04 März 2020

Fanny Lewald: Italienisches Bilderbuch, Straßenleben

Durch die Straßen! 
Wenn man in den am Meere gelegenen Gasthäusern eine gute Aussicht haben will, so muß man die oberen Stockwerke wählen, da der Basar bis über die erste Etage reicht und die Aussicht raubt. Die Beletage besteht aus den Prachtgemächern dieser ehemaligen Paläste, aus großen Wohnungen, deren Preise sehr teuer sind, während man eine Treppe höher schöne Zimmer für ganz angemessene Preise erhält. Wir wohnten mit einer befreundeten deutschen Familie in verschiedenen Zimmern um einen gemeinschaftlichen Saal und hatten die schönste Aussicht über den ganzen Hafen, aber freilich hundertundvierundzwanzig Stufen hinaufzusteigen. Indes daran muß man sich in Italien, besonders in Rom, gewöhnen, wo klimatischer Rücksichten wegen die oberen Stockwerke die gesuchtesten sind, und auch schon in Genua hat es sein Gutes, weil die Ausdünstung der am Ufer verfaulenden Meerpflanzen in den niederen Etagen empfindlich ist. Trotz dieser Vorzüge blieb es immer ein Entschluß, in die Wohnung zurückzusteigen, wenn man einmal auf der Straße war, und manche halbe Stunde, die zwischen einer Partie und der anderen unausgefüllt blieb, wurde um deshalb entweder im Café bei Sorbet oder im Umherwandern durch die Straßen zugebracht. 
 [...] bot man jeder Dame beim Scheiden einen der schönen Blumensträuße, die man in Italien so plastisch zu ordnen weiß, indem man um eine große Blume, welche das Zentrum bildet, die andern so eng und fest zusammenreiht, daß sie auf einem festen Stengel die Form flacher, kleiner Kuppeln gewinnen. Es sieht gut aus, und die Blumen erhalten sich länger frisch als die unseren, deren tief heruntergehende Stengel gleich verderben, wenn man sie ins Wasser setzt. [...]
Hier stehen Knaben, die in der engen Straße mit einer Art lederner Tambourins sich einen Ball zuwerfen; dort kniet ein Mädchen und läßt sich die frischgebratenen Koteletts auf ein Stück Papier legen; ein dritter kauft für zwei Sous ein großes Glas Wasser mit Zuckersirup und einer grünen Zitrone, welche er hineinpreßt. Männer stehen an der Ecke und singen für Geld dem Volke Geschichten vor, Geistliche plaudern mit hübschen Frauen, Mönche ziehen bettelnd umher, ihre kleine, hölzerne Tabaksdose diesem und jenem Bekannten präsentierend. Dazwischen klingen die Glocken der Maultiere, die, eines hinter das andere gebunden, mit Holz oder kleinen Öl- und Weinfässern beladen, langsam und vorsichtig die schmale Straße durchschreiten. Man kann sich kein fröhlicheres Treiben denken, man begreift nicht, wie es in dem schmalen Gäßchen Raum findet. Es schwirrt und summt wie in einem Bienenstocke, aber man wird nicht gestoßen, nicht belästigt; ich habe niemals Zankende oder Betrunkene gesehen. Als wir mitten in der langen Straße waren, kam noch ein Trupp Soldaten mit schöner Musik hindurch. Da mußte freilich alles in die Häuser flüchten, und das Gedränge wurde übermäßig, aber dennoch blieben die Leute höflich und achtsam. Eine von uns hatte eine weiße Mantille um, die in dem Gewühle, in welchem fast jeder saftige Früchte oder fette Speisen trug, gefährdet schien, aber alle, die in ihre Nähe kamen, sagten ein freundliches »Guarda, Signora!« (Nehmen Sie sich in acht!) und taten das mögliche, eine schädliche Berührung zu vermeiden.
Ein Dritteil der Männer waren wohl Geistliche, und wenn die alle wirklich im Zölibate lebten und nur noch einige folgende Generationen ebensoviel Priester brauchten, die wieder ehelos blieben, so müßten in Italien die Menschen allmählich selten werden wie in unseren ostpreußischen Wäldern das Elentier. Überall sind Geistliche, und sie sind alles. In allen Häusern Erzieher, in den vornehmen Familien Hauskapläne. Alle wohltätigen Stiftungen verwalten sie, alle Schulen sind in ihren Händen. Sie sind Bibliothekare und Kustoden aller öffentlichen Bibliotheken und Anstalten, sie sind eben alles, was einträglich und bequem ist – und außerdem noch Mönche in den zahllosen Klöstern, was das allerbequemste ist.
