Bernward Vesper Sohn von Will Vesper, zeitweise Lebensgefährte von Gudrun Ensslin (Rote Armee Fraktion)
Hauptwerk: Der "Romanessay" Die Reise ("wertvolles Zeitdokument der 68er-Generation. Vesper setzte sich darin u. a. mit seinem Vater, dem Nazi-Dichter Will Vesper, und seiner ehemaligen Lebensgefährtin Gudrun Ensslin auseinander.") "1969 begann Vesper den Romanessay Die Reise, den er aber nicht mehr vollenden konnte. In dem autobiographischen Fragment, das erst 1977 posthum veröffentlicht wurde, thematisiert und reflektiert Vesper das Verhältnis zu seinem Vater, seine eigene radikale politische Überzeugung, seinen Schreibprozess an der „Reise“ sowie seine Erfahrungen mit Drogen. Es gilt als einflussreiche Darstellung der 68er-Generation und bedeutendes Zeitdokument." (Wikipedia)
Zitate:
E=Erfahrung. Hass
Versuch eines neuen Anfangs
1 Das ist unsere Einsteinsche Formel. Man wird kaum die Unverfrorenheit aufbringen, sie in die bronzene Kirchentür meiner Geburtsstadt einzugießen. Die Formel unserer Krankheit und Exzentrizität. Sie wird Zerstörungen zur Folge haben, gegen die Nagasaki und Hiroschima lächerlich erscheinen. Aber ich weiß, dass der Weg, den sie anzeigt, zu unserer Erlösung führt. (>War das in Hiroschima wirklich geschehen? War irgendetwas jemals wirklich geschehen?>)
2 Ich kannte ihn vorher nicht und ich weiß auch nicht, wo er jetzt steckt. [Ich werde also kaum mehr über ihn erfahren, ich bin auf meine Erinnerung angewiesen: ein Schatten unter dem Tamariskenbaum vor Rijeka am 2. August 1969,] und dieses verdammte Haus hindert mich daran, mich genau zu erinnern (was heißt hier: verdammt; was heißt hier: was heißt hier; [dieses Land ist] alle diese Häuser sind verdammt [, ich bewohnte es, ohne zu merken, dass es meinen Tod zu Lebzeiten bedeutet]. Es ist Zeit, [aus meinem Traum zu erwachen] das zu registrieren. Es ist Zeit, die Dinge zu sehen, wie sie sind, die Projektionen zu knacken, die mir das Unerträgliche erträglich erscheinen lassen, [es ist Zeit, zu begreifen,] Es ist Zeit, zu zerstören, was man mir als Schönheit andrehte, es ist Zeit, die Schönheit der Zerstörung zu begreifen: den Erfahrungen vertrauen, die Erfahrungen in Hass, den Hass in Energie verwandeln). (S.13)9 Ich fragte Jorge Armado: Was ist die Ursache für die Krise unserer Literatur? Und Jorge antwortet: >Wir haben nicht mehr genügend junge Autoren, weil diese jungen Künstler alle Musiker oder Filmemacher sind.< Das individuelle Produktionsmittel Schreibmaschi
"Zwei Tage lang arbeite da mein Vater mit einem Mann im Keller am großen Heizofen und verbrannte Bücher und Papiere. Tigerpanzer gingen in der Sandgrube in Stellung. Waffen-SS und Totenkopf – Werwolf und Endsieg. Man kümmerte sich wenig um die Kinder. Dann stürzte meine Halbschwester herein: >>Der Führer ist gefallen.<< Es war ein herrlicher Frühlingstag, blau und warm. Dann saßen wir einen halben Tag lang im dunklen Flur des alten Hauses, Granaten zogen über das Haus und schlugen am Westerbecker Berg und im Dorf Westerbeck ein und zerstörten / es". (S.66/67)
"Es sind die VEGETABLES. Alles ist hier Vegetable. Was nützt es, high zu sein, wenn man auf dem Grund dieses Morastes sitzt? Ich sehe sie kaum, ich spreche nicht mit ihnen und dennoch sind sie überall präsent. Ihre Straßen, Häuser, die Missbildung der Fenster, der Türen, der Garten, alles verrät sie, auch wenn ich nur nachts spazieren gehe, wenn sie – an Wochentagen um 10, am Freitag und Sonnabend um 11.30 Uhr – das Licht gelöscht haben. Goethe hatte recht, wenn er auf dem urbanen Ursprung aller Kunst wies. Aber er hielt Weimar für eine Stadt! Ein Deutscher!
