14 März 2018

Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne - Frau Boye

Niels Lyhne eilte der Heimat zu, er konnte die Einsamkeit unter all den fremden Menschen nicht ertragen; aber je näher er Kopenhagen kam, desto häufiger fragte er sich, was er eigentlich dort wolle, und desto mehr bereute er, nicht draußen geblieben zu sein. Denn, wen hatte er in Kopenhagen? Frithjof nicht; Erik war auf einer Stipendienreise in Italien, also ihn ebenfalls nicht; und Frau Boye? – es war ein seltsames Verhältnis, das zu Frau Boye. Jetzt, wo er direkt vom Grabe seiner Mutter kam, schien es ihm nicht gerade profan oder dergleichen, aber es klang nicht zusammen mit dem Ton, in dem seine jetzige Stimmung vibrierte. Es war ein Mißton. [...]
Am nächsten Tage ging er hin; aber er traf sie nicht. [...]
An einem der folgenden Tage wollte er hinaus.
Aber schon am nächsten erhielt er ein Billet von Frau Boye, das ihn in ihre Stadtwohnung bestellte. Die blasse Nichte habe ihn auf der Straße gesehen. Dreiviertel auf eins solle er kommen, müsse er kommen. Sie wolle ihm sagen weshalb, wenn er es noch nicht wisse. Ob er es denn wisse? Er solle sie nicht falsch beurteilen, nicht unvernünftig sein. Er kenne sie ja. Weshalb er es denn auffassen wolle, wie plebejische Naturen es täten? Würde er das tun? Sie seien doch nicht wie andere. Wenn er sie nur verstehen wolle! Niels! – Niels!
Dies Billet versetzte ihn in starke Spannung, und plötzlich fiel es ihm wieder ein und beunruhigte ihn, daß die Etatsrätin ihn neulich so spöttisch mitleidig angesehen, gelächelt und geschwiegen hatte, so sonderbar geschwiegen. Was konnte es sein – was in aller Welt konnte es nur sein? Die Stimmung, die ihn von Frau Boye ferngehalten, war verschwunden, er begriff sie gar nicht mehr, ihm war so bange. Wenn sie einander nur geschrieben hätten, wie andere vernünftige Menschen. Weshalb hatten sie es denn eigentlich nicht getan? So viel hatte er doch nicht zu tun gehabt. Er war doch auch zu merkwürdig; sich von dem Ort, wo er gerade war, immer so ganz und gar in Anspruch nehmen zu lassen. Und alles zu vergessen, was ferner lag. Nicht vergessen gerade, aber er schob es so weit zurück, und ließ es von der Gegenwart begraben. Wie unter Berge. Man sollte nicht glauben, daß er Phantasie besaß.
Endlich. Frau Boye schloß ihm selbst die Entreetür auf, bevor er noch geläutet hatte. Sie sagte nichts, sondern reichte ihm die Hand zu einem langen, kondolierenden Druck; durch die Zeitungen hatte sie ja von seinem Verlust erfahren. Niels sagte ebenfalls nichts, und so gingen sie schweigend zwischen zwei Reihen von Stühlen mit rot und weiß gestreiften Überzügen durch das erste Zimmer. Der Kronleuchter war in Papier gehüllt, und die Fensterscheiben waren geweißt. Im Wohnzimmer war alles wie gewöhnlich, nur die Jalousien waren vor den geöffneten Fenstern niedergelassen und schlugen in dem leisen Luftzug einförmig klappernd gegen den Fensterrahmen. Der Reflex vom sonnenbeschienenen Kanal sickerte gedämpft durch die gelben Stäbe und zeichnete ein unruhiges, krauses Getäfel voll Wellenlinien an die Zimmerdecke, zitternd, wie die zitternden Wogen draußen; sonst war alles still und wartete geduldig mit leisem Atem.