Da es für das Theater noch zu früh war, gingen wir in das größte Kaffeehaus Genuas, Le Grand Cairo, zunächst der Börse. Ich hatte immer gemeint, daß ein Handelsvolk wie diese Genueser auch für eine prächtige Börse gesorgt haben müßten, und fand mich sehr enttäuscht, als ich dies Gebäude zuerst erblickte. Es liegt mitten in dem ältesten Stadtteile an einem engen Platze unweit vom Hafen. Zwei Seiten sind an andere Häuser gelehnt, die beiden anderen sind frei. Die Börse ist eine große Halle mit Glasfenstern von oben bis unten, die ihr ein laternenhaftes, treibhausartiges Ansehen geben, obgleich man die Konstruktion des Dachstuhls, der aus Schiffsmasten besteht, sehr bewundert. Das Gebäude ist von innen und außen schmucklos; eine Reihe Bänke ziehen sich an den Wänden hin, einige schwere alte Tische stehen davor. Nachts hing eine brennende Lampe von der Decke herab. Sooft ich am Tage vorbeikam, zu den verschiedensten Stunden, sah ich Menschen darin, aber dennoch scheint das eigentliche Geschäftstreiben mehr auf der schmalen Straße vor sich zu gehen, die von der Börse hinabführt nach dem Freihafen und in der sich Figuren, Gruppen und Szenen darboten, welche es sichtlich machen, daß man sich in einer Handelsstadt befindet. Ernste, gewichtige, fundamentale Kaufleute bilden die Mittelpunkte; geschäftige, schwatzende Makler laufen zwischen ihnen umher; heitere Schiffskapitäne geben ihren Handschlag dem Kaufmann, der sie für seine Ladung engagiert, und Befehle dem wartenden Matrosen. Jeder hofft auf Gewinn, jeder spekuliert, und der Vorteil des einzelnen kommt allen zugute.
Durch schmale Gäßchen kommt man von der Börse auf einen sehr kleinen, schlecht beleuchteten Platz und ist überrascht, sich mitten in einem wahren Lichtmeere zu befinden, wenn die mit Vorhängen verhüllten Türen des Grand Cairo sich öffnen und aus seinen Spiegelwänden die zahlreiche Gesellschaft von Männern und Frauen verzehnfacht sich unserem Auge darbietet. Man trinkt Kaffee, Schokolade und Limonade, man ißt Eis und Granito, halbgefrorenes Eis, das noch nicht zu einer kompakten Masse geworden ist, sondern sich auf der körnigen Übergangsstufe vom Wasser zum Eise befindet.
Eis und eisgekühltes Wasser ist in diesem Klima ein dringendes Bedürfnis, und dennoch ist Eis und Schnee in Sardinien und Neapel Regal der Regierung, und niemand darf sie, selbst von seinem eigenen Grund und Boden, sammeln. Dabei kommt das Trinkwasser für Genua durch eine vier Meilen lange Wasserleitung, in Bleiröhren, die der Sonne ausgesetzt sind, lauwarm und fade in die Behälter der verschiedenen Häuser und ist, wenn es nicht mit Schnee erfrischt ist, kaum zu genießen und gewiß sehr ungesund.
Der Schnee ist unentbehrlich, und das Volk läßt es sich ruhig gefallen, daß man ihm den Schnee, der vom Himmel herabfällt, fortschaufelt von seinem Boden, und kauft ihn nachher für Geld, das es im Schweiße seines Angesichtes verdient. Ich war erschrocken, als ich es hörte, es kam mir beispiellos hart vor, bis ich mich besann, daß wir in Salz- und Wildsteuern ähnliche Härten aufzuweisen haben. Manchmal begreife ich recht wohl, wie die Monarchen dahin kommen, die Völker zu mißachten bei dieser bis jetzt unzerstörbaren Geduld. Indes es kommt wohl der Tag, wo diese endet, wo jeder seinen Anteil an dem Schnee des Himmels, dem Wild der Wälder unverkümmert begehren wird, und dann werden die Könige die Achtung vor den Völkern gewinnen und manche Privilegien verlieren.
(Fanny Lewald: Italienisches Bilderbuch, Durch die Straßen)

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