25 Dezember 2020

Mendelsohn: Eine Odyssee. Mein Vater, ein Epos und ich.

Odyssee in der Wikipedia 

Zu Mendelsohns Roman:

Der größte Schmerz, den Odysseus in der Unterwelt erlebt: Dass er seine Mutter nicht umarmen kann (weil sie nur noch ein Schatten ist). Bezug auf Corona (S.201)

Odyssee:

Auch besiegten mich nicht Krankheiten, welche gewöhnlich

Mit verzehrendem Schmerze den Geist den Gliedern entreißen.

Bloß das Verlangen nach dir und die Angst, mein edler Odysseus,

Dein holdseliges Bild nahm deiner Mutter das Leben!

Also sprach sie; da schwoll mein Herz vor inniger Sehnsucht,

Sie zu umarmen, die Seele von meiner gestorbenen Mutter.

Dreimal sprang ich hinzu, an mein Herz die Geliebte zu drücken,

Dreimal entschwebte sie leicht wie ein Schatten oder ein Traumbild

Meinen umschlingenden Armen; [...] (Odyssee, 11. Gesang vgl. Vergils Aeneis*)

Begegnung mit Achilles. "Lieber der Kleinste unter den Lebenden als der Herrscher über die Toten." (S.204) 

drauf antwortete jener und sagte:

Preise mir jetzt nicht tröstend den Tod, ruhmvoller Odysseus.

Lieber möcht ich fürwahr dem unbegüterten Meier,

Der nur kümmerlich lebt, als Tagelöhner das Feld baun,

Als die ganze Schar vermoderter Toten beherrschen. (Odyssee 11. Gesang)*

*Parodistisch dazu Heinrich Heine

Der Vergleich der Ilias mit der Odyssee am Beispiel ihrer Helden scheint mir unwichtig. Wichtiger die Begegnung mit Agamemnon, die Warnung vor der Heimkehr, besser als Unbekannter kommen.

Zu Eindrücken bei der Lektüre:

Die Idee, die Interpretation der Odyssee in eine Erzählung einzukleiden, finde ich weiterhin gut: Natürlich macht es Spaß, am Rande der Erzählung in altes Bildungsgut eingeführt zu werden.
Ich habe mir die Ausgabe von Ilias und Odyssee meines Bruders (meine Taschenbuchausgaben habe ich fortgetan) geholt, um mir einen Überblick über den ersten Gesang zu verschaffen, und mich daran erfreut, wie genau Wolfs Theorie der Entstehung der Homerischen Epen zu dem historisch bezeugten Verfahren Lönnrots passt, mit dem er die Kalevala zusammengestellt hat. 
Aber als die Karikaturen von Studenten auftauchten, die der Professor mit den stehenden Epitheten versieht und als der Vater seinen ausführlichen Beitrag lieferte, da wurde mir das Ganze doch zu künstlich, allzu konstruiert, um eine angebliche Ähnlichkeit von heutiger Lebenswelt mit antiker Überlieferung aufzuzeigen.
Das ständige Eingreifen der Götter hatte sich mein Vater übrigens damit erklärt, dass zur Zeit Homers die Griechen sich ein Über-sich-hinaus-Wachsen eines einzelnen nicht ohne Eingreifen der Götter hätten erklären können.
Bei den Römern: vor der Entscheidung den Willen der Götter erkunden, weil man nicht gegen den Willen der Götter handeln darf, sonst wird man gestraft (Zeus über Ägisthos); Erklärung eines Scheiterns als Missgunst der Götter. (Weshalb hat Odysseus so viel Pech? Missgunst Poseidons. Weshalb schafft er es am Ende doch, nach Hause zu kommen? Hilfe Athenes und Begünstigung durch Zeus, der Poseidon beweisen will, dass immer noch er das Sagen hat.)
Und vermutlich wird mich die erzählerische Einkleidung noch durch die gesamte Interpretation tragen, obwohl mir die retardierenden Momente bei der Interpretation auf die Nerven gehen. 

Wie sehr Melville Homers Odyssee im Blick gehabt hat, weiß ich nicht. Die Ähnlichkeit und der Unterschied sind aber erstaunlich.

Teiresias' Weissagungen über das zukünftige Schicksal des Odysseus sie reichen weit über das Ende der Odyssee hinaus:

"Aber kommen wirst du und strafen den Trotz der Verräter.