Frau Boye konnte nicht einig mit sich werden, wo sie sitzen wollte, endlich entschied sie sich für den Schaukelstuhl, wischte mit ihrem Taschentuch den Staub ab, stellte sich dann jedoch hinter den Stuhl, die Hände auf die Lehne gelegt. Die Handschuhe hatte sie noch an und nur einen Arm aus der schwarzen Mantille gezogen, die sie über ihrem schottischkarierten Seidenkleid trug; ebenso klein kariert wie das breite Band auf ihrem großen, runden Panamahut, dessen helles Stroh ihr Gesicht zur Hälfte verbarg; sie stand und sah zu Boden, während sie heftig mit dem Stuhl schaukelte.
Niels saß auf dem Taburett am Klavier, weit fort von ihr, als erwarte er, etwas Unangenehmes zu hören.
»Weißt du es also, Niels?«
»Nein. Aber was ist es, das ich nicht weiß?«
Der Stuhl stand still. »Ich bin verlobt.«
»Sie haben sich verlobt, aber weshalb, wie?«
»Ach nenne mich nicht Sie, sei nicht gleich unvernünftig.«
Sie lehnte sich trotzig an den Schaukelstuhl. »Du kannst doch begreifen, daß es nicht ausgesucht angenehm für mich ist, hier stehen und dir alles erklären zu müssen. Ich will es ja tun, aber du könntest mir wohl helfen.«
»Das ist lauter Unsinn. Bist du verlobt oder nicht?«
»Ich habe es dir ja gesagt,« entgegnete sie mit leiser Ungeduld und blickte auf.
»Dann darf ich mir also erlauben, Ihnen zu gratulieren, Frau Boye, und Ihnen recht herzlich für die Zeit zu danken, in der wir einander kannten.« Er war aufgestanden und verbeugte sich mehrmals sarkastisch.
»Und so kannst du von mir scheiden, so ganz ruhig; ich bin verlobt, und nun sind wir fertig; alles, was zwischen uns beiden gewesen, ist eine alte, dumme Geschichte; an die wir nicht mehr denken wollen. Vorbei soll vorbei sein? Ohne weiteres? – Niels, soll die Erinnerung an all jene teuren Tage von jetzt an stumm sein, wirst du nie, nie wieder an mich denken, mich nie vermissen? Wirst du nicht zuweilen in einer stillen Abendstunde den Traum wieder lebendig träumen und ihm die Farben geben, in denen er hätte leuchten können? Kannst du es lassen, alles in Gedanken noch einmal zu lieben, und es zu der Fülle reifen zu lassen, die es hätte erreichen können? Kamst du? Kannst du deinen Fuß darauf setzen und es zertreten, jedes Krümchen, so daß es aus der Welt ist? Niels?« [...]
Es liegt uns Frauen nun einmal nicht, Ausnahmen zu sein, Niels, es macht uns so seltsam, vielleicht interessanter, aber sonst... Kannst du es begreifen? Es ist erbärmlich, nicht wahr? Aber du begreifst wohl, daß es einen wunderlichen Eindruck auf mich gemacht hat, wieder in die alten Umgebungen zurückzukommen .... So viele Erinnerungen drangen auf mich ein – das Andenken an meine Mutter, und wie sie dachte; mir war, als sei ich wieder in den Hafen gelangt, alles war so friedlich und ordentlich, und ich brauchte mich nur daran zu binden, um für all mein Lebtag recht glücklich zu werden. Und deshalb ließ ich mich binden, Niels.«
Niels konnte sich eines Lächelns nicht erwehren; er fühlte sich ihr so überlegen, und sie tat ihm so leid, wie sie da vor ihm stand, so jugendlich unglücklich in ihrem Selbstbekenntnis. Ihm wurde so weich zumut, und er konnte gar keine harten Worte finden.
So ging er zu Ihr.
Inzwischen hatte sie den Stuhl umgedreht und war hineingesunken; da saß sie nun so matt und weltverlassen mit hängenden Armen, mit erhobenem Gesicht und halb gesenkten Augen und sah durch das verdunkelte Zimmer mit den zwei Reihen Stühlen in das finstere Entree hinaus.
