24 August 2021

Underground Railroad von Colson Whitehead

 Die Underground Railroad ist keine Fiktion. Es gab eine Einrichtung von Fluchthelfern, die schwarzen Sklaven die Flucht von den Plantagen der Südstaaten in die Nordstaaten erlaubte. 

Colson Whiteheads Roman The Underground Railroad ist freilich fiktional. Um den historisch belegten Umständen der Sklavenhaltung und den Problemen bei der Flucht ein wenig von dem Bedrückenden zu nehmen, die der Realität anhaften, hat Colson Whitehead eine reale Untergrund-Eisenbahn mit gut getarnten unterirdischen Bahnhöfen erfunden, die eine Art rückwärts gewandte Utopie darstellen. Denn vieles an Ungerechtigkeiten aus der Sklavenhalterzeit lebt ja noch fort. Die Tötung von George Floyd, die ja nicht ein heimtückischer Angriff eines einzelnen Mörders war, sondern ein mittelfristig unvermeidbarer "Unfall" in einem legalen (nicht legitimen) Unterdrückungssystem, beweist es.

Whiteheads Roman wurde die Vorlage einer Fernsehserie, die sei Mai 2021 zu sehen ist und ähnlich wie 1978/79 Holocaust - Die Geschichte der Familie Weiss durch Ausstrahlung im Fernsehen wesentlich dazu beigetragen hat, dass ein traumatisierendes historisches Geschehen nachfühlbar gemacht wurde. 

Frank Bösch hat in "Zeitenwende 1979" diese Serie über den Holocaust als einen Beleg für eine "Gewandelte Geschichtskultur" (S.393-95) gesehen. "Über zwanzig Millionen, die Hälfte der Bundesbürger über vierzehn Jahre, sahen zumindest eine Folge, ein Voertel sogar alle vier. Alle Bildungs- und Altersgruppen saßen vor dem Bildschirm, lediglich die Altersgruppe der 30- bis 49-Jährigen war leicht überrepräsentiert." (S.382)

Es steht zu hoffen, dass die Fernsehserie Underground Railroad der Verarbeitung des Stoffs durch Whitehead zu einer ähnlichen Breitenwirkung verhilft, wie 1979 mit der Serie Holocaust gelungen ist. Die Rezeption durch die Kritik gibt jedenfalls Anlass dazu. 

Interview mit Colson Whitehead unter anderem über seinen neusten Roman Harlem Shuffle in der Frankfurter Rundschau vom 24.8.21

22 August 2021

Uwe Johnson: Mutmaßungen über Jakob

 Als ich vor rund 60 Jahren dies Buch zu ersten Mal las - parallel zu meinem ersten englischen Sachbuch: Alan Bullock: Hitler - stellte ich fest, dass das englische Buch für mich leichter zu lesen war.

Jetzt, gut 2000 Seiten Johnson- und über 2000 Seiten Sachbuchlektüre auf englisch später, fällt mir die Johnsonlektüre kaum leichter als damals, obwohl ich damals das Buch vollständig gelesen hatte und mit dem Personal des Buches immer wieder umgegangen bin.

Meine Wertschätzung für Johnson hat nicht nachgelassen, doch ziehe ich inzwischen die "Jahrestage" vor. 

14 August 2021

Hildegard E. Keller: Was wir scheinen. Eine Biographie Hannah Arendts in Form eines Romans

 Was wir sind und scheinen,

ach wen geht es an.

Was wir tun und meinen,

niemand stoß sich dran. (Hannah Arendt, S.321)

Hannah Arendt, säkularisierte Jüdin,  wollte nach ihrer Aussage, vor allem verstehen, d.h. möglichst unverfälscht durch fremde Einflüsse, ihre Wahrheit herausfinden. Philosophin zu sein, hat sie bestritten, sie wollte weder Methode noch System für das Weltverständnis entwickeln, sondern politisches Handeln verstehen. So verstand sie sich als Vertreterin politischer Theorie. 

So erklärt sie es 1964 im Interview mit Günter Gaus. (Zu diesem Interview im Roman S.486/87)

Die Schweizerin Hildegard E. Keller schildert sie weitgehend aus der Innensicht, indem sie ihren letzten Urlaub im Tessin (Tegna) darstellt und in regelmäßigen Rückblicken wichtige Lebensstationen aus Arendts Erinnerungen vergegenwärtigt. 

