28 Juli 2021

Lion Feuchtwanger: Erfolg

 Wikipedia:

"Die Handlung beginnt mit einem angeblichen und einem wirklichen Meineid. Der Kunsthistoriker und Münchner Museumsdirektor Martin Krüger gerät in den frühen 1920er Jahren in die Kritik, weil er mehrere anstößige Gemälde angeschafft und ausgestellt hat. Daraufhin wird er in einem politisch motivierten Meineid-Prozess zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Krüger wird nachgesagt, dass er nach einem Fest einer Dame in ihre Wohnung gefolgt sei, was dieser unter Eid bestritten hatte. Die Verurteilung beruht auf der eidlichen Falschaussage des Chauffeurs Ratzenberger. Dabei ist allen Beteiligten klar, dass es sich um einen Vorwand der konservativen bayerischen Staatsregierung handelt, um den politisch der Linken zuzurechnenden Krüger seines Amtes zu entheben.

In den folgenden Jahren versucht Krügers Freundin Johanna Krain, seine Begnadigung zu erwirken. Zu diesem Zweck sucht sie den Kontakt zu hochgestellten Persönlichkeiten, zu den Politikern, zu den Oberen in Wirtschaft und Kirche und zu der abgedankten Monarchenfamilie. Nach und nach entsteht so ein Sittengemälde des „Landes Bayern“ in jener Zeit. [...]

Feuchtwanger verwendet in seinem Roman oft bairische Dialektausdrücke, um das Lokalkolorit zu erhöhen. Gleichzeitig fingiert Feuchtwanger, der Roman sei aus großem zeitlichen Abstand geschrieben, indem er allgemein Bekanntes erklärt (etwa dass Schiller ein damals bekannter Dichter war) oder indem er von „damals“ spricht, wenn er seine Gegenwart meint. Das Buch ist als historischer Roman für Leser aus dem Jahre 2000 komponiert. In einer Information, die der Autor in der ursprünglich zweibändigen Ausgabe dem zweiten Band vorausstellt, nimmt er die Position großer zeitlicher Ferne ein und formuliert:

„Material über die Sitten und Gebräuche der altbayrischen Menschen in jener Epoche findet sich in einer Zeitung, die damals in einem altbayrischen Ort namens Miesbach erschien; dem ‚Miesbacher Anzeiger‘. Diese Zeitung ist in zwei Exemplaren erhalten, das eine befindet sich im Britischen Museum, das andere im Institut zur Erforschung primitiver Kulturformen in Brüssel.“[2]"

(Wikipedia: Feuchtwanger: Erfolg )

 

Wikipedia: "Viele der Romanfiguren sind erkennbar Persönlichkeiten der damaligen bayrischen Gesellschaft nachgebildet. Als erstes entdeckte das Bertolt Brecht, der sich in dem Ingenieur und Dichter Kaspar Pröckl wiedererkannte."

Der Museumsdirektor Krüger zu zu 3 Jahren Haft verurteilt. Er versucht sich mit einer kunsthistorischen Arbeit abzulenken. Kaspar Pröckl besucht ihn.

"Kaspar Pröckl wurde hereingeführt. Der junge Ingenieur schaute aus tief liegenden brennenden Augen missbilligend auf das Bild des Alonso Kano. [...] Er, Kaspar Pröckl , sah die Aufgabe der Kunstwissenschaft in dieser Epoche in ganz anderen Dingen. Angefüllt von den Theorien des Jahrzehnts, die in der Wirtschaft Basis und Mitte alles Weltgeschehens sahen, war er überzeugt, die Kunstwissenschaft müsse zunächst einmal die Funktion der Kunst in der Gesellschaft in einer sozialistischen Gesellschaft erforschen. Der Marxismus hatte, denn er hatte Wichtigeres zu tun, verzeihlicher Weise keine Vorstellung dieser Funktion geschaffen. Hier lag die Bedeutung der Kunstwissenschaft in diesem Jahrzehnt, dass sie zum ersten Mal seit ihrem Bestehen erlöst aus trockenem Herbarismus, in Verbindung mit der Staatswissenschaft lebendig werden, der Kunst des proletarischen Staates den Boden urbar machen konnte. Er, jung, brennend, volltatwilligen Kunstverstandes, mühte sich, dem Mann Krüger, den er liebte, den rechten Weg zu zeigen. [...] Finster also aus hagerem unrasierten Gesicht zwischen starken Jochbogen starten seine tiefliegenden Augen auf das Bild. Aber er sagte nichts. Kam vielmehr gleich auf den Zweck seines Besuchs. Der Chef der bayerischen Kraftfahrzeugwerke, wo er angestellt war, der Baron Reindl, war ein zuwider Bursche; aber er interessierte sich für Kunstdinge. Er war von großem Einfluss. Vielleicht kannst konnte Kaspar Pröckl ihn dazu bringen, für Krüger zu intervenieren. Der Mann Krüger versprach sich nicht viel davon. Er kannte Herrn von Reindl und hatte den Eindruck, dass der ihn nicht recht leiden mochte. Sehr bald, wie oft bei ihren Gesprächen, gerieten Martin Krüger und Kaspar Pröckl von ihrem unmittelbaren Gegenstand ab, erörterten angeregt Möglichkeiten und Wirklichkeiten der Kunst bolschewistischen Staat. Als die Besuchszeit Kaspar Pröckls abgelaufen war, mussten sie in zwei Minuten eilig das Notwendigste über die Schritte besprechen, die Kaspar Pröckl für Krüger unternehmen sollte

Der junge Mensch gegangen, fühlte sich Krüger ungewohnt frisch und lebendig. Mit einer Handbewegung wischte er die Reproduktion des Bildes vom Tisch. Er brachte einige Gedanken zu Papier, die die Unterredung in ihm geweckt hatte. Das Wichtigste war im natürlich hernach erst eingefallen. Er lächelte: das war kein schlechtes Zeichen. Er schrieb frisch, männlich, überzeugend, wie es ihm selten glückte. Er war so eifrig bei der Arbeit, dass er erst, als der Wärter ihm das Abendessen hereinstellte wieder daran erinnert wurde, wo er war." (S. 69/70)  - [Er war im Gefängnis in Zelle 134.] 


Der Komiker Baltasar Hierl ist nach dem Vorbild von Karl Valentin gestaltet. 

"Auf billige Art geschminkt, die Gurkennase kläglich weiß, zwei feuerrote Clownflecken auf den Backen, klebte er wie eine Fliege auf einem armseligen Stuhl; die hageren Waden aus viel zu weiten Stiefeln herausstelzend, hatte er kunstvoll um die Stuhlbeine gewickelt. Es galt eine Orchesterprobe. Der Komiker Hierl spielte zunächst Geige, aber da der Kollege an der Pauke fehlte, hatte er es übernommen, auch dessen Part zu vertreten. Das war schwierig. Das ganze Leben war schwierig. Es kamen einem harmlosen, friedfertigen Menschen überall Türken dazwischen, und gemeine Ablenkungen, mit denen man sich herumschlagen musste. Da rutschte zum Beispiel dem Kapellmeister die Krawatte, darauf musste man ihn doch aufmerksam machen. Das war schwierig so mitten im Spielen. Man konnte zwar schnell und eifrig mit dem Geigenbogen auf die Krawatte deuten, doch das verstand der Kapellmeister nicht. Man musste also aussetzen. Da kam das ganze Orchester in Unordnung; man musste von vorne anfangen. Da rutschte wieder die Krawatte. Überhaupt war es hoffnungslos, sich zu verständigen. [...] Dazu sollte man zwei Instrumente spielen. Die Hände reichten nicht, die Füße reichte nicht, die Zunge reichte nicht. Es war eine schwierige Welt. Man konnte nur traurig und beschäftigt darin sitzen und wohl auch etwas eigensinnig und verstockt. [...] 

