12 März 2020

Fanny Lewald: Italienisches Bilderbuch - Florenz

Physiognomie der Stadt 
Im allgemeinen könnte man die Schar der Reisenden in zwei Klassen teilen, die streng voneinander geschieden sind: in diejenigen Menschen, welche reisen, um recht viel zu sehen, und diejenigen, welche reisen, um zu genießen. Dies letztere schließt das »recht viel sehen« entschieden aus. Es gibt nichts Qualvolleres, als immerfort und obenein in Eile eine Menge fremder Eindrücke in sich aufzunehmen, und grade darum sind gewöhnlich die ersten Tage in einer fremden Stadt wenig genußreich, ja unangenehm. [...]

Florenz kam mir zu physiognomielos vor, zuwenig italienisch, als ich es zum ersten Male sah, und dieser Eindruck wiederholte sich in höherm Grade, als ich ein Jahr nachher von Rom dorthin zurückkehrte. Die Zivilisation, die allgemeine Bildung. haben im Volksleben das Gepräge der Nationalität verwischt. Der Italiener im übrigen Italien ist vornehm, wenn er ruht, und hastig lärmend, wenn er arbeitet, tätig ist. Die Florentiner sind wie die Deutschen nicht nur tätig, sondern fleißig, das heißt arbeitsam mit ruhiger Überlegung. Die Stadt, mit ihrem Pflaster aus großen, schönen Quadern, ist ungemein sauber. Sie erschien mir dies doppelt, als ich von Rom zurückkam; volklos und still gegen Neapel, trotz dem ameisenhaften Gewühle in den Straßen. Alle Menschen in Florenz gehen nach der Mode ordentlich gekleidet, es sind viel weniger Geistliche als in den andern Städten sichtbar, man könnte sich mitunter in Deutschland wähnen. Da gibt es keine Matrosen und Orientalen wie in Genua, keine Pifferari wie in Rom; keine ausgeflaggten Schiffe, keine Brunnen, aus denen Esel die reiche Mahlzeit grüner Kohlblätter herausfischen, während die rüstigen Carrettieri mit schmutzigen Mönchen und stolzen, wasserschöpfenden Frauen schwatzen wie in Rom. [...]
Will man sich von dieser Unselbständigkeit der meisten Menschen einmal in Masse überzeugen lassen, so braucht man nur die Galerien zu durchwandern und die Mehrzahl der Reisenden Kunstwerke betrachten zu sehen. Da bleiben sie mit den Interjektionen »Göttlich! oh! schön! erhaben!« vor den Schilderungen von Martyrien stehen, gegen die jede Faser menschlicher Empfindung sich sträubt. Sie bewundern die Marterbilder, welche große Künstler, umnachtet von finsterem Wahne einer trübseligen Schwärmerei oder gezwungen durch die Macht des Geldes, erschufen; sie behaupten dann, der Stoff sei Nebensache, die Ausführung mache das Kunstwerk, und geben lange Reihen von Gemeinplätzen zu hören. Wie aber kann man etwas anderes empfinden als das grausenvollste Entsetzen, wenn man eine Heilige knien sieht, der rohe, blutgierige Henkersknechte mit glühenden Zangen die Brust zerfleischen – wie kann man sich nicht mit Widerwillen abwenden, wenn einem Märtyrer das Fleisch vom Körper geschnitten wird oder der heilige Lorenzo auf dem Roste bratet? [...]
Da stehen die eleganten Damen, die englischen Ladies, die bei dem Anblick eines Frosches Zuckungen bekommen und, wenn man das Wort Hemde ausspricht, in Schamröte erglühen, vor ganzen Wänden voll Martyrien und sehen mit dem Lorgnon Dinge und Szenen an, von denen ein gesundes Gemüt sich mit Widerwillen abwendet. [...]