Hast du jetzo die Freier, mit Klugheit oder gewaltsam

Mit der Schärfe des Schwerts, in deinem Palaste getötet,

Siehe, dann nimm in die Hand ein geglättetes Ruder und gehe

Fort in die Welt, bis du kommst zu Menschen, welche das Meer nicht

Kennen und keine Speise gewürzt mit Salze genießen,

Welchen auch Kenntnis fehlt von rotgeschnäbelten Schiffen

Und von geglätteten Rudern, den Fittichen eilender Schiffe.

Deutlich will ich sie dir bezeichnen, daß du nicht irrest.

Wenn ein Wanderer einst, der dir in der Fremde begegnet,

Sagt, du tragst eine Schaufel auf deiner rüstigen Schulter,

Siehe, dann steck in die Erde das schöngeglättete Ruder,

Bringe stattliche Opfer dem Meerbeherrscher Poseidon,

Einen Widder und Stier und einen mutigen Eber.

Und nun kehre zurück und opfere heilige Gaben

Allen unsterblichen Göttern, des weiten Himmels Bewohnern,

Nach der Reihe herum. Zuletzt wird außer dem Meere

Kommen der Tod und dich vom hohen behaglichen Alter

Aufgelöseten sanft hinnehmen, wann ringsum die Völker

Froh und glücklich sind. [...]"


Beim trotz Orpheus vielleicht berühmtesten Besuch der Unterwelt, bei Dante in der Göttlichen Komödie, sieht sich der noch Lebende dadurch geehrt, dass er zusammen mit seinem Führer Vergil* in den Kreis der illustrem Schatten aufgenommen wird, der von Homer, dem ersten, der in einem großen Epos einen Besuch der Unterwelt aufgenommen hat, angeführt wird:


"Mein Meister aber sagte rasch zu mir:
Sieh jenen mit dem Schwert in seiner Hand,
Der vor den andren hergeht als ihr Meister!
Das ist Homer, der königliche Dichter
Der zweit' ist der Satiriker Horaz,
Als dritter folgt Ovid, Lucan als letzter.
Weil jeder nun mit mir den Namen teilt,
Den du die Einzelstimme nennen hörtest,
Tun sie mir Ehr' an, und so ist's geziemend. –
So sah versammelt ich die schöne Schule
Der Meister des erhabensten Gesanges,
Der ob den andren, gleich dem Adler, fliegt.
Als miteinander etwas sie gesprochen,
Da wandten sie zu mir sich, freundlich grüßend;
Mein Meister aber lächelte darob.
Und mehr der Ehr' erzeigten sie mir noch;
Denn ihrer Schar gesellten sie mich zu,
So daß ich Sechster ward im Kreis der Weisen."

(Dante: Göttliche Komödie, 4. Gesang)


Vergil kann deshalb als Führer in die Unterwelt dienen, weil er im 6. Buch der Aeneis seinerseits (in Anknüpfung an Homer) einen Besuch in der Unterwelt beschrieben hat:

"Nach der Landung an der Westküste Italiens (Buch 6) steigt Aeneas mit der Sibylle von Cumae in die Unterwelt ab. Dort erfährt er durch Anchises von der künftigen Größe und dem Geschichtsauftrag Roms, der Stadt, die aus seiner Gründung entstehen wird. Außerdem begegnet er dort der durch Suizid gestorbenen Dido, die ihn jedoch ignoriert. Sie ist noch immer von der tiefen Wunde gezeichnet." (Wikipedia)

Anchises erläutert seinem Sohn die Gegebenheiten der Unterwelt:

"»Endlich kommst du! Die Liebe des Sohnes, erwartet vom Vater,

hat den beschwerlichen Weg überwunden. Ich darf jetzt dein Antlitz

sehen, bekannte Laute vernehmen und Antwort auch geben.[289]

War ich doch fest überzeugt, es werde so kommen, und zählte

sehnend die Tage. Mich trog nicht, trotz quälender Sorgen, mein Hoffen.

Was für Länder und Meere durchquertest du, bis ich dich heute

anschauen darf, und was für Gefahren hast du bestanden!

Was für Befürchtungen hegte ich, Libyen könnte dir schaden!«


Aber Aeneas erwiderte: »Vater, dein trauernder Schatten

ist wiederholt mir erschienen und trieb mich zum Gang in den Orkus.