Jetzt aber ging es ganz wild auf, es kam die Ouvertüre zu "Richter und Bauer". Die ging furchtbar schnell, gleich war man aus dem Takt. Allein man war gewissenhaft, man steckte  die weißgeschminkte, bebrillte Gurkennase in die Notenblätter, geriet in einen Strudel, mühte sich, zappelte, versank im Strudel. Die anderen rasten über einen fort: man ließ nicht locker, man arbeitete für sein Geld, arbeitete für drei. [...] Das Publikum schrie, brüllte, tobter vor Lachen, fiel von den Stühlen, japsend, sich an Bier und Speisen verschluckend.
Seltsam, wie vor der simplen Eindringlichkeit dieses Schauspielers hier die Zuschauer gleich wurden. Ihre Einzelsorgen, Einzelfreuden versanken. Nicht mehr dachte Johanna an den Mann Krüger, nicht mehr Heßreiter an die kitschigen, langbärtigen Gnomm und die gigantischen Fliegenpilze seiner Fabrik, der Minister Klenk nicht mehr an gewisse in nächster Zeit vorzunehmende Personalveränderungen [...]. 

Unterdessen schminkte in seiner Garderobe der Komiker Balthazar Hierl sich ab. Mit Vaseline entfernte er das klägliche Weiß von seiner Nase, das giftige Rot von seinen Backen [...]. Leise dabei schimpfte er vor sich hin, das Bier sei nicht warm genug [...]. Man hatte ihm natürlich gesagt, was für prominentes Publikum er heute gehabt hatte, und er, bei aller gespielten Verschlafenheit, hatte  aufmerksam jede Wirkung beobachtet, wütend, wenn der winzigster Teil an der Pointe unter den Tisch fiel. Jetzt schimpfte er auf die Hammel, die sich an ihm ergötzt hatten. Er hatte nichts davon. Glaubte man etwa, dass ihm seine Späße Spaß machten? Einen Schmarren. Er war erfüllt von seiner Vaterstadt München; er sehnte sich nach einer großen Komödie, in der er sich, die Stadt München und die Welt hätte ausdrücken können. Aber das verstanden sie nicht die Zwetschgenschädel, die blöden. Das ließen sie nicht zu."

In Dr. Matthäi zeichnet Feuchtwanger ein wenig schmeichelhaftes Bild des Autors Ludwig Thoma. Dessen, ihm in Hassliebe verbundener, Berufskollege Josef Pfisterer erinnert deutlich an Ludwig Ganghofer. Der Schriftsteller Tüverlin trägt nicht nur Züge Lion Feuchtwangers selbst, sondern auch solche von Thomas Mann. Besonders deutlich wird dies im Kapitel Die Funktion des Schriftstellers im zweiten Buch, als sich Pröckl mit Tüverlin über Literatur streitet und ihm vorwirft, er mache „Sanatoriums-, Winterkurortpoesie“, „während der Planet zerrissen“ werde (eine Anspielung auf Manns Roman Der Zauberberg), und meint: „Während die Welt brannte“, habe er „die Seelenregungen von Haustierchen beobachtet“ (eine Anspielung auf Manns Erzählung Herr und Hund).

Die Funktion des Schriftstellers
"Der Ingenieur Pröckl verlangte von Tüverlin gebieterisch, dass er aktivistische politische revolutionäre Literatur mache oder keine. Hatte es Sinn, während der gewaltigsten Umstellung der Welt läppische, kleine Gefühlchen einer sterbenden Gesellschaft festzuhalten? Sanatoriums-, Winterkurortpoesie zu machen, während der Planet zerrissen wurde vom Klassenkampf? "Wenn einmal gefragt wurde und was hast du während dieser Zeit gemacht?", was hatte man dann aufzuweisen? Verwinkelte nach altemodischen duftende, erotische Spielereien, rein modische, in zehn Jahren nicht mehr begreifbare. Vom Sinn der Zeit hatte man nichts kapiert. Während die Welt brannte, hatte man die Seelenregungen von Haustierchen beobachtet. Schriftstellerei, wenn sie bleiben soll, muss den Wind der Zeit im Rücken haben. Oder eben sie wird nicht bleiben. Dokumente der Zeit machen müsse der Schriftsteller. Das sei seine Funktion. Sonst sei seine Existenz ohne Sinn.
Diese Thesen stellte der Ingenieur Kaspar Pröckl auf, während er in seiner verschwitzten, und zweckmäßigen Lederjacke mit dem Schriftsteller Tüverlin spazierenging auf der Hauptstraße, die von Garmisch-Partenkirchen südwärts führte. Er wurde sehr aggressiv, schrie Herrn Tüverlin seine Forderungen ins Gesicht, mehrmals auskgleitend, manchmal vor einem entgegenkommenden oder überholenden Schlitten in die schmutzigen Schneehaufen des Straßenrandes springend.
Tüverlin hörte ihm aufmerksam zu, ließ ihn ausreden, ließ sogar zweimal eine kleine Pause vorbeigehen, ohne sie zu einer Erwiderung zu benutzen. Dann erst, vorsichtig, setzte er an. Der Herr sehe also die Funktion des Schriftstellers darin, Dokumente der Zeit aufzuzeichnen, zu konservieren, was in der Zeit historisch Geschichte wirkend, wesentlich sei. Aber woher nehme der Herr seine Maßstäbe? Er für seinen Teil zum Beispiel sei nicht so unbescheiden, seine Wertung dessen, was Geschichte wirkend sei, für normativ zu halten. Für noch viel weniger normativ freilich halte eher die Wertung des Herrn. Sei er doch von seiner Geschichtsauffassung so besessen, dass er gar nicht erst bedenke, ob einer nicht außerhalb seiner Kategorien das Bewegungsmoment der Zeit sehen können. Ihm, Tüverlin, zum Beispiel scheine der Zusammenstoß der alten asiatischen Kulturen mit der jungen barbarischen Europas, die durch den erleichterten Verkehr bewirkt der neue Völkerwanderung mit allen ihren Begleiterscheinungen viel wesentlicher als die soziologische Umschichtung Europas. Er müsse den Herrn ernstlich auffordern, das Jahrzehnt mal nicht unter dem beliebten Sehwinkel der ökonomischen Neuordnung Europas anzuschauen, sondern eben unter dem dieser neuen Völkerwanderung und Kulturmischung. Er müsse ihn erst ernstlich auffordern, unter diesem, und nur unter diesen Sehwinkel zu arbeiten. Dies brachte er vor mit seiner gequetschten, etwas komische Stimme, doch nicht ohne Entschiedenheit. Er wollte hinzufügen, so gewiss sich der Herr diese Zumutung entschieden verbitten werde, so entschieden müsse er sich verbitten, dass man ihm die Grundanschauung vorschreibe, aus der er seine Visionen beziehe. Seine Weltanschauung sei für niemanden verbindlich, nur für ihn, aber für ihn sei sie es. Es sei Anmaßung, ihm das bestreiten zu wollen. Er für seinen Teil sei nicht so anmaßend, seine Auffassung des Epochemachenden als verbindlich auch für andere zu erklären. Solche Prätension überlasse er Machtmenschen, Politikern, Pfaffen, Hohlköpfen."  
(S. 248/249 )

"Neben Hitler (Rupert Kutzner)* und Ludendorff (General Vesemann) sind weitere historische Politiker erkennbar. Minister Flaucher verhält sich während des Putsches wie der wirkliche Gustav Ritter von Kahr. In Geheimrat Bichler lässt sich der Landesökonomierat Georg Heim (Bayerische Volkspartei) erkennen. Die Figur des Otto Klenk erinnert an Generalstaatsanwalt Christian Roth. Hinter dem „Kronprätendenten“ oder „Kronprinzen Maximilian“ schließlich verbirgt sich niemand anderer als der Sohn des letzten Bayernkönigs, Ludwigs III., der Kronprinz Rupprecht von Bayern. Er erscheint bei Feuchtwanger als einflussreiche Persönlichkeit, die zu kennen von Nutzen sein kann."