Das Hauptthema ist dabei ihre Erfahrung während des Eichmann-Prozesses in Israel, aus sie die kühne Formulierung von der Banalität des Bösen ableitet. Ihre Dissertation über Liebe bei Augustinus (bei Karl Jaspers) und ihre Habilitationsschrift über Rahel Varnhagen kommen ebenfalls wiederholt ins Spiel, am deutlichsten freilich ihr philosophische Hauptwerk Vita activa (The Human Condition), während ihre Totalitarismustheorie im Hintergrund bleibt.

Ihre eigene literarische Tätigkeit (Gedichte sieh oben, S.321, S.13, S.41, das Gedicht auf Benjamin, S.372, S.556f. ...; Märchen S.157-165 u. 397-404 Hier trifft das Mädchen im "Reich der weisen Tiere" den weißen Elefant aus Rilkes Gedicht, der ihr erklärt: "Ich bin der Elefant von dem Karussell aus dem Luxembourg-Garten in Paris. Ich bin extra für Kinder geschaffen worden, und nur Dichter haben noch ein richtiges Verständnis für mich gehabt.", S.397; S.521 "das hier ist mein letztes"):

Dann werd' ich laufen, wie ich einstens lief

Durch Gras und Wald und Feld;
Dann wirst du stehen, wie du einmal standst, 
Der innigste Gruß von der Welt.
Dann werden die Schritte gezählt sein
Durch die Ferne und durch die Näh;
Dann wird dieses Leben erzählt sein
Als der Traum von eh und je.

Die Gedichte von Alfonsina Storni (S.370-73)

Vor allem aber wird die lebensfreudige Person Hannah Arendt vorgestellt mit ihren vielen Freundschaften mit bedeutenden Personen, ihr Hang zum Rauchen ("Hier wollte sie ansetzen. Zuerst muss der Gehorsam nochmals kurz zur Rede kommen. Sie zog den Aschenbecher heran und schnippte die Asche ab."), ihre Freude am Essen und Kochen (mit Ingeborg Bachmann  Speck braten, S.380f.).

Politische Urteile:

Stets ihre Absicht: unabhängig beurteilen und urteilen. "Wie ist die Schuld zu ermessen, wenn eine Tat innerhalb eines Systems begangen wurde, das Unrechtmäßigkeit mit rechtmäßigen Mitteln zum Gesetz erhoben hat?" (S.214)

Über Kellers Gedicht: Die öffentlichen Verleumder:

"Erstaunlich genug, dass einer in Zürich die Zeilen aufgeschrieben hatte, die erst Jahrzehnte später in Deutschland Wirklichkeit worden. Hellsichtiger kann man nicht vom Unheil erzählen, das einer zum Leben erwecken kann, wenn ihm die anderen zum Propheten machen. Genau davon erzählte Kellers Gedicht. Nur zu gern wüsste sie, was ihn dazu veranlasst hatte. Hitler kann es jedenfalls nicht gewesen sein, der lag noch in den Windeln, als Keller starb, da war sie sich ganz sicher." (S.418)

"[...] die politischen Bösewichte der Geschichte müssen dem Lachen ausgesetzt werden. Sie sind nicht groß hatte er [Brecht] gesagt, sondern sie haben nur große politische Verbrechen begangen, und das ist wirklich etwas ganz anderes." (S.496)*

"Als ich über dem Eichmann-Material saß und die 3600 Seiten Verhörprotokolle las, musste ich lachen, ja, ich habe laut gelacht. [...] Ich habe über Eichmann gelacht und werde wieder lachen, sogar drei Minuten vor meinem sicheren Tod. Man muss lachen können, weil das Souveränität bedeutet." (S. 496)

Bei der Suche danach, was das Besondere an der scheinbaren Normalität Eichmanns ist, stößt Arendt auf das animal laborans, das sie in Human Condition als die Seinsform des Menschen herausgearbeitet hatte, das gleichsam nur wie eine Maschine funktioniert und nicht frei und verantwortlich handelt, es auch gar nicht will.(Vita activa) (S.329ff.)