Niels legte den Arm auf die Rückenlehne und beugte sich, die Hand auf die Seitenlehne gestützt, über sie und flüsterte: »Und mich hattest du ganz vergessen?«
Es war, als hätte sie es nicht gehört, sie hob nicht einmal die Augen; endlich schüttelte sie den Kopf, ganz wenig, und nach einer Weile noch einmal, ganz wenig. [...]
Diese Ruhe raubte ihnen die Sprache, beinahe auch die Gedanken, und sie saß wieder wie zuvor, den Blick in das dunkle Entree gerichtet; er blieb über sie gebeugt stehen und starrte auf das Gewürfel ihres Seidenkleides, und unbewußt, von der milden Ruhe verlockt, begann er, sie zu schaukeln, ga – nz leise, ga – nz leise.
Langsam hob sie die Lider zu einem Blick auf sein mild beschattetes Profil und senkte sie dann wieder in stillem Wohlbehagen. Es war wie eine lange Umarmung, als legte sie sich in seine Arme, wenn der Stuhl zurückging: und wenn er wieder nach vorn ging, so daß ihre Füße den Boden berührten, so lag etwas von ihm in dem leisen Druck, den der Boden gegen den Fuß übte. Auch er fühlte es, das Schaukeln begann ihn zu interessieren, nach und nach schaukelte er stärker; es war, als wäre er näher daran, sie zu besitzen, je weiter er den Stuhl zurücklehnte, und wie Erwartung lag es in der Sekunde, die dem Vorwärtsschaukeln voranging; und wenn er dann niederstieß, so lag eine eigentümliche Befriedigung in dem leisen Schlag, mit dem ihre willenlosen Füße den Boden berührten; und ihr ganzer Besitz dünkte es ihn, wenn er den Stuhl noch weiter vorwärts zwang, und ihre Sohlen so sanft gegen den Boden preßte, daß die Knie sich ein wenig heben mußten.
»Laß uns nicht träumen«, sagte Niels dann mit einem Seufzer und ließ resigniert den Stuhl los.
»Doch«, sagte sie beinahe bittend, und sah ihn unschuldig mit großen, wehmutstrunkenen Augen an.
Sie hatte sich langsam erhoben.
»Nein, nicht träumen«, sagte Niels nervös und legte den Arm um ihre Taille. »Träume sind genug zwischen uns gewesen, hast du das nie bemerkt? Haben sie nie wie ein flüchtiger Atem deine Wange oder dein Haar berührt? Ist es möglich, daß die Nacht nicht zitternd Seufzer auf Seufzer ausgehaucht hat, die sterbend auf deine Lippen herabsanken?«
Er küßte sie, und es war ihm, als werde sie minder jung unter seinem Kusse, minder jung, aber schöner, glühend schön, berauschend.
»Du mußt es wissen,« sagte er, »du weißt nicht, wie ich dich liebe, wie ich gelitten habe und entbehrt. Tema, wenn jene Zimmer am Wall reden könnten!«
Er küßte sie wieder und wieder, und sie schlang heftig die Arme um seinen Hals, so daß die weiten Ärmel hoch über die faltigen weißen Unterärmel, höher als über die grauen Gummibänder, die sie über dem Ellbogen hielten, hinaufglitten.
»Was könnten die Zimmer sagen, Niels?«
»Tema, könnten sie zehntausendmal und öfter sagen; sie könnten in diesem Namen beten, rasen, seufzen und schluchzen. Tema – sie könnten auch drohen.«
»Sie könnten drohen?«
Von der Straße herauf drang ganz und unverkürzt ein Gespräch durch die geöffneten Fenster; es war die gleichgültigste Weisheit der Welt in abgenützten Alltagsworten, die zwei stimmungslose Klatschstimmen durcheinander jagten und wälzten. Die ganze Prosa drang, zu ihnen herein und machte es noch herrlicher, so Brust an Brust dazustehen, eingehüllt von weichem, gedämpften Licht.