*S.539-544

Vgl. auch: Brecht und Feuchtwanger

25 Juli 2021

Neue Sicht auf 1968

 Richard Vinen:1968. Der lange Protest (Original: "The Long '68: Radical Protest and its Enemies") 

Ich muss feststellen, dass ich zuvor nur sehr vage Vorstellungen von den Vorgängen hatte. Die Flucht de Gaulles hatte ich mit viel länger vorgestellt. Zwei Aussagen scheinen mir bemerkenswert:

"Kurioserweise verstärkten die wenigen Stunden körperlicher Abwesenheit de Gaulles Präsenz. Zum ersten Mal seit Anfang Mai stand er im Zentrum der Aufmerksamkeit. [...] Dieses Mal sprach er im Radio, nicht im Fernsehen, was sich als kluge Entscheidung erwies. Auf dem Bildschirm war de Gaulle unattraktiv [...] Die körperlose Stimme aus dem Radio hatte kein Alter. Sie erinnerte an die berühmte Ansprache vom 18. Juni 1940, als de Gaulle die Franzosen zum erst/en Mal aufgerufen hatte, Widerstand gegen die Deutschen zu leisten." (S.189/90)
Verstärkte Wirkung durch Weglassen/Aussparen.

Eine Parallele von Mendès France und de Gaulle: Mendès France beendete den Indochinakrieg (1954) (und trug bei zur Dekolonisation Marokkos und Tunesiens, ebenfalls 1954), de Gaulle den Algerienkrieg (1958).

Christina von Hodenberg: Das andere Achtundsechzig

"[...] Zuletzt befasst sich Christina von Hodenberg mit "Varianten sexueller Befreiung" (151) und hält fest, dass es "alles andere als klar" (156) sei, wie sich die propagierte sexuelle Revolution auf das reale Sexualverhalten der breiten Bevölkerung auswirkte. Die Verfasserin weist zu Recht darauf hin, dass der "Kampf um die moralische Sauberkeit" (161) in der kirchlichen und konservativen Presse zwar schon lange vor 1968 verloren worden sei, dass aber die linke Politisierung der sexuellen Revolution ebenso wenig "repräsentativ für das Denken und die Praxis der Masse" (168) gewesen sei. Die allmähliche Veränderung sexueller Normen und Praktiken sei als "ein langfristiger Prozess der Liberalisierung" (183) zu verstehen, der sich - mit gelegentlichen Schüben der Beschleunigung - durch das gesamte 20. Jahrhundert zog. Aus diesem Grund - das wird durch die Interviews belegt - stießen die Töchter bei ihren Müttern 1968 auf viel Verständnis, während für die "Generation der über 60jährigen" "vorehelicher Sex noch immer prinzipiell verwerflich" (180) war.

Das Buch von Christina von Hodenberg ist als interessanter Vorschlag zu begrüßen, sich dem magischen Jahr 1968 als einer Chiffre für markante politische, gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen zu nähern. Die Heranziehung neuer Quellen mit bisher wenig beachteten Stimmen außerhalb des männlichen akademischen Nachwuchses bietet wichtige ergänzende Perspektiven auf das Geschehen fernab medial etablierter Narrative, ohne dass allerdings die Geschichte der Jugendrevolte völlig umgeschrieben werden muss." (Axel Schildt)

"[...] Hodenbergs Befunde: Frauen haben 68 wesentlich getragen, einen Generationenkonflikt gab es nicht, die Elterngeneration trug viele Anliegen der Kinder mit, die sexuelle Liberalisierung begann schon Anfang der 60er! [...]"

24 Juli 2021

Bestseller in Deutschland in der Nazizeit

Tobias Schneider: Bestseller im Dritten Reich

"Über die Mentalität der Deutschen während der Jahre 1933 bis 1945 ist schon oft spekuliert worden. Dabei ist es das Problem all dieser Deutungen, dass bereits Umfang und Qualität ihrer Quellen dem Thema auch nicht annähernd gerecht werden. Dieser Beitrag wählt einen ganz anderen, aber höchst plausiblen Ansatz. Mit Hilfe der damals verkauften Bestseller kommt der Verfasser zu überraschenden Ergebnissen, die nicht allein Rückschlüsse auf das Leseverhalten der deutschen Gesellschaft zulassen. [...]
[...] Trotz dieser eindeutigen Ergebnisse ist damit noch längst nicht alles über das Leseverhalten der Deutschen unter der NS-Herrschaft gesagt. Heinrich Spoerl hat in seinem erfolgreichsten Buch, der Humoreskensammlung Man kann ruhig darüber sprechen (1938, 922. Tsd. 1944) selbst konstatiert, dass das Buch „eine üble Eigenschaft" hat, „die weder durch Propaganda noch durch Notverordnung auszuräumen ist: Es kostet Geld. [...] Unsere Zeit hat den Ausweg gefunden: Die Leihbücherei. Es ist vielleicht die Buchhandlung der Zukunft. Ich fürchte, daß es schon heute mehr Leihleser gibt als Kaufleser."81 In der Tat kann diese BestsellerAnalyse nur Aussagen über das traditionelle Kauflesepublikum treffen, nicht über das weniger finanzkräftige Leihlesepublikum oder über die Leser von Zeitungsromanen sowie von Groschenromanen. Eine endgültige Aussage über das Leseverhalten im Dritten Reich wäre nur durch eine Verleih- bzw. Verkaufsanalyse all dieser Lesestoffe möglich."










 

Gertrud Eysoldt, Gertrud-Eysoldt-Ring, Wilhelm Ringelband

Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze,
Drum muß er geizen mit der Gegenwart, 
Den Augenblick, der sein ist, ganz erfüllen, 
Muß seiner Mitwelt mächtig sich versichern, 
Und im Gefühl der Würdigsten und :Besten 
Ein lebend Denkmal sich erbaun – So nimmt er  
Sich seines Namens Ewigkeit voraus, 
Denn wer den Besten seiner Zeit genug /
Getan, der hat gelebt für alle Zeiten." - Friedrich Schiller: Wallensteins Lager, Prolog

„Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze“ – Schillers bedauernde Worte aus dem Wallenstein-Prolog schienen von Bestand für die Ewigkeit. Schnell und spurlos ginge die Kunst des Mimen vorüber, ganz anders als das „Gebild des Meißels oder der Gesang des Dichters". [...] Das 19. Jahrhundert brachte uns die Erfindung des Grammophons und der Fotographie. Walter Benjamins berühmter Essay aus dem Jahr 1936, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, berührt deshalb vor allem zwei Künste: die Schauspielkunst und die Musik. Mit dem Film war es erstmals möglich, die Kunst des Schauspielers für die Nachwelt festzuhalten, und sie unabhängig von der Produktion für das Publikum jederzeit abrufbar zu halten.

(Deutschlandfunk 20.5.2007)

Gertrud Eysoldt 

"Gertrud Franziska Gabriele Eysoldt, auch Gertrud Martersteig und Gertrud Berneis (* 30. November 1870 in PirnaKönigreich Sachsen; † 5. Januar 1955 in OhlstadtOberbayern) war eine bedeutende deutsche Theaterschauspielerin und Schauspiellehrerin in Berlin [...]"

Gertrud-Eysoldt-Ring

Der Gertrud-Eysoldt-Ring ist ein seit 1986 jährlich im Gedenken an Gertrud Eysoldt vergebener Theaterpreis, den die Stadt Bensheim gemeinsam mit der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste für herausragende schauspielerische Leistungen vergibt. Er wird jeweils im Frühjahr des darauf folgenden Jahres vergeben. Der Preis wurde von dem Theaterkritiker Wilhelm Ringelband gestiftet und ist mit 10.000 Euro dotiert. Anlässlich der Vergabe des Gertrud-Eysoldt-Rings wird auch der Förderpreis Kurt-Hübner-Regiepreis verliehen. [...]"

Wilhelm Ringelband 

"Wilhelm Ringelband (* 7. Oktober 1921 in Frankfurt am Main; † 11. Oktober 1981 in Bensheim) war ein deutscher Theaterkritiker, der heute vor allem als Stifter des Gertrud-Eysoldt-Rings bekannt ist.[...]"