In ihrer Verteidigung gegen die Angriffe auf ihr Eichmann-Buch lässt H. Keller sie etwas schreiben, was sie so stolz nur als wörtliches Zitat Arendts übernommen haben kann:

"Dass es gefährlich sein kann, die Wahrheit zu sagen ⁃ um das zu wissen, brauchen wir weder Hitler nach Stalin, welche die Lüge selbst zum Rang der Wahrheit erhoben. Dies ist immer so gewesen, und der Grund ist politisch: Es ist immer Einer gegen Alle. Nicht weil 'Einer' so klug ist und 'Alle' so dumm, sondern der Denk- und Suchprozess, der schließlich zur Wahrheit führt, immer nur von einem geleistet werden kann." (S.447)

Da durchweg aus ihrer Sicht geschildert wird, werden ihre Freunde und guten Bekannten fast nur mit Vornamen genannt: Martin (Heidegger), Karl (Jaspers),  Benji (Walter Benjamin), Heinrich oder Stupps (ihr zweiter Mann, Heinrich Blücher), Günter (Anders, ihr erster Mann), Kurt (Blumenfeld), Robert (Gilbert), Uwe (Johnson),  Dolf (Sternberger), ...

"Hefe der Erkenntnis" (fermenta cognitionis) (Lessing), S.498

Brief und Gedicht von Ingeborg Bachmann, S.505/07

20.8.1975 Treffen auf die junge Frau (Hippie-Mädchen??) bei der Kirche Ronco sopra Ascona - Lied von Janis Joplin: "Freedom is just another word for nothing left to lose."

Rahel musste das Beste, was sie hatte, fahren lassen. Natürlich hatte auch sie sich das Hoffen angelernt, dass gemeine, leere Hoffen, dass man etwas Besseres bekommt. Aber Rahel bekam nichts Besseres und kannte auch keine Heimat in der Welt, in die sie sich vor dem Schicksal hätte zurückziehen können. Nichts hatte sie ihm entgegen zu setzen. Nichts außer der Wahrheit. 'Vortrefflicher Ernte der Verzweiflung', sagte Rahel, als sie gegen Ende ihres Lebens die Erfahrungen einsammelte. Ohne Sarkasmus, denn sie war vom Leben bemerkt worden. (S. 517)

"Das ist kein Beiwerk meines Lebens, an dem ich unschuldig bin, das sich wie von selbst abwickelte. Ja, so hatte sie gesagt. Ich habe es voll zu verantworten als mein Schicksal. [...] Das Leben selbst zeichnet uns aus. Natürlich, auch Unglück ist eine Auszeichnung. Darauf bestand Rachel, und auch, dass es keinen Trost geben darf. Keinen Schleier vor der Wahrheit. Aber dafür musste sie sich zur Wand machen. Zu etwas Undurchdringlichem, Um der Welt entgegenstehen zu können. Sie versteinerte, um weiterleben zu können. Anders hätte sie sich mit dem Gang des Lebens nicht abfinden können." (S.518)

Sieh auch: Hannah Arendt, die Leidenschaft des Denkens von Martin Meyer in NZZ 14.10.2006

* Es zeugt natürlich nicht von Prophetie, sondern von strukturellen Ähnlichkeit von Vorgängen, die die Gesellschaft spalten, wenn Teile von G. Kellers Gedicht sich auf AfD und Donald Trump sowie andere sich auf die COVID-19 Pandemie beziehen lassen. ("Verborgen, wie die Flamme / In leichter Asche tut" - in der DDR verborgen fortglimmernder Rechtsradikalismus und der Coronavirus, der in den Sommermonaten weniger gefährlich ist, dann aber neue Ansteckungswellen hervorruft. - "Dann wird davon gesprochen / Wie von dem schwarzen Tod;" - ein Naturereignis, an dem niemand schuld ist. - "Wenn einstmals diese Not / Lang wie ein Eis gebrochen" - die Pandemie, die gesellschaftliches Leben erstarren lässt).