Im Tyrrhenischen Meere liegen die Schiffe. Die Rechte

gib mir doch, bitte, Vater, entzieh dich nicht meiner Umarmung!«

Während der Worte strömten die Tränen ihm über das Antlitz.

Dreimal versuchte er jenem den Arm um den Nacken zu schlingen,

dreimal entwich den ins Leere greifenden Händen der Schatten,

ebenso leicht wie ein Windhauch, ebenso flüchtig wie Träume.*

(vgl. Odysseus' Versuch, seine Mutter zu umarmen in der Odyssee)

Nunmehr erblickte Aeneas im hinteren Teile des Tales

einen gesonderten Hain, ein Dickicht mit raschelnden Blättern,

und die Lethe, den Strom, der am Lande des Glückes entlangfließt.

Zahllos umdrängten Seelen das Ufer in wimmelnden Scharen,

wie auf den Wiesen bei wolkenlos heiterem Himmel im Sommer

Bienen auf vielerlei Blumen sich niederlassen und weiße

Lilien umschwärmen, die Landschaft erdröhnt vom lebhaften Summen.

Ahnungslos fühlte Aeneas bei diesem Anblick von jähem

Schreck sich durchzuckt, und er fragte, was dort für ein Fluß sich ergieße,

was für Leute in solcher Menge am Ufer sich drängten.

Antwort erteilte Anchises: »Die Seelen, die, göttlicher Weisung

fügsam, erneut sich verkörpern, trinken vom Wasser der Lethe,

schlürfen mit ihm Vergessenheit ein und Freiheit von Sorgen.

Lange schon möchte ich dir von ihnen erzählen, sie zeigen,

aufzählen dir die Nachkommen meines Geschlechtes: Mit größrer

Freude begrüßt du danach mit mir die Entdeckung Italiens.«
[290]

»Vater, so steigen denn wirklich von hier aus etliche Seelen

aufwärts und schlüpfen aufs neue in träge irdische Körper?

Weswegen streben die Elenden derart fanatisch zum Lichte?«


»Darlegen will ich es dir und deine Bedenken zerstreuen«,

gab Anchises zurück und erklärte der Reihe nach alles.

»Geistige Kraft durchdringt seit Beginn den Himmel, die Erde,

sämtliche Flächen des Wassers sowie die Titanengestirne

Sonne und Mond, sie durchflutet als Weltseele nährend die Teile,

treibt die gesamte Materie, verschmilzt mit dem riesigen Ganzen.

Diesem entstammen die Menschen, die Tiere, die fliegenden Wesen,

sämtliche Scheusale unter dem schimmernden Spiegel des Meeres.

Feurige Stärke und himmlischen Ursprung besitzen die Wesen,

werden beeinträchtigt nur von den schwachen, schädlichen Körpern,

werden entkräftet von irdischen Gliedern und sterblichen Leibern.

Daraus ergeben sich Furcht und Begierde, Kummer und Freude.

Düsterem Kerker verfallen, erkennen die Seelen die reine

Himmelsluft nicht. Sogar wenn das Leben erlosch an dem letzten

Tage, verloren die Armen nicht völlig das Übel, nicht restlos

wichen die Seuchen des Körpers. Es müssen in seltsamer Weise

viele lang haftende Schwächen des Leibes auch Wurzeln in Seelen

schlagen. So dulden die Seelen denn Qualen und sühnen durch Strafen

frühere Sünden: Ausgereckt hängen die einen im Luftraum,

Spielball der Winde; anderen werden die Flecken des Frevels

sauber getilgt in tiefen Gewässern oder im Feuer.

Jeder von uns unterliegt der eigenen Sühne. Im Anschluß

schickt man uns in das weite Elysium, wenige freilich,

die wir im Lande der Freude dann wohnen, bis uns der späte

Zeitpunkt nach Ablauf der Frist befreit von dem Schandfleck und unsre

himmlische Seele, das Feuer der reinen Höhe, zurückläßt.

Alle die Seelen hier ruft, sobald sie im Kreislaufe tausend

Jahre erfüllten, die Gottheit in Scharen zum Strome der Lethe.

Ohne Erinnerung sollen sie wieder die Wölbung des Himmels

sehen, den Wunsch zur Rückkehr in Körpergestalten empfinden.« [...]

(Aeneis 6. Gesang)


Das Büßen der Sünden fand Dante also bereits vorgebildet bei Vergil.


Vgl. dazu auch die Unterwelt in der finnischen Mythologie in der Kalevala.

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