Für Schauspieler gibt es jetzt also den Gertrud-Eysoldt-Ring, für Regisseure den Förderpreis Kurt-Hübner-Regiepreis und für den Theaterkritiker Wilhelm Ringelband?

Ringelband wird am 24.7.2021 in der Zeitungsserie "Die Besten der Bergstraße" geehrt.

23 Juli 2021

Will, Bernward und Guntram Vesper

 Zuordnung und Unterscheidung

Will Vesper, bekanntester Roman: "Das harte Geschlecht", Nacherzählung u. Nachdichtung mittelhochdeutscher Epen (Hartmann von Aue: Lieder, Der arme Heinrich (Nachdichtung), 1906;Tristan und Isolde (Nacherzählung); Parzival (Nacherzählung), 1911; Nibelungensage (Nacherzählung), 1921; Gudrunsage (Nacherzählung), 1922.

Von ihm liegt mir ein handschriftlicher Brief vor









Will Vesper Herausgeber den "Neuen Literatur" z.Zt. [unleserlich] Ostpr[eußen] Meißen Badgasse 2 Fernsprecher: Meißen 3345  
 Sehr geehrter Herr, ich erhielt hier im äußersten Osten des Reiches Ihren freundlichen Brief. Ich bin auf Vortragsreise und täglich an anderem Ort, kann also nur ganz kurz auf Ihr Schreiben eingehen. Der kleine Aufsatz von Janke [?] ist wirklich unreif und schwätzerisch. Einfache [unleserlich] des Baccalaureus ist wieder einmal Mode. "Am besten wär’s euch zeitig tot zu schlagen. Mit 30 Jahren ist man schon halber tot." usw. Gewiß: Alter schützt vor Torheit nicht, heißt es, aber Jugend auch nicht unbedingt. Man muß die Deutschen sich ruhig ein Weilchen "erdräusten" lassen und hoffen daß der Most, der sich so absurd gebärdet, zuletzt doch noch n' Wein wird. Überhaupt aber muß man sagen, was immer die Jugend von heute, daß solche frechen Dummköpfe, die sich vordrängen und wichtig machen, durchaus nicht das Recht haben im Namen der Jugend zu sprechen. Ich werde dazu einmal etwas Grundsätzliches in der N. L. [Neue Literatur] sagen, ohne den Janke im Besonderen wichtig zu nehmen. Das Programm Jankes ist nur gefährlich für die [3 Namen] und so weiter, weil diese "totale Mobilmachung" nach kurzer Zeit der Jugend zum Hals heraus hängen wird und sie dann die Dichter und Schriftsteller, mit denen man sie gewaltsam überfüttert, nicht mehr wird riechen können. Also – auch hier sehe ich für echte Dichtung keine Gefahr. Im besten Kern unseres Volkes kann ohne die echte Dichtung nichts leben. Und könnte er es ein Weilchen, so wäre auch das kein Unglück. Eine echte Dichtung ist eine starke unzerstörbare Strahlenkraft, die still und unentrinnbar in den Kern des Volkes wirkt. Jeder von uns aber helfe, dass unserem Volk und unserer Jugend der Weg zur rechten deutschen Dichtung immer wieder gewiesen werde, der Weg zur reinen Quelle echten deutschen Geistes. Trinken werden schon von selbst alle, die Durst haben und eine Quelle finden. Heil Hitler! Ihr Will Vesper

Bestseller in Deutschland in der Nazizeit Will Vesper auf Platz 18

Bernward Vesper Sohn von Will, Lebensgefährte von Gudrun Ensslin (Rote Armee Fraktion)

Hauptwerk: Der "Romanessay" Die Reise ("wertvolles Zeitdokument der 68er-Generation. Vesper setzte sich darin u. a. mit seinem Vater, dem Nazi-Dichter Will Vesper, und seiner ehemaligen Lebensgefährtin Gudrun Ensslin auseinander." -Wikipedia"

"Und dann gab Joseph Göbbels er seinen Kindern Gift, dann erschoss er seine Frau und sich und im Garten der Reichskanzlei schlugen, neben den brennenden Geheimakten, die Flammen über ihm zusammen und auf Berlin hämmerte die russische Artillerie, ganz Deutschland ein Feuermeer, holladihi! Wenn wir abtreten müssen, dann werden wir den sagt Deckel zuschlagen, dass es an den Westen des Himmels wieder halt! Ende. Sollten die deutschen unwürdig der Ihnen aufgetragenen geschichtlichen Mission, zu sehen, wie sie allein fertig würden, führerlos.

Und dann, nach dem pünktlichen Abendessen, während meine Mutter in der Küche und der Geruch angebrannten Lebkuchens durch die Flure zog, lag er auf dem durchgesessenen Biedermeiersofa, das Weinglas in der Hand, die Linke an den Eiern (Prostata). (S. 451/52)

"Wir richten den Blick nicht auf die Geschenktische, sondern verharren schweigend, in die Betrachtung des Baumes versunken. Die erzgebirgischer Klingelei läutet. Wir singen jetzt 'Stille Nacht', ein Lied, das wir uns für diese Stunde aufgespart haben. Dann greift mein Vater, der mit dem Rücken zum Baum, im unteren Teil der Halle steht, zur Bibel, einer Fassung für die Jugend, die er selbst bearbeitet hat. Während er liest, läuft in meinem Kopf der Originaltext "mit Maria, seinem vertrauten Weibe. Und als sie..", "und die war schwanger", denke ich. (Und die Hirten auf dem Felde, ihre wehenden Mäntel, die Eiskruste in den Bärten, und die Schafe stehen bis zu den Zitzen im torfigen Schnee.)
Kühle Luft kriecht in die weiten Hosenbeine meines schwarzen Tanzstunden- und Konfirmationsanzusg, die Heizungen sind abgestellt, der Baum darf nicht frühzeitig nadeln.(S. 459)

"Und während ich sang, dachte ich an das Gedicht, das mein Vater dem Führer gewidmet hatte, Fühl unsere Herzen schlagen, wie in Dein Herz gebannt und wage, was du mußt wagen, wozu dich Gott gesandt, und ich merkte, wie wir alle, die wir hier standen, in eins verschmolzen, das können Sie uns nicht nehmen.. (S. 460)

"Das Christentum zu bekämpfen war ein Fehler der Partei", sagte mein Vater. "Man kann nicht das alte deutsche Weihnachtsfest in ein heidnisches Lichtfest zurück verwandeln. Diesen Fehler haben Rosenberg und Bäumen zu verantworten. Der Führer selbst war religiös, schon aus Ehrfurcht vor seiner Mutter, die eine fromme Frau war. Bormann war überhaupt in allen Dingen der böse Geist des Führers, der ihn zum Schluß sogar verrät. Der Führer hat von alledem nichts gewußt." (Was war das für ein Führer, der diese Verräter um sich herum nicht durchschaute?) "Luther und Bach waren Christen – waren sie keine guten Deutschen?" rief er, "ich habe schon 1935 mein "Bekenntnis" zum Christentum veröffentlicht. Dafür bin ich angefeindet worden. Ich habe ein Parteiverfahren gegen mich beantragt, denn im Programm steht, die Partei steht auf dem Boden eines positiven Christentums, man hat das Verfahren abgewürgt. Und was haben die Herren Widerständler getan, die mich heute wieder verfolgen?" Tränen traten ihm in die Augen, wenn er Musik hörte oder seine eigenen Gedichte vorlas. "Übrigens", sagte er, "Luther und Bach stammen aus denselben Dörfern wie die Vorfahren meiner Mutter, es ist gut möglich, daß wir mit ihnen verwandt sind." (S. 462)

LSD kann eben so wenig zurückgenommen werden wie die neunte Sinfonie. (S. 505)

mehr dazu

Guntram Vesper, geboren 1941 in Frohburg in Sachsen. Hauptwerk: Frohburg

Rezensionen bei Perlentaucher

Über die Rezension der Süddeutschen Zeitung: "Tausend Seiten Bewusstseinsstrom verspricht Rezensent Helmut Böttiger mit Guntram Verspers neuem Roman "Frohburg", der ihn an epochale Werke wie Uwe Johnsons "Jahrestage" erinnert. Autobiografische Aspekte wechseln sich mit fiktiven ab, essayistische, analytische und erzählerische Passagen gehen Hand in Hand, informiert der Kritiker, der sich gebannt und atemlos dem assoziationsreichen Erzählfluss hingibt. Er erlebt mit Vesper in dessen Herkunftsort "Frohburg" grausame Racheaktionen der sowjetischen Besatzer in den vierziger Jahren, liest von dessen Flucht im Jahre 1957 nach Westdeutschland und lauscht Aufnahmen des Rilke-Gedichte rezitierenden Will Quadfliegs. Gelegentlich versinkt der Rezensent ganz hingerissen in bild- und sprachgewaltigen Passagen, etwa wenn er mit dem Autor durch das Erzgebirge streift. Vor allem aber bewundert Böttiger jene Stellen, in denen Vesper über Literatur sinniert und so kann er dieses ebenso "sinnlich-pralle" wie feinsinnige Buch nur unbedingt empfehlen."