Und selbst das Lachen, das Brecht und Arendt sich beim Blick auf die politischen Verbrecher wünschen, wird von Keller im Blick auf die Verleumdungskampagne, auf die sich sein Gedicht bezog, angesprochen in seiner Novelle Das verlorne Lachen. Bei ihm bezieht es sich auf die gesellschaftliche Spaltung, die Freundschaften und Ehen zerstören kann, wenn es nicht gelingt, die menschliche Beziehung wichtiger zu nehmen als die ideologische Differenz. - Dass Keller dabei nicht an Massenmörder und ihre Helfershelfer und auf der anderen Seite die Opfer gedacht hat, ist klar, dazu braucht man die Erzählung nicht zu kennen.

Hier schon ein paar Stichworte zu Arendt im Zusammenhang mit dem Film über Arendt beim Eichmannprozess 1962:

Banalität des Bösen

Eichmanns Aussage, er hätte seinen eigenen Vater erschossen, wenn man ihm Belege für seine Schuld genannt hätte

Eichmann hat die Judenvernichtung weitergeführt, obwohl Hitler sie für beendet erklärt hatte. ("Er war so besessen, dass er sich sogar über Hitler hinwegsetzte", ZEIT online 19.4.2019)

Zitat daraus:

Gabriel Bach, stellvertretender Ankläger, im Interview: "Hitler hatte mit den ungarischen Alliierten 1944 ein Abkommen geschlossen. Sie sollten weiter an der deutschen Seite kämpfen, dafür würde im Gegenzug 8.700 jüdischen Familien die Ausreise aus Budapest gestattet werden. Ich bekam eine Depesche des deutschen Botschafters in Budapest an den Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop. Dieser schrieb, dass Eichmann wegen des Abkommens außer sich gewesen sei vor Wut: "Er glaubt, dass diese Familien wichtiges biologisches Material für den Wiederaufbau ihrer Rasse darstellen und befiehlt, sie noch schneller zu deportieren." Eichmann war also derart besessen von der Judenfrage, dass er sich sogar über Hitlers Entscheidungen hinwegsetzte." 

Judenräte (für einzelne von ihnen wies Arendt darauf hin, sie hätten den Nazis die Verfolgung erleichtert.)

Über die Rolle der Judenräte informieren u.a. ein Wikipediaartikel und ein Aufsatz von Wolf Murmelstein, des Sohnes von Benjamin Murmelstein. Bei allen Bemühungen um Aufklärung über den Holocaust kommen - verständlicherweise - die Rolle der Judenräte und des jüdischen Widerstandes zu kurz. Schließlich geht es dabei nicht um deutsche Schuld. - Judenräte wie Widerstandskämpfer haben völlig gegensätzliche Antworten auf die unlösbare Frage gefunden, wie man der Ausrottungsmaschinerie des deutschen NS-Regimes begegnen soll.

10 August 2021

Droste-Hülshoff: Die Judenbuche

 Annette von Droste-Hülshoff stellt ihrer Novelle ein Gedicht voran. 

Wo ist die Hand so zart, daß ohne Irren 
Sie sondern mag beschränkten Hirnes Wirren,
So fest, daß ohne Zittern sie den Stein 
Mag schleudern auf ein arm verkümmert Seyn? 
Wer wagt es, eitlen Blutes Drang zu messen, 
Zu wägen jedes Wort, das unvergessen 
In junge Brust die zähen Wurzeln trieb, 
Des Vorurtheils geheimen Seelendieb? 
Du Glücklicher, geboren und gehegt 
Im lichten Raum, von frommer Hand gepflegt, 
Leg hin die Wagschal’, nimmer dir erlaubt! 
Laß ruhn den Stein – er trifft dein eignes Haupt! –