Die Leute sprechen immer von Freiheit; wollen frei sein, ihre Freiheit erringen, ihre Meinung vertreten, ihre Individualität geltend machen; und dennoch haben die wenigsten den Mut, diese Individualität auch nur in der Anschauung des Schönen zu behaupten, wo sie doch keinem fremden Rechte entgegentreten und keine Emeuten und Festungsstrafen zu fürchten haben. [...]
daß ich bei diesen altbyzantinischen Köpfen, die gar nicht viel über chinesischer Malerei stehen, gar nichts empfände als herzliches Bedauern mit dem Genius eines Künstlers, der bei wahrer Empfindung so erfolglos mit der Technik rang und sicher sich selbst nicht genugtun könnte. [...]
Man konnte sich einen wirklichen Kunstgenuß durch die Kopie bereiten, eine vortreffliche Erinnerung an das Original gewinnen, einem Menschen, vielleicht einer Familie, wie ein Rettungsengel erscheinen – man verschmähte es. Es ist nicht »fashionable«, Kopien zu kaufen, man muß Originale, womöglich Werke verstorbener Meister besitzen. Erst wenn der arme Maler, wie Correggio, dem Drucke des Elends erlegen sein wird, wenn eine bleiche Gattin und jammervolle Kinder an seinem Sterbebette geweint haben werden, dann wird es Zeit sein, die Bilder mit Gold aufzuwiegen, das dann freilich nicht mehr Glück und Freude über den Künstler zu bringen vermag. [...]
Es ist die Gesellschaft der Misericordia, welche, wie mir ein Freund erzählte, noch aus den Parteikämpfen der adligen Geschlechter herstammt. Damals geschah es oft, daß die bei den Gefechten Verwundeten ohne Hilfe, ohne Beistand in den Straßen liegenblieben; sei es, daß ihre Kampfgenossen geflohen waren oder daß unbeteiligte Bürger Bedenken hatten, ihnen zu Hilfe zu kommen und dadurch als Anhänger einer Partei zu gelten und sich die Feindschaft von deren Gegnern zuzuziehen. Diese Not, unter der alle gemeinsam litten, führte zu einer Maßregel, nach der man das Parteiwesen nicht auf die Leidenden auszudehnen beschloß und sich verband, in jedem Hilfsbedürftigen nur den Menschen, nicht den Anhänger dieses oder jenes Hauses zu sehen. So ward die Misericordia gestiftet. Fand man einen Toten, einen Verwundeten in den Straßen und gab eine bestimmte Glocke das Signal, welches die Brüderschaft herbeirief, so versammelten sich diejenigen, welche es gehört hatten; man warf die Kutten und Kapuzen über, um sich gegenseitig unerkennbar zu sein, und unter dieser Hülle schwieg der Kampf, verband man sich mitten im wilden Streite der Parteien zu milden Werken wahrer Menschlichkeit. [...]
Solch persönliches, anspruchsloses Helfen ist es, was uns not tut. Dabei prangen keine Namen in öffentlichen Blättern, es ist auch kein Orden dafür zu gewinnen und keine ehrenvolle Anerkennung in frommen Salons. Ungekannt, ungesehen und verloren in der großen Zahl hilft jeder, nicht mit Geld, auf das er vielleicht nur geringen Wert legt, sondern mit eigener Kraft, zu jeder Stunde, bei Tag und Nacht mit Aufopferung der augenblicklichen Bequemlichkeit. Jeder, und dies ist für mich der Hauptvorteil der Misericordia, jeder der reichen Teilnehmer an derselben wird dadurch bisweilen an das Schmerzenslager des Armen, in die Not seines Hauses eingeführt, und das eigene Anschauen derselben ist für tausend Menschen eine unabweisliche Forderung zu helfen, soweit es in ihren Kräften steht. [...]
Dom: Santa Maria del Fiore (Wikipedia)