Das Wertsystem verschiebt sich. Es ist das gleiche, wie wenn man zum ersten Mal klaut, zum ersten Mal abtreibt, zum ersten Mal begreift, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt. Man ist gefeit gegen alle neuen Suggestionen des Idealismus. Man wirft die Systeme in die Luft und sie fliegen davon, Spreu der Ideologie. Und die Materie bewegt sich ewig, atmet, lebt, verschiebt sich, stürzt ein und ballt sich, flieht vor sich selbst. Und wir sind ein Teil davon, jetzt, wo der Morgen beginnt, der Tag, mein Tag!
Im Fernsehen – Cocteau würde sofort die Koinzidenz bemühen – läuft ein Film über eine neue gefährliche Droge, auf die das RD von Los Angeles angesetzt wird. Und man sieht, den Kopf tief im Sand, einen jungen Amerikaner, der ins Innere der Erde blickt und das ewige Feuer sieht – und die faschistischen Bullen, die ihn packen, sein schönes, bemaltes Gesicht, den tiefen strahlenden Blick, den Glanz, /die Glätte des vom Geist belebten Ausdrucks: ihn schütteln, aus dem Trip zu reißen versuchen, ihn quälen, sadistisch mit jenem Spott, der die Ohnmacht der Bullen beweist. Nichts sonst. Er sagt wunderbare Sache: >Ich bin der Stuhl!< [...] Er umarmt den Baum, er schluckt die Rinde, er stößt sich an den Schreibtischen der Wache. Natürlich: sie sperren ihn ein, aber der Geist ätzt sich den Weg, schöner Vogel Quetzal, wir werden uns, der Freiheit beraubt, nicht töten, wir schmelzen, fließen durch die Mauern – das ist alles. Das System hat kein Argument auf seiner Seite, keins.
Kinder, Maler, Dichter: sie haben doch schon lange gewusst, dass sie Pferde blau sind und die Löwenflügel haben, dass das Weltall lebt.
Dann Jean Cau (un légume francais): >Meine Reaktionen waren intakt, aber als ich begriff, sie könnten nachgeben, entgleisen, da war das Schreckliche da. Man hatte ihn, da er als légume typique an einer LSD-Séance als >Beobachter< teilnehmen wollte, 300 mg in den Wein getan, woraufhin er sofort zum Arzt rannte, sich Spritzen in den Arsch jagen ließ, um da rauszukommen. Er weigerte sich, von seinen Wertsystem, seinen Symbolen, seinen Metaphern runterzugehen, er ist krank, gestört, Ich-schwach, er kennt nur seine Vorurteile, in die er so vernarrt ist, dass er sich an sie klammert wie an etwas, was ihn retten könnte. Er ist davon überzeugt, dass er, Monsieur Jean Cau, nur in seiner Borniertheit bestehen kann. Oh, das Gefühl, sich an das sinkende Schiff zu klammern, von den Wellen losgerissen zu werden, übers Wasser zu treiben und zu merken, dass es trägt, dass es unendlich ist, dass man auch, wenn man tausend Meter tief sinkt, atmen kann, sehen kann, dass in dem / Moment, wo man fällt, die unendliche Liebe einen umfängt und behütet und trägt. Ja, Herr Cau, sehen Sie und Sie behaupten, wir >erleben eine Art von Katastrophe, in der die menschlichen Werte einfach ausgehöhlt werden<." (S. 97-99)
"Und dann gab Joseph Göbbels seinen Kindern Gift, dann erschoss er seine Frau und sich und im Garten der Reichskanzlei schlugen, neben den brennenden Geheimakten, die Flammen über ihm zusammen und auf Berlin hämmerte die russische Artillerie, ganz Deutschland ein Feuermeer, holladihi! Wenn wir abtreten müssen, dann werden wir den sagt Deckel zuschlagen, dass es an den Westen des Himmels wieder halt! Ende. Sollten die deutschen unwürdig der Ihnen aufgetragenen geschichtlichen Mission, zu sehen, wie sie allein fertig würden, führerlos.