Vorstellung einer Textpassage aus Guntram Vesper "Frohburg"

Der Erzähler ist vom Berghotel ("Banff Springs Hotel") aus etwas aufgestiegen und wurde dann von einem Raben angegriffen und am Kopf verletzt. Am unteren Rande der Lichtung entdeckt er einen Dickhornwidder, der von etwa 20 Rabenvögeln angegriffen und "abgehäutet und seziert, zerschrotet" (S. 435) wird. Vom Hotel aus geht er schnell zur Bahn und trifft nach der Ankunft in Vancouver auf den Esten aus dem Hotel. Dieser ist sein Gastgeber im Auftrag des kanadischen Schriftstellerverbandes. Nach seinen Erfahrungen mit ihm fürchtet er sich, und es gelingt ihm nur mit Mühe einzuschlafen. (Seite 434-36)

Zitat:
"Ich träumte von den Krähen, Raben, Dohlen auf der Banffer Lichtung, mein Klassenlehrer der neunten und zehnten Oberschule Klasse in Geithain, Schnupprich  genannt, tauchte plötzlich neben mir auf, mit einemmal stand er vertraulich dicht bei mir im Hochwald, sah mich nach der Lichtung und dem angefressenen 
Dickhornwidder spähen und sagte, nun kapiert doch endlich mal, daß das gesunde Volksempfinden eine starke Kraft sein und Recht haben kann, wer wie das Dickhornschaf da drüben unterliegt, er sagte unterliegt, ich weiß es genau weil ich es gleich nach dem Erwachen aufgeschrieben habe, das Schaf lag ja auch wirklich unten, wer unterliegt, ist nicht wert weiterzuleben. Hoppla, dachte ich im Traum mit der alten Reserve, die ich schon 1957 ihm gegenüber gehabt habe, ein Kleinbürger mit / Eltern, die ein Haushaltswarengeschäft am Geithainer Markt hatten, will in den neulackierten mitteldeutschen fünfziger Jahren nicht anecken, er paßt sich an und spricht doch, wenn wir unter uns sind, wie Adolf in seinen Tischgesprächen, achtundsechzig als Taschenbuch von dtv unter die Leute gebracht, dem Volk mit fünfundzwanzigjähriger Verspätung bekannt gemacht, was der Mann gedacht hatte, als er an der Ostfront das besetzte Europa hinter sich, vier lange endlos lange Jahre gegen Stalin, dass politische Genie, wie er sagte, kämpfen ließ. Hitlers Gequassel im Kreis seiner Entourage interessierte mich bei Erscheinen nicht, wenn man sein Agieren kannte, war das Schwadronieren von nachgeordneter Wichtigkeit, [...]" (S. 436/37)

22 Juli 2021

Sigrid Damm: Vögel, die verkünden Land

 Sigrid Damm: Vögel, die verkünden Land

Von G. bekam ich eine Biographie von Lenz, dem Freund Goethes aus der Straßburger Zeit und dem Gegenstand von Büchners Erzählfragment. Sie zeichnet ein Bild der Zeit, das mich auch Goethe viel plastischer und wirklichkeitsnäher sehen läßt. Goethe, der mit dem jungen 18jährigen Herzog zunächst einige Monate allerlei genialischfreundschaftliche Fest- und Urlaubsaktivitäten betrieben hat, läßt sich dann zum Minister machen. Seine Hoffnungen auf - realistisch betriebene - Reformen erfüllen sich freilich nicht. Er bleibt im klein klein stecken und wird nach zehn Jahren mit der italienischen Reise die Fesseln abwerfen. Alle Selbstverleugnung, etwa daß er für Friedrich den Großen persönlich Rekruten aushebt, um zu verhindern, daß die preußischen Werber ins Land kommen, hat ihm letztendlich nicht geholfen. Während er als Soldatenwerber herumzieht, schreibt er die Iphigenie. "... es ist verflucht, der König von Tauris soll reden, als wenn kein Strumpfwürker in Apolda hungerte". Lenz läßt sich nicht auf das Spiel ein, das Goethe später auch aufgeben wird. Als Goethe seine Stelle annimmt, geht er in das Nachbarstädtchen Berka. Da bleibt ihm die Rolle des armen Poeten. Als solcher verbringt er auch Wochen auf dem Landgut Kochberg bei Frau von Stein, während deren Mann und Goethe in Geschäften in Weimar, Ilmenau usw. sind. Goethe gegenüber Lenz von Mitleid, aber auch von etwas Eifersucht bestimmt. Später kommt es dann dazu, daß Lenz Goethe beleidigt und Goethe dessen Vertreibung aus Weimar betreibt. Alle Fürsprache der Freunde, die Lenz am Hof hat (u.a. Herzogin Amalia) hilft ihm nicht gegen den Favoriten des regierenden Herzogs. Worin die Beleidigung bestand, wissen wir nicht. Vermutlich hat sie sich darauf bezogen, daß Goethe sich zum Fürstendiener gemacht hat. Wir wissen nur, daß Wieland Lenz in einem Brief aus Weimar in Schutz nimmt. Goethes Briefe an Lenz hat Goethe zurückgefordert, über Frau von Stein dann auch erhalten und offenbar verbrannt, außer Wieland schweigen alle am Hof über diese Affäre. Lenzens Reformpläne gingen weiter als die Goethes. Er hoffte freilich noch auf den Erfolg von Denkschriften. Büchner wird später - nach der französischen Revolution - sich zusammen mit Weidig direkt an die Bauern wenden. Freilich auch er vergeblich und schon früh in der Erkenntnis, daß es vergeblich sein wird. Die geistige Nachbarschaft von Büchner und Lenz scheint nach dieser Biographie (Sigrid Damm: Vögel, die verkünden Land) doch recht groß. Insgesamt sagt mir das Buch noch mehr als der vor Weihnachten im Fernsehen gezeigte Film über Lenz. Freilich, ohne den Film hätte G. gar nicht etwas über diese noch in DDR-Zeiten geschriebene Lenzbiographie erfahren. (gelesen zwischen 1992 und 1998)

nebenbei: Alle Arbeiten von Sigrid Damm, die ich gelesen habe, haben mir gefallen. Am besten in Erinnerung: Christiane und Goethe.

