieg mehr und mehr zu drohen begann.
Bald hatte er seine Angelegenheiten auf Lönborghof geordnet und meldete sich als Freiwilliger. [...]
An einem trüben Märztage bekam er dann einen Schuß in die Brust. [...]
Hjerrild erhob sich. »Fahrwohl, Lyhne,« sagte er, »es ist ein schöner Tod, für unser armes Land zu sterben.«
»Ja,« sagte Niels, »aber es war doch nicht auf diese Weise, daß wir träumten, das unsere zu tun, damals vor langer, langer Zeit.« [...]
Als Hjerrild Niels Lyhne zum letztenmal sah, lag er und fabelte von seiner Rüstung und davon, daß er stehend sterben wolle.
Und endlich starb er dann den Tod, den schweren Tod."