Der Dom ist von außen ganz mit einer Mosaik von mehrfarbigem Marmor bekleidet, innen dagegen äußerst schmucklos, bis auf die Kuppel, die mit schönen Fresken geziert ist. Er machte in seiner starren Größe auf mich einen unheimlichen Eindruck. Sooft ich in den Dom trat, fielen mir die Worte ein: »Und die Erde war wüst und leer, und der Geist Gottes schwebte über den Wassern.« 
Dom: Santa Maria del Fiore (Wikipedia)

Es ist eine starre, niederdrückende Größe, eine trostlose Öde in dem Charakter des innern Domes, und ich habe immer gedacht, es sei die Absicht des Baumeisters gewesen, dem Gebäude diesen Ausdruck zu geben, damit die beängstete Seele des Menschen sich Rettung, Zuflucht suchend an das Kreuz klammere, das über dem Hochaltare errichtet ist. Man wird nicht erhoben zum Streben nach dem Ideale, nach Gottähnlichkeit, um des Allgeistes würdig zu werden; man wird gedemütigt bis in das innere Sein. Die ganze Lehre von der Erbsünde, von der Nichtigkeit aller menschlichen Bestrebungen schwebt in diesen Räumen und wuchtet sich so erdrückend und lähmend auf die Seele, daß man verzagt und traurig wird. Es ist die einzige Kirche von allen, die ich in Italien sah, welche diesen düstern Eindruck hervorruft. Ich hätte mich gar nicht gewundert, wenn ich hier urplötzlich eine deutsche Predigt gehört hätte, die das schöne Erdenleben eine Prüfungszeit, die Welt ein Jammertal, die Menschen elendes, gottloses Otterngezücht genannt und aller Gnade ungeachtet zu den Qualen der Verdammnis bestimmt hätte. [...]
Wir sind ja zum Glück geschaffene Kinder des Lichtes! Man hat den Menschen so viele hundert Jahre lang dies selige Bewußtsein zu vernichten gestrebt, man hat ihre Seele umnachtet mit den schrecklichsten Bildern von Blut und Tod – man hat ihnen die Freude genommen an dem Guten, das sie taten, denn das wirkte die Gnade in ihnen, und ihnen doch die Verantwortung aufgebürdet für das Unrecht, welches sie begingen, und das freudige Gottbewußtsein hat trotzdem die Oberhand gewonnen. Er bricht sich Bahn, der heitere Glaube [...]
Seid ihr glücklich, wißt ihr das Gute, wer gibt euch ein Privilegium dazu, es für euch allein zu behalten? ihr tadelt ein Monopol, das einer mehr oder minder wesentlichen Entdeckung gegeben wird; wie dürft ihr es wagen, eine Erkenntnis für euch allein behalten zu wollen, die nach eurer Meinung zu dem Heile aller beitragen kann? [...]
Baptisterium (Wikipedia)



Man soll niemand zwingen, seinen Glauben zu ändern; aber ihm das, was man selbst für das Richtige hält, mit allen zu Gebote stehenden Gründen der Vernunft darzutun, damit er selbst prüfe und das Bessere wähle, das scheint mir die Pflicht eines jeden, der in seiner Überzeugung wahres Glück und Ruhe und Friede gefunden hat. [...]
Baptisterium (Wikipedia)

Erztüren von der seltensten Arbeit schließen das Battisterio. Sie sind ein Werk Ghibertis; und Michelangelo hat von ihnen gesagt, daß sie würdig wären, das Paradies zu schließen. 
Baptisterium (Wikipedia)










Sie fesselten uns lange an ihre vollendet schönen Basreliefs, ehe wir nach Santa Croce gingen, dem Pantheon von Florenz. 