Das hat mich so berührt, dass ich es in einem Klassenaufsatz vollständig zitiert habe, stolz, dass ich es auswendig konnte. Das trug mir die milde Rüge ein, ich solle doch selber über die Novelle schreiben, nicht zitieren. An Plagiat hat da keiner gedacht, weil zu selbstverständlich war, wen ich zitierte. 
Ganz zufrieden war ich trotzdem nicht, weil ich das Gedicht - für mich ungewöhnlich sauber geschrieben und mir eine gewisse Mühe damit gegeben hatte. 
Heute interessiert mich mein Aufsatz gar nicht mehr, wohl aber die Zeilen
"Du Glücklicher, geboren und gehegt [...]
Leg hin die Wagschal’, nimmer dir erlaubt! 
Laß ruhn den Stein – er trifft dein eignes Haupt!"
Sie treffen bei so vielem: Bei dem, was Helmut Kohl gar nicht so zu Unrecht "Gnade der späten Geburt" genannt hat. (Hätte ich Juden in meiner Wohnung beherbergt?) Bei dem Mauerfall, wo ich mitverfolgen konnte, wie viele Hürden meine Verwandten in der DDR überwinden mussten, bis sie die Handicaps, die ihnen plötzlich auferlegt waren, so halbwegs aufholen konnten, beim Umgang mit Flüchtlingen, von der Einführung des Artikels 16a ins Grundgesetz (einer extremen Einschränkung oder schon Abschaffung (?) des Asylrechts) 1993 und bei dem rasch zurückgenommenen "Wir schaffen das" von 2015, bei den Protestirrenden von Pegida, die die "blühenden Landschaften" verspätet einforderten und dann bei dem verstärkten Aufkommen der Neonazismus unter dem Schutz der AfD. Schließlich angesichts des Klimawandels, wo die Schülergeneration sehr zu Recht darauf verweist, dass sie die Versäumnisse der vorhergehenden Generationen wird ausbaden müssen. Und zusätzlich bei der Pandemie, wo den Jugendlichen erhebliche Einschrän-kungen zugemutet wurden und werden, nicht zuletzt bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung, Partner- und Berufssuche. 
Die Aufzählung bleibt unvollständig, auch wenn ich erwähne, dass ich weder wegen körperlichen oder geistigen Einschränkungen oder wegen meiner sexuellen Orientierung benachteiligt bin. 
Friedrich Mergel leidet nur unter sehr wenigen der genannten Einschränkungen, und Droste-Hülshoff schildert sehr deutlich, wie er sich in Schuld verstrickt, weil er sich über andere  erhebt, die stärker benachteiligt sind als er. Und doch stellt sie an den Anfang die Warnung, ihn nicht einfach als Mörder zu verurteilen. 

Denn:
"[...] die Nähe eines Flusses, der in die See mündete und bedeckte Fahrzeuge trug, groß genug, um Schiffbauholz bequem und sicher außer Land zu führen, trug sehr dazu bei, die natürliche Kühnheit der Holzfrevler zu ermuthigen, und der Umstand, daß Alles umher von Förstern wimmelte, konnte hier nur aufregend wirken, da bei den häufig vorkommenden Scharmützeln der Vortheil meist auf seiten der Bauern blieb. Dreißig, vierzig Wagen zogen zugleich aus in den schönen Mondnächten, mit ungefähr doppelt so viel Mannschaft jedes Alters, vom halbwüchsigen Knaben bis zum siebzigjährigen Ortsvorsteher, der als erfahrener Leitbock den Zug mit gleich stolzem Bewußtseyn anführte, als er seinen Sitz in der Gerichtsstube einnahm. Die Zurückgebliebenen horchten sorglos dem allmähligen Verhallen des Knarrens und Stoßens der Räder in den Hohlwegen und schliefen sacht weiter. Ein gelegentlicher Schuß, ein schwacher Schrei ließen wohl einmal eine junge Frau oder Braut auffahren; kein anderer achtete darauf. Beim ersten Morgengrau kehrte der Zug eben so schweigend heim, die Gesichter glühend wie Erz, hier und dort einer mit verbundenem Kopf, was weiter nicht in Betracht kam, und nach ein paar Stunden war die Umgegend voll von dem Mißgeschick eines oder mehrerer Forstbeamten, die aus dem Walde getragen wurden, zerschlagen, mit Schnupftabak geblendet und für einige Zeit unfähig, ihrem Berufe nachzukommen. [...]" (Die Judenbuche, Hervorhebung von mir)

Wenn es gegenwärtig um den Schutz der Biodiversität geht, spielen in Afrika die Wilderer eine ähnliche Rolle wie damals die Holzfrevler. Mutig bereit, ihr Leben zu riskieren, um für ihren Clan große Gewinne zu machen (ein Jagdzug kann mehr einbringen als ein Jahr Arbeit). Die Wildschützer schweben ebenfalls unter Lebensgefahr, haben aber geringere Einnahmen. Wer nach Europa zu fliehen versucht, dem droht Verdursten in der Wüste, Folter in den an die Wüste angrenzenden Staaten, Ertrinken im Mittelmeer und schließlich Abschiebung, selbst nach gelungener Integration. 