Und dann, nach dem pünktlichen Abendessen, während meine Mutter in der Küche und der Geruch angebrannten Lebkuchens durch die Flure zog, lag er auf dem durchgesessenen Biedermeiersofa, das Weinglas in der Hand, die Linke an den Eiern (Prostata). (S. 451/52)
"Wir richten den Blick nicht auf die Geschenktische, sondern verharren schweigend, in die Betrachtung des Baumes versunken. Die erzgebirgischer Klingelei läutet. Wir singen jetzt 'Stille Nacht', ein Lied, das wir uns für diese Stunde aufgespart haben. Dann greift mein Vater, der mit dem Rücken zum Baum, im unteren Teil der Halle steht, zur Bibel, einer Fassung für die Jugend, die er selbst bearbeitet hat. Während er liest, läuft in meinem Kopf der Originaltext "mit Maria, seinem vertrauten Weibe. Und als sie..", "und die war schwanger", denke ich. (Und die Hirten auf dem Felde, ihre wehenden Mäntel, die Eiskruste in den Bärten, und die Schafe stehen bis zu den Zitzen im torfigen Schnee.)
Kühle Luft kriecht in die weiten Hosenbeine meines schwarzen Tanzstunden- und Konfirmationsanzusg, die Heizungen sind abgestellt, der Baum darf nicht frühzeitig nadeln.(S. 459)
"Und während ich sang, dachte ich an das Gedicht, das mein Vater dem Führer gewidmet hatte, Fühl unsere Herzen schlagen, wie in Dein Herz gebannt und wage, was du mußt wagen, wozu dich Gott gesandt, und ich merkte, wie wir alle, die wir hier standen, in eins verschmolzen, das können Sie uns nicht nehmen.. (S. 460)
"Das Christentum zu bekämpfen war ein Fehler der Partei", sagte mein Vater. "Man kann nicht das alte deutsche Weihnachtsfest in ein heidnisches Lichtfest zurück verwandeln. Diesen Fehler haben Rosenberg und Bormann zu verantworten. Der Führer selbst war religiös, schon aus Ehrfurcht vor seiner Mutter, die eine fromme Frau war. Bormann war überhaupt in allen Dingen der böse Geist des Führers, der ihn zum Schluß sogar verrät. Der Führer hat von alledem nichts gewußt." (Was war das für ein Führer, der diese Verräter um sich herum nicht durchschaute?) "Luther und Bach waren Christen – waren sie keine guten Deutschen?" rief er, "ich habe schon 1935 mein "Bekenntnis" zum Christentum veröffentlicht. Dafür bin ich angefeindet worden. Ich habe ein Parteiverfahren gegen mich beantragt, denn im Programm steht, die Partei steht auf dem Boden eines positiven Christentums, man hat das Verfahren abgewürgt. Und was haben die Herren Widerständler getan, die mich heute wieder verfolgen?" Tränen traten ihm in die Augen, wenn er Musik hörte oder seine eigenen Gedichte vorlas. "Übrigens", sagte er, "Luther und Bach stammen aus denselben Dörfern wie die Vorfahren meiner Mutter, es ist gut möglich, daß wir mit ihnen verwandt sind." (S. 462)
"LSD kann eben so wenig zurückgenommen werden wie die neunte Sinfonie." (S. 505)
"1971 wurde Vesper in die Psychiatrie Haar bei München eingewiesen und anschließend in die Psychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf verlegt, wo er sich am 15. Mai 1971 mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben nahm." (Wikipedia: Bernward Vesper)
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