St. Croce (Wikipedia)
Das Äußere von Santa Croce hat den einfach würdigen Charakter der meisten altflorentinischen Gebäude. Das Innere ist durchaus imponierend und großartig. Edle Säulenreihen tragen die Decke, Bilder der berühmtesten Künstler schmücken die Altäre, und doch ist es dies alles nicht, was den Fremden hierher zieht und seine Seele zu einer Andacht erhebt, welche man nicht in jeder Kirche empfindet. Santa Croce enthält die Gräber der bedeutendsten Männer Italiens. Michelangelo Buonarroti, Alfieri, Machiavelli, Galilei sind hier begraben. Dante hat ein Denkmal zwischen ihnen, obgleich seine Asche sich in Ravenna befindet. Die beiden schönsten Monumente sind die von Alfieri und Dante. Das erstere ist von Canova, eine über der Aschenurne trauernde Italia. [...]
Hier in dieser Kirche, vor den Grabmälern dieser Männer, tritt uns die hohe Geistesentwicklung Italiens im Mittelalter in all ihrer Ausdehnung vor die Seele, und man fragt sich, wie es möglich gewesen ist, daß ein Land, nachdem es seinerzeit so weit vorangeeilt war, dennoch hinter den darauffolgenden Jahrhunderten so weit zurückbleiben konnte. Das Volk bewahrt mit Pietät und Stolz die Erinnerung an seine Vorzeit, kennt die Namen seiner berühmten Männer, und einzelne Epochen seiner Geschichte leben in dem Gedächtnis eines jeden, da sie an Orte, Gebäude, Denkmale geknüpft sind. [...]
in den Zeitungen herrschte tiefer, schlaftrunkener Frieden. Kaum eine Andeutung fand sich von kleinen Emeuten in Rimini, Sinigaglia und Bologna. Die Blätter brachten artige Hochzeitsgedichte für ein vornehmes Paar, meldeten viel von der Reise der Kaiserin von Rußland, zeigten die glücklichen Entbindungen verschiedener Prinzessinnen an, die Zahl der in Livorno und Genua angekommenen Schiffe und waren ein wahrhaftes Modell zu Hoffmanns von Fallersleben Gedicht: »Wie interessant, wie interessant! Gott segne mein liebes Vaterland!« [...]
Unter den schönen Fresken del Sartos, die ich, als der Gottesdienst beendet war, wiederzusehen eilte, war mir besonders die sogenannte Madonna del Sacco wert, welche ich seit meiner Kindheit in einem guten Kupferstiche geliebt hatte. Die Madonna sitzt auf einem Sacke, gleichsam rastend, das Christkind auf dem Schoße, der heilige Joseph ihr zur Seite. Man sagt, der Künstler habe das Bild um einen Sack Getreide während einer Hungersnot gemalt. Nur der Kopf des heiligen Joseph hat durch die Witterung gelitten, das übrige ist vortrefflich erhalten, und die Madonna sieht in ihrer stillen, in sich begnügten Mütterlichkeit noch so ruhig und sanft auf die Nachwelt hinab, wie die Seele des Künstlers sie erschuf. Ein Maler kopierte sie in Gouache, ein Weltgeistlicher in Kreide. Da ich eine Weile in Betrachtung vor dem Bilde stand, fragte mich der Maler, ob ich del Sarto liebe, und als ich dies bejahte und hinzufügte, daß mir in der Halle »Die Geburt der Maria« große Freude gemacht hätte, mit den schönen, schlanken Gestalten, welche die Wöchnerin, die heilige Anna, zu besuchen kommen, während die kleine Madonna im Vorgrunde gebadet wird und die Pantoffeln der Mutter ordentlich vor dem Bette stehen, wollte der Abbate wissen, wie mir die Kapelle dei pittori gefallen habe. Von dieser wußte ich nichts, denn sie stand weder in Lewalds noch in Försters Handbuch erwähnt, und niemand hatte uns davon gesprochen. So erboten sich die Männer, sie öffnen zu lassen. Es ist eine kleine Kapelle im Kreuzgang des Klosterhofes, welche Cosmus von Medicis zur Begräbnisstätte berühmter Künstler errichten ließ. An der Decke ist eine Himmelfahrt der Jungfrau von Luca Giordano; der Türe gegenüber von Vasari der heilige Lukas, Patron der Maler, wie ihm die Heilige Jungfrau mit dem Christkinde erscheint, damit er ihr Bild für die Menschheit male; darunter das Leben der Jungfrau mit ganz kleinen Bildern auf Holz von dem alten Fiesole. Etwas Lieblicheres als die Bilder Fiesoles habe ich nie gesehen. Seine Engel, seine Heiligen sind wirklich so ätherische Gestalten, sehen so unirdisch rein und schuldlos aus mit ihren blauen Augen und dem zarten Rot des Fleisches unter den goldblonden Locken, daß man ihnen ihre weißen Schwingen glaubt und es natürlich findet, wenn sie durch den Äther fliegen. Sie sind nicht von grobem Erdenstoff wie wir, sie sind leichte, duftige Wesen, die uns nur in Menschengestalt erscheinen, damit uns ihr himmlischer Lichtglanz nicht erblinden mache. Sie sind viel leichter als die Erdenluft, auf der sie schweben mit jener Sicherheit, mit der man im Traume fliegt, weil man es für ganz in der Ordnung hält. Auch der Goldgrund, auf dem sie gemalt sind, steht ihnen vortrefflich an. Es ist die Lichtregion, der sie entstammen, und man wird wieder ein frommes, gläubiges Kind, wenn man diese Engelchen Fiesoles betrachtet, die mit ihren Zimbeln, Posaunen und Harfen die Sphärenmusik machen zu dem Halleluja der lobsingenden Cherubim. An einer Wand der kleinen Kapelle ist eine… [...]
Wollte eine Familie sich einen durchaus angenehmen Aufenthalt wählen, so riete ich ihr zu Florenz; denn Florenz gewährt jedem Wunsche nach Lebensbehagen, nach bürgerlicher Ruhe, nach geregelten Verhältnissen und jedem Streben nach höchster, künstlerischer Befriedigung ein volles Genügen. Man muß sehr glücklich sein können in Florenz. Fragt mich aber jemand, wo er den wilden, phantasievollen Träumen der Jugend, dem heißen, sprudelnden Lebensübermute ein weites Feld zu elastischen Sprüngen eröffnen könne; fragte mich jemand, wo er leben solle, während das Jugendfeuer noch in seinen Adern bebt und sich sehnt nach Lust, Freude und feurigem Leben, dann sage ich ihm: »Gehe nach Genua, freue dich an dem frischen, unermüdlichen Treiben der Menschen, an der südlichen Pracht der Riviera, an den Gesängen und Mandolinen des Volkes, und wenn du glühst vor Daseinsfreude, dann tauche unter in die kühlen Wellen des blauen Meeres, wenn die Sonne sinkt, und freue dich des Bewußtseins, daß sie wieder aufgehen wird, dir noch viele Tage kräftiger Jugend goldig und warm zu beleuchten.«
(Fanny Lewald: Florenz)

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