Ergänzend (2016):

"Schwierig freilich bleibt der Pfarrersohn aus dem Baltikum auch für den an ihm Interessierten, der sich um eine differenzierte Sichtweise bemüht. Allein der Verlauf seines Lebens und sein Selbstverständnis unterscheiden Lenz auffällig von den anderen Stürmern und Drängern, die allesamt über kurz oder lang annehmbare bis glänzende Karrieren machten. Lenz fehlte hierzu im Grund jeglicher Impuls. Als sein ebenso engstirniger wie ehrgeiziger Vater (1759 Oberpastor in Dorpat, seit 1779 Generalsuperintendent für ganz Livland in Riga) ihm befahl, bis Michaelis 1771 das Theologiestudium an der Königsberger Universität abzuschließen, entzog sich Lenz dieser Anweisung. [...]
Symptomatisch läßt sich gerade an dieser hellen Phase ablesen, in welchem Ausmaß Diskontinuität, Zufall, Fixierung und der allumfassende Goethebezug Lenz‘ Leben und Schaffen bestimmten. Nicht in schrittweiser Entfaltung, sondern in einem gewaltigen Schub gelangten in einem einzigen Jahr vier zentrale Werke unterschiedlicher Ausrichtung zum Druck. 1774, also im Erscheinungsjahr von Goethes Sensations- und Erfolgsroman  Werther, wurden die beiden Komödien Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung und Der neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi, ferner die grundlegende theoretische Abhandlung Anmerkungen übers Theater und schließlich die wichtigen Übertragungen Lustspiele nach dem Plautus gedruckt. Alle anonym! Als ihr Verfasser galt gemeinhin Goethe." (kulturportal-west-ost)

Lenz Anfang März 1776 von Straßburg aus an Heinrich Julius von Lindau
(Lenz ist als Soldat bei den englischen Truppen im Kampf gegen die 13 Kolonien)

"In der Magna charta von England steht kein Wort vom Unterhause. Nur durch das Geld das sie dem König Eduard stießen brachten sie es bei ihm dahin.
Auch werden es die Kolonisten nicht lange machen alles rüstet wider sie und das Geld wird ihnen in die Länge auch schon fehlen. Schreibt aus Amerika an mich wenn Ihr Euren Peter verlangt kann er künftiges Frühjahr ein wenig gescheuter mit den Schiffen zu euch kommen. 
Greven ist bei Euch, grüßt ihn feurig wenn er mich gleich nicht leiden kann." [Nachtrag vom 16.7.18]


Erich Loest: Nikolaikirche

 Erich LoestNikolaikirche

Meine Notizen nach der Lektüre (17.4.1998) :

- anonymer Brief zeigt den moralischen Unterschied zwischen Bleibenden u. Protestierenden einerseits und Fliehenden, Ausreisewilligen andererseits, allerdings überspitzt zuungunsten der Ausreisewilligen. - moralisch ist das Verhalten der Angepaßten bei kritisch Angepaßten in unserer Gesellschaft angesiedelt zwischen: Karrieristen in der SED,  Mitläufern in der SED u. informellen Mitarbeitern Ausreisewilligen, wenn man allein die Opferbereitschaft zum Kriterium nimmt. Das Verhalten der Friedensgebetler ist am ehesten Greenpeace-Aktivisten bei uns zu vergleichen: Erkannt haben, was falsch ist und unter persönlichen Opfern etwas dagegen tun. - 

Allerdings ist zu berücksichtigen, daß die DDR ganz andere Mittel eingesetzt hat. Der Karrierist mußte also weit schlimmere Mittel akzeptieren als in unserem Staat. Allerdings läuft auch bei uns einiges schief. Wenn man nicht politisch mit hohem Engagement dagegen arbeitet, ... {Regimekritiker, die bleiben, vgl. Bonhoeffer, Ausreisewillige mit Emigranten - freilich wieder ein unterschiedlich grausames Regime) Haltung zur Politik: Idealismus: Ziele billigend, unbeabsichtigte Folgen übersehend Realismus: Ziele billigend, Folgen in Kauf nehmend moralischer Rigorist: Ziele heiligen keinerlei problematische Folgen 

Urteil heute (22.7.21): Atmosphärisch sehr überzeugend.

"zugeführt" (S.213) offenbar DDR-Deutsch für "festgenommen"

Episode, wo sie zu viert unterwegs sind und Jörg filmt. Kurzfristige Festnahme, Sorge, doch der Film zeigt keinerlei sowjetische Militäranlage. Sie erhalten ihn aber nicht wieder. Er sei beim Entwickeln von ungeübtem Personal versehentlich "verdorben worden" (S.215)

21 Juli 2021

Vischer: Auch Einer - Letzte Begegnung in Assisi

 "Die Fresken im Kloster draußen großenteils verdorben; monochrom. Erhalten eigentlich nur eines der Seitenbilder: der Leichnam des heiligen Franziskus, umgeben von trauernden Mönchen und Volk. Der Meister, schwerlich Crescenzio, hat die streng auf die Sache losgehende Art des Giotto. Schmerz, andächtig rührungsvolles Schauen in die stillen Züge des Toten, diese Affekte in ihrer Einfachheit, ohne Zusatz feinerer Mischung, aber auch ohne abflachende Rundungen, und nur um so ergreifender. Die ausgewachsene Kunst füllt Formen und Ausdruck, spielt aber stets an der Grenze hin und über sie, wo das fühlbare Zeigen ihres Könnens beginnt. An der vollen Krone des Baums, der in Sommersmitte prangt, findet man immer schon einige welke Blätter. – Eigentümlich hat mich der tote Franziskus berührt, der tiefe Friede in seinen hageren Büßerzügen. Was ist es, worin er liegt? Ein gläserner Sarg? Nicht mehr zu erkennen. – Als Ort wird Assisi zu denken sein. –

*

Jetzt weiß ich, wohin! – Der Fremde im Rückweg lange schweigsam. Ich auch. »Die Bilder,« beginnt er endlich, »haben mich seltsam ergriffen, – auch darum, weil die Szene, die wir zuletzt gesehen, in Assisi vorzustellen ist. Ich habe eine traurige Nachricht: der Tod zielt jetzt eben in meine Verwandtschaft.« – Er nennt mir seinen Namen, sein Vaterland Schweden, seinen Heimatsort Gotenburg und seinen Stiefbruder – Erik. Dessen Witwe, ein Juwel aller Frauen, liege todkrank nieder in Assisi. – Zu Schiff, zu Schiff!

*

Neapel. So weit wär' ich. Der Seesturm überstanden, ich wußte gut, daß er mir nichts anhaben könne. Das Dampfschiff gilt für altersschwach, es müsse noch dienen, solange es halte; der Kapitän stand immer an der Maschine, sah hinab, horchte, ob sie noch gehe. Bald alles seekrank außer mir und der Bedienung des Fahrzeuges. Halte mich am Mast und schaue und höre. Ton durchaus wie von Millionen Trommlern, die mit anwachsender Schlaggewalt zum Sturme wirbeln, immer wieder von vorn beginnend. Womöglich furchtbarer das dünne, schneidend scharfe Pfeifen des Winds in den Tauen, wie wenn einer auf der schermesserschmalen Kante von Papier pfeift, – dies ins Unendliche gesteigert. Wogen – eine Welt; nicht jede gelingt, die gelungenen herrlich in der Linie ihrer Hohlkehlen und Roßhalsrücken, drüber die Schaummähnen, die der Sturm flockig hinausbläst. Wälzt sich eine heran, man meint jedesmal, sie müsse das Schiff umstoßen oder überflutend begraben, doch sie nimmt es auf ihre Schultern, dann schießt es ins nächste Wogental hinab. Welches Brausen und Donnern! Kann sonst den Wind nicht ausstehen; so gefällt er mir, wie neulich in Sorrent auf der Klippe: wenn einmal doch, dann auch recht! – Weinen, Jammern, Beten ringsum. Ich lasse mir stark den Syrakusaner munden; der Kellner preßt sich, um einschenken zu können, an Mastbaum oder Wand, wenn ich dann nicht schnell trinke, ist der Wein fort, als schlüge jemand mit Gewalt unten ans Glas. Nacht, unmöglich oben zu bleiben, ich muß hinab in meine Koje und wie ich entkleidet bin, beschleicht mich eine kurze Anwandlung von Feigheit. Was doch Kleider, namentlich Stiefel, ein Gefühl von Halt geben! – Da unten ist's unheimlich; an der Schiffwand höre ich mitten unter dem dumpfen Brummstoß der Wellen und dem Aechzen aller Rippen des hohlen Baues manchmal etwas wie Saugen und Gurgeln, als lutschten da draußen die Mollusken so vorläufig am Holz in Aussicht auf bessere Speise. Auf der Treppe sitzt ein großer, schöner Kerl mit langem Bart, in flotter Uniform, Leibjäger irgend eines vornehmen Herrn, und weint wie ein Kind; – vielleicht ein andermal beherzt; sind halbantike Menschen, lassen alles heraus. [...] – Gegen Morgen ermattet die Sturmwut; man kann auf das Verdeck, doch als ich mich auf einen Feldstuhl gesetzt und eingenickt, rollt mich ein Ruck wie eine Kugel das Verdeck entlang. Hat mich gefreut, daß ich wieder hell lachen kann. – Der Sturm mit all seinem Lärm ist mir ganz still vorgekommen im Vergleich mit dem höllischen Traum, mit dem stummen Brüten in der Luft, das den Larven voranging, und mit ihren Hohnrufen.