»Wie ich dich liebe, du Süße, Süße – in meinen Armen, du bist so gut; bist du so gut, so gut? – und dein Haar ... ich kann beinahe nicht sprechen, und all die Erinnerung ... so gut ... all die Erinnerung daran, wie ich geweint habe und unglücklich war und dich so schmerzlich vermißte, sie dringt jetzt auf mich ein, drängt sich hervor, als wollte sie jetzt im Glück glücklich mit mir sein – begreifst du! – Weißt du noch, Tema, kannst du dich noch auf den Mondschein im vorigen Jahr besinnen? [...] Nein, du Süße, es wäre ein Jammer, wenn du weinen müßtest; du darfst nicht weinen, um dich sollten stets Rosennächte und Sonne sein – eine Rosennacht –«
Sie war ganz in seine Arme gesunken, und den Blick in den seinen verloren, murmelten ihre Lippen wie im Traum seltsam süße Liebesworte, von ihrem Atem halb erstickt, wiederholte sie Worte, Worte von ihm, als flüsterte sie sie ihrem Herzen zu.
Draußen auf der Straße entfernten sich die Stimmen und machten sie unruhig. Dann kamen sie wieder, taktfest, von dem harten Stoßen eines Stocks auf die Fliesen begleitet; jetzt verzogen sie sich auf die andere Seite, weilten lange noch gedämpft in der Ferne, wurden schwächer und erstarben.
Und die Stille schwoll wieder um sie empor, loderte auf um sie, herzzersprengend mit schwerem Atem. Die Worte zwischen ihnen waren versiegt, die Küsse fielen schwer von ihren Lippen, wie zögernde Fragen, aber sie brachten keine Erlösung mit sich, kein Genießen des Augenblicks. Sie wagten nicht, mit den Augen voneinander zu lassen, und wagten doch nicht, Worte in ihren Blick zu legen, sie verschleierten ihn gleichsam, verbargen sich hinter ihm, schweigend, über geheimnisvolles Träumen brütend.
Da plötzlich kam ein Zittern in seine Umarmung und weckte sie, und sie stemmte die Hände gegen seine Brust und riß sich los.
»Geh, Niels, geh, du darfst nicht hier sein; du darfst nicht, hörst du?«
Er wollte sie an sich ziehen, aber sie zog sich bleich und wild zurück. Sie zitterte von Kopf bis zu Fuß und stand mit vorgestreckten Armen da, als wage sie nicht, sich selbst zu berühren.
Niels wollte niederknien und ihre Hand fassen.
»Du darfst mich nicht anrühren«, Verzweiflung lag in ihrem Blick. »Weshalb gehst du nicht, wenn ich dich bitte, Herrgott, kannst du denn nicht gehen? Nein, du darfst nicht sprechen, geh deiner Wege, du. Siehst du nicht, wie ich vor dir zittere? Sieh doch, sieh. Oh, es ist schlecht vor dir, so gegen mich zu sein! Wenn ich dich doch bitte!«
Es war ihm unmöglich ein Wort zu sagen, sie wollte nicht hören. Sie war ganz außer sich. Tränen strömten aus ihren Augen; ihr Gesicht war fast verzerrt und leuchtete gleichsam vor Blässe. Was sollte er tun?
»Willst du denn nicht gehen? Kannst du denn nicht sehen, wie du mich durch dein Bleiben demütigst, du mißhandelst mich, ja, das tust du; was habe ich dir getan, daß du so schlecht sein kannst? Oh, geh! Hast du denn kein Mitleid?«
Mitleid. Er war eiskalt vor Wut. Dies war ja Wahnsinn. Es blieb ihm nichts übrig, als zu gehen. Er ging. Die beiden Stuhlreihen ließ er nicht seitwärts liegen, sondern ging langsam, den starren Blick darauf gerichtet, hindurch, wie um zu trotzen.
»Erit Niels Lyhne«, sagte er, als er die Entreetür hinter sich ins Schloß fallen hörte.
Nachdenklich, den Hut in der Hand, ging er die Treppe hinunter. [...]
(Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne Kapitel 9)

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