23 März 2018

Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne - Niels und Erik

Niels kommt nicht voran und besucht Erik, der seinerseits in einer Krise ist:

"[...] Denn er fühlt, daß er Glauben genug hat, Glauben genug, um Berge zu versetzen; aber er kann sich nicht entschließen, den Rücken dagegen zu stemmen. Dann und wann steigt es wie Schaffensdrang in ihm auf, Sehnsucht, einen Teil von sich selbst in einer Arbeit zu befreien, und dann kann sein Wesen tagelang angespannt sein durch frohe, titanenhafte Anstrengungen, den Lehm zu seinem Adam zusammenzufahren; doch er vermag ihn nie seinem Vorbilde ähnlich zu formen; er hat nicht Ausdauer genug, die Selbstkonzentrierung, die dazu erforderlich ist, festzuhalten. [...]
Und die Resignation hat soviel für sich, denn wie oft sind die idealen Forderungen der Jugend nicht zurückgewiesen worden, ihre Begeisterung beschämt, ihre Hoffnung zerstört worden! – Die Ideale, die leuchtenden, die schönen, sie haben wohl noch nichts von ihrem Glanz verloren, aber sie wandern nicht mehr auf Erden unter uns wie in den ersten Tagen unserer Jugend; über die breitbasierte Treppe der Weltklugheit sind sie Stufe für Stufe in den Himmel zurückgeführt worden, aus dem unser einfältiger Glaube sie herausgeholt hatte, und dort sitzen sie nun strahlend – aber fern, lächelnd, aber müde, in göttlicher Untätigkeit, während der Weihrauch einer tatenlosen Anbetung ruckweise in feierlichen Wolken zu ihrem Thron emporsteigt. [...]
Da geschah es, daß er an einem Sommertage, als Erik und Fennimore wie gesagt zwei Jahre verheiratet gewesen, einen halb prahlerischen, halb jämmerlichen Brief von Erik erhielt, in dem dieser sich anklagte, jetzt zuletzt seine Zeit vergeudet zu haben, er wisse aber nicht, wie es komme, er habe keine Ideen mehr. Es seien frische, muntere Leute, mit denen sie dort in der Gegend verkehrten, durchaus nicht prüde oder albern, aber der Kunst gegenüber die gräßlichsten Dromedare. Es sei nicht ein Mensch da, mit dem er ordentlich reden könne, und er sei jetzt in einen Dusel von Trägheit und Mattigkeit geraten, den er nicht überwinden könne; [...] und es wäre ein Freundschaftsdienst, wenn Niels nach dem Mariagerfjord käme; er solle es so gut haben, wie die Umstände es erlaubten, und er könne seinen Sommer doch ebenso gut dort zubringen wie anderswo. Fennimore ließe ihn grüßen und würde sich sehr freuen. [...]
Arme Fennimore! Sie wußte nicht, daß die brausende Hymne des Glückes so oft gesungen werden kann, daß ihr weder Melodie noch Worte bleiben, sondern nur ein wirres Durcheinander von Trivialität; sie wußte nicht, daß der Rausch, der heute emporträgt, seine Kraft von den Flügeln des morgenden Tages nimmt; als nach und nach die Nüchternheit schwermütig heraufdämmerte, fing sie bebend an zu begreifen, daß sie sich zu einer süßen Verachtung gegen sich selbst und gegeneinander herabgeliebt hatten, einer Verachtung, deren Süßigkeit Tag für Tag abnahm, bis sie zuletzt herb und bitter wurde. [...]
Im Ganzen war es eine schlimme, grobkörnige Bande, mit der Erik zusammenkam, aber Menschen von einer so riesenstarken Lebenskraft konnten sich wohl nicht in zivilisierteren Vergnügungen Luft machen, und ihre unerschöpfliche Laune, ihre breite, bärenhafte Gemütlichkeit nahm ihnen wirklich viel von ihrer Roheit. [...] 
wie die Dinge nun einmal lagen, war die ganze Ausbeute für die andern und für ihn nur die, daß er sich trefflich amüsierte. Nur allzusehr; denn bald wurde diese ausgelassene Zecherei ihm unentbehrlich und nahm nach und nach seine ganze Zeit in Anspruch; wenn er sich dann und wann auch seine Untätigkeit vorwarf, und sich dann gelobte, daß sie ein Ende haben sollte, so trieben ihn doch die Leere und die geistige Ohnmacht, die er jedesmal empfand, wenn er zu arbeiten versuchte, stets in das alte Leben zurück.
Den Brief an Niels, den er eines Tages geschrieben, da seine anhaltende Unfruchtbarkeit gar kein Ende nehmen wollte und den Eindruck einer Abzehrung auf ihn gemacht, die sein Talent angegriffen, diesen Brief bereute er sofort, nachdem er abgesandt war, und er hoffte, daß Niels seine Klagen zum einen Ohr hinein und zum andern hinausgehen lassen werde.
Aber Niels kam, der fahrende Ritter der Freundschaft in eigener Person; und ihm wurde denn auch der halb abweisende, halb mitleidige Willkomm, den fahrende Ritter stets von denen bekommen, um deretwillen sie Rosinante aus dem warmen Stall gezogen haben. Da Niels vorsichtig war und abwartete, so taute Erik bald auf, und die alte Vertraulichkeit zwischen ihnen wurde zu neuem Leben geweckt. Und es trieb Erik, sich auszusprechen, zu klagen und zu bekennen; es trieb ihn mit beinahe physischem Zwange dazu.

(Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne, 11. Kapitel)

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