*

Rom. Nur eine Wanderung hier über das Kapitol hinaus. Morgen vorerst Perugia. – Dum Capitolium scandet cum tacita virgine pontifex. Horaz hatte doch Momente. Cum tacita virgine – begleite mich, Bild der priesterlichen Jungfrau – mit ihren, ihren Zügen! – Ueber das Forum hinaus ein Stück in die Campagna, an diesem stillen Abend im Mondschein. Mein Leben wird Vergangenheit, es ist müdes, weiches Verdämmern ohne Empfindungsschwäche. Tiefes Weh nur, wenn ich vergleiche. Trümmer von so großem – und mein Dasein niemals mit vollem Band an großes geknüpft. Schäme mich vor den Geistern, die hier schweben. Horaz kann sich doch wenigstens rühmen, das äolische Versmaß der lateinischen Sprache angeeignet zu haben. Aber die Männer, die Helden! Und ich? Ja einmal, einmal, da wollte es werden, habe gekämpft für ein Vaterland. Kurzer Traum! – Ihr Gewaltigen habt Reiche besiegt, habt die Welt beherrscht.

Wohl seh' ich auch im Geist, wie blondlockige Gotenscharen dort auf den Palatinus hinaus und ins Kolosseum dringen und die Mauern brechen. Alte Geschichten. Mein Deutschland schläft wieder, nachdem eine Halbheit auf zweifelhaften Wegen zustande gekommen. Man muß auch das lernen: hingehen, ohne ein Vaterland erlebt zu haben. Gefaßt, ganz gefaßt. Und so wird's wieder ruhig in mir, sanft. Ich fange eure Größe ein in süßem Diebstahl, ihr Trümmer, atme Heldenluft in großer Stille.

*

Was haben die deutschen Künstler da drin im Café Greco? Haschen heftig nach den Zeitungen. Wird auch der Mühe wert sein! – Mich kümmern keine Neuigkeiten mehr.

*

Perugia. Es ist so, sie liegt drüben in Assisi; man hat sie in die freiere Bergluft gebracht, zur Muhme Cornelia. Ihr Vater, ihre Söhne bei ihr. Habe an ihn geschrieben, ob ich erscheinen darf. Mir war nur still und feierlich zumute: jetzt bin ich nicht mehr so ruhig. Mutarm, schwer, bang, daß mir fast Arm und Fuß den Dienst versagt, bis Antwort da ist. – Stehe wieder vor dem Geburtshaus ihrer Mutter, verwechsle sie immer, und wenn ich da nach der Loggia hinaussehe, sehe ich statt ihrer Cordelia als Kind dort zwischen den Oleandern herabschauen.

*

Man erwartet mich, soll kommen, schnell. Mir wird schon leichter. Ich darf.

*

Es ist gewesen. Es ist. Ja, wie dort auf dem Bilde des Kölner Meisters die heilige Jungfrau, so umgeben von Weinenden, Vater, Kindern, so lag sie. Und auch wie der selige Geist im blauen Lichtmeer der verklärten geheimnisvollen Grotte.

*

Kniend an ihrem Bett – sie weint – weint sie auch um mich? – Es gibt Krieg, sagt sie. – Ich wußte nichts von der Welt draußen. – Der Vater bestätigt: Krieg Deutschlands mit Frankreich. – Ist die Stunde wieder da, wo in Christiania – ihr Aufruf –? Sie mahnt nicht, diesmal nicht. – In mir Entschluß, augenblicklich. Nun weiß ich meinen Weg, sage ich, – sie schweigt, sie weint, reicht mir die Hand, die weiße, bleiche, – hebt sie, nachdem ich sie lang gehalten, und legt sie auf mein Haupt, segnend, Worte flüsternd, unhörbar, meine Tränen strömen, – sie bedarf Ruhe – Leb wohl! leb wohl! – Ein sanftes »wohl« kann ich noch vernehmen – ein Blick ruht auf mir – ich werd' ihn ewig sehen. Und du, Erik! – dein Geist über uns – ich sah ihn freundlich nicken. – Ja, ja, nun weiß ich meinen Weg. –

*

         

Der Erdenstoff verzehrt sich sacht und mild,
Bald ist's vorbei und du bist ganz nur Bild!
Du schwebst hinweg, schon strahlen wie von ferne
In fremdem Glanz der Augen milde Sterne.

Sei, Bild, mein Schild, solang der heiße Tag
Mich noch umtost mit wildem Stoß und Schlag!
O senke, steigt der dunkle Zorn mir wieder,
Auf mich herab die träumerischen Lider.

Die Blicke, die, dem reinen Kinde gleich,
Nicht wissen, wie so gut sie sind, so weich!
Ganz Geist, kannst du nun allerorten leben
Und auch zu mir, dem Umgetrieb'nen, schweben.

Vielleicht ist doch in nicht zu ferner Zeit
Ein bleibend Haus zur Rast für mich bereit.
Dann schwinge sanft um meinen Totenhügel
Am stillen Abend deine Geisterflügel.

*

Hier endigt das Tagebuch. Weitere Aufzeichnungen haben sich nicht gefunden; nur die Tage der Schlachten jenes Sommers sind noch eingetragen, zuletzt der Entscheidungstag von Sedan.


Vischer: Auch Einer - ein Traum

 Der Traum dieser Nacht sei aufgezeichnet, schnell, bevor er sich verwischen kann! So gut ich's vermag nach so viel Grausen, Beben und Entzücken. Ich wandle wieder auf dem Korso. Der Himmel wie neulich in Pästum. Die schwere Wolkenwand sinkt herab und schließt den Spalt, durch den man dort die Abendsonne im trüben Schirokkogelb leuchten sah. Nacht. Die Begegnenden sehen sich nicht mehr. Schwül und schwüler, endlich fast zum Ersticken. So muß es in und um Pompeji gewesen sein, als der alte Plinius den Atem aufgab. Jetzt langsam wächst eine Ziegelröte über den Himmel, geht in feuerrotes Glanzlicht über. Stille, todesbang. – Horch, welcher Ton? Man hört ein wehendes Blasen, etwas wie ein Fegen, es wird zu einem lauten und lauteren stürmischen Speien, jetzt knallen Donnerschläge dazwischen – jetzt wankt zuckend die Erde unter mir – ich schaue um und auf, der Monte Pelegrino hat sich in den Aetna verwandelt, offen ist die fürchterliche Esse, glutrot fährt die Lohe aus der Unterwelt empor, und rings am schrecklichen Geisterberge schlängeln sich Lavabäche zu Tal und verlöschen zischend im flammenden Gewässer des Hafens. [...]

– was hebt sich aus dem Krater empor? Ein Drachengespann – es reißt hinter sich einen Wagen aus dem Schlund – er scheint leer – dann richtet sich ein Schatten in ihm auf – jetzt schwebt er wie auf sicherem Boden in ebener Linie durch die Lüfte – herwärts der Stadt, meinem Standort zu, – ist das nicht etwas wie eine weibliche Riesengestalt, was aus ihm emporragt? – – der Wagen senkt sich – schwebt sinkend näher und näher – deutlicher im schwefligen Glut- und Blutschein wird die Lenkerin des Drachenpaars – Augen wie Fackeln brennen aus ihrem Antlitz – ihre Locken sind von Gold, ringeln sich aber wie Schlangen, blaue Funken knistern aus ihren Spitzen – jetzt wankt mir der Mut, ich denke an Flucht, die Beine sind mir lahm, angewurzelt stehe ich, denn das ist ja – sie! sie! das Weib, das mir die Seele ver– der Wagen hält in Lüften – ein Blick – was für ein Blick! Ich kenne ihn! – trifft mich, streift dann über die Köpfe der Menge hin –; sie wirft stolz ihr Haupt auf und erhebt die Stimme, – es ist der Ton, mit dem sie einst jene Stellen des Olaflieds sang, woraus es hervorklang wie Mitleid und Hohn zugleich, – nur lauter jetzt, greller, ein Herrscherton – so mag einst Libussa ihre Schlachtbefehle gerufen haben – »Adoratemi! Sono la santa Rosalia!« Das Volk starrt sie an, dann rufen Stimmen: Auf die Knie! Seht ihr das Kreuz auf ihrer Stirn? – und alles sank auf die Knie. Ich sehe hin nach ihrer Stirne und erkenne mit Grausen – – »Betet nicht an! das ist kein Kreuz! schaut besser hin – eingeätztes Bild eines Dolches!« – Das entsetzliche Weib wendet den Blick wieder nach mir und herrscht mir jetzt griechische Worte zu: »Ἄνω τὴν κεφαλὴν! Βλέπε ἄνω!« Ich schaue über ihr Gorgonenhaupt hinweg, hinauf nach dem speienden Krater. Da fliegt wie eine Rakete emporgetrieben ein schwarzer Körper zwischen den Flammengarben auf, hält dann im Schweben still, fängt an mit den Beinen zu gaukeln, zu zappeln, wie ein Hampelmann, tanzt baumelnd, sich überschlagend eine Weile in den Lüften, kugelt dann abwärts und herwärts, immer näher, bis er über meinem Haupte flattert, und beginnt nun mit kreischender Stimme zu stottern: »Gu– gu– guck mich an!« Ich lache, doch verzwungen und angstvoll, und rufe: »Du bist der Stotterer vom Theater S. Carlin in Neapel!« »Oho, oho,« stammelt es jetzt, »wie du– du– dumm! Ich bin ja der Pla– Pla– Plato! Kann auch pfei– pfeifen!« – Er pfiff, der schrille Ton ging in eine Schelmenmelodie über, und es war jetzt, als pfiffen zwei Stimmen, eine höhere und eine tiefere, und die tiefere schien aus einem großen Loch in der Brust zu kommen. – O, ich hatte mir's nur verhehlen wollen, – schon vorher hatte ich die nun verzerrten Züge, die halbgrauen, nun wild flatternden Locken erkannt, die mir einst so ehrwürdig erschienen. [...]

Hat sich der Himmel aufgetan? Vor mir wölbte sich die blaue Grotte von Capri, nicht Bild, nicht Gemälde, sondern Wirklichkeit. Und doch auch wieder nicht. Denn wohl raunt das Volk von gewissen Felshöhlen an jener Inselküste, es seien Spiriti darin, aber was leuchtet hier, welch Unbekanntes, Neues, welchen Wunderkern umschließen diese blauerglänzenden Wölbungen? Eine Erhöhung des Felsens ragt aus dem Wasser, wie zur natürlichen Ruhestätte gebildet; auf weißer Decke, die darüber sich breitet und faltenreich niederfällt, in weißem Gewande, das Haupt auf weißem Schlummerkissen ruht ein Weib, mir entgegengekehrt, das Angesicht mir gegenüber, halbgeschlossen sind die von langen Wimpern überschleierten Augen. Friede wohnt auf ihrer Stirne, ein seliges Lächeln umspielt ihre Lippen, Verklärung ist dies Antlitz. Das magische Licht, das auf Correggios berühmter »Nacht« vom Christuskind ausgeht, auf den Gesichtern der anbetenden Gruppe wiederscheint und im Dunkel der Hütte, der nächtlichen Landschaft verschwebt, es ist stumpf und erdig gegen die Lichtfülle, die von diesem Himmelsbilde ausströmt und doch nicht blendet, sondern mondscheingleich das Blau, das vor lauter Leuchtkraft wie Rot auf das Auge wirkt, zu sanfter Kühle ermäßigt. Ich sollte die Züge dieses Weibes kennen, sprach es in mir. Nur so wagte ich es im Innern zu sagen, denn sehr wohl beim ersten Blicke kannte ich sie. Doch drang es mir über die Lippen: »Soteira!« flüsterte ich und trat um einen kleinen Schritt näher; das Wasser, das ihr Felsbett umschwankte, schien zugleich fester Boden, der dem Fuße Stand und Gang erlaubte. Sie öffnete jetzt die Augen und ließ sie auf mir ruhen. Wer beschreibt den Blick! Mir war wie damals, als sie sich über mich beugte und das feuchtkühle Tuch auf meine Stirne legte, nur dasselbe Gefühl ins Unmeßbare, ins Unsagbare erhöht. Nun sprach sie, – es war jener grundgute Ton, der mir einst ins Herz des Herzens gedrungen –: »Nicht wahr, hier ist es gut still und kühl?« – »Ja, du Gute,« sagte ich, »aber das ist ein Ort für Reine, da darf ich nicht bleiben; verzeih, verzeih, daß ich hier eingedrungen; aber du glaubst nicht, o, du glaubst nicht, wie fürchterlich es droben aussieht im Tale der Schrecken.« Wie vorher ruhten diese Augen auf mir mit dem Blick der Güte und des Mitleids, den keine Zunge nennt. Dann hob sie langsam den Arm, bot mir die schneeweiße Hand und sagte: »Reiche die deine, das kühle Lichtblau hat alles, alles abgewaschen.« Zitternd hob ich die Hand und faßte die ihre. Sie war kalt, aber nie im Leben hat der Druck einer warmen, lebendigen Hand einen Menschennerv und ein Menschenherz so selig durchzittert, wie mich die Berührung dieser weichen, zarten Finger, die wie aus Schnee gerundet schienen. Ich hielt sie fest und flüsterte: »Ewig.« – »Ja,. ewig,« hauchte sie. * Ich glaubte sie noch zu halten, als ich erwachte. Dies Erwachen! Hinweggespült aus meiner hämmernden Brust ist der Krampf und Brand des Lebens, sanft geht mein Puls. Ich bin frei. [...]

Aus Wust und Wut,

Aus Schwefelglut, 

Aus atemloser Schwüle 

Hinab in Meeresgrund, hinab ins Kühle. 

Da ruh' ich aus 

Im Felsenhaus 

Von all dem Angstgewühle, 

Gebadet in der sanften, reinen Kühle. 

Im tiefen Blau Ruht eine Frau, 

Lichtweiß auf weißem Pfühle, 

Und lächelt selig in der stillen Kühle. 

Nah' ich mich ihr? 

Sie schaut nach mir, 

Fragt mich, ob ich auch fühle, 

Wie gut es weilen ist in dieser Kühle. 

Reicht mir die Hand, 

Daß ich den Brand 

Aus meinem Busen spüle 

Und mit ihr ewig bleibe in der Kühle. 

Aber da bin ich noch und was nun tun? Der aufzuckende Gedanke, ich müsse nun auf und fort, hinwärts, dorthin – nein! Mein Traum und die Fragen, die Zwecke der Wirklichkeit: zwischen ihnen ist kein Verhältnis, keine Gleichung. Auch den Gedanken, mein Gesicht könne eine Ahnung gewesen sein, halte ich nieder. Ich mag mich mit keinerlei Fragen einlassen. Mir ist alles vollendet. Ich bin. Ich habe das Gefühl, zu sein. Mit ihr, in ihr. Tief in der blau schimmernden Grotte. – Die Dinge am Tageslicht sind mir nun pure Gegenstände, nichts mehr mit mir verwachsen.

(Vischer: Auch Einer, Kapitel 26)