Wer sein Leben einsetzt, dem soll das Überleben von Elefanten, die immer wieder die Ernte vernichten, um einer abstrakten Biodiversität willen wichtiger sein als das eigene? 
Schiller kritisiert Wallenstein, doch erklärt er sein Verhalten mit seinem Lager. 

Das Thema der Judenbuche bleibt aktuell. Denn was tun wir zur Erhaltung von Biodiversität und zur Erreichung des 1,5-Grad-Ziels ? Riskieren wir unser Leben oder nur unsere Bequemlichkeit?
"Leg hin die Wagschal’, nimmer dir erlaubt!" Sollte etwa nicht mehr Recht gesprochen werden?

Schullektüren in meiner Schulzeit

  Von Herrn Rau angestoßen hier einige Notizen:

Mittelstufe: Die schwarze Spinne, Wilhelm Tell, Keller: Kleider machen Leute, Romeo und Julia auf dem Dorfe
Gedichte: Keller: die öffentlichen Verleumder (hochaktuell), Heym: Der Krieg
Oberstufe: längere Auszüge aus dem Nibelungenlied, Walther von der Vogelweide als anspruchsvollstes ‘Owe war sind verswunden …’ Wallenstein und vor allem: Faust II, jede Zeile im Unterricht vorgelesen und besprochen. (Dazu wäre noch viel mehr zu sagen.)

INHALTSANGABEN habe ich damals geschrieben zu:

 Hofmannsthal: Jedermann, Keller: Das Fähnlein der 7 Aufrechten, Britting: Das Waldhorn, Der Eisläufer, Der Sturz in die Wolfsschlucht, Hauptmann: Die Weber, Wallenstein, Faust I und II.
Gelesen noch: Stifter: Der beschriebene Tännling, vermutlich auch Bergkristall und Brigitta. Und natürlich Lesebuchtexte: Jean Paul: Rede des toten Christus, Kleist: Marionettentheater, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden; als Volltext: Michael Kohlhaas, Erdbeben von Chile, Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege, Hebel: Das Erdbeben von Falun. Schiller: Das verschleierte Bild zu Sais. Bei anderem bin ich mir nicht so sicher, ob nur häusliche Lektüre oder Schullektüre. – Die erwähnten Gedicht wurden natürlich alle auswendig gelernt. Das verschleierte Bild zu Sais konnte ich zumindest bis in meine Lehrerzeit noch ziemlich sicher, jetzt nur noch mit großen Lücken. – Und woher stammt: “Ich bin nur durch die Welt gerannt …”? Denn natürlich wurden damals nicht nur Gedichte und Passagen aus Wilhelm Tell auswendig gelernt. “Die Glocke” freilich auch nur passagenweise.
Bürgschaft und Kraniche des Ibikus sicher noch vollständig. Wohl auch Mörikes Feuerreiter. Habe ich den Prometheus aus Pflicht oder freiwillig gelernt? Den konnte ich noch jahrzehntelang. 

Natürlich Macbeth und allerlei englische Kurzgeschichten.

(Abitur-Jahrgang 1963)

Imponiert hat mir mein Sohn, der von der Odyssee die ersten 70 Verse auf Griechisch auswendig gelernt hat. Der war nicht so verweichlicht wie ich mit meinen kümmerlichen französischen und englischen Gedichten.

Bemerkenswert auch die Kommentare zu Herrn Raus Beitrag

Einen eigenen Blogbeitrag zum Thema geschrieben hat: Poupou 

Ein sehr engagierter Beitrag von Dirk Franke (Benutzer:Tolanor), der erlebt hat, dass gerade anspruchsvolle Texte ganz außerhalb seiner Erlebniswelt seinen Bildungswillen angestachelt haben (freilich auch die besondere Lehrperson mit ihrem Engagement).

Daraus ein Zitat über die Lektüre Schillers:

Dirk Franke über Schullektüren: "Friedrich Schiller – Kabale und Liebe. (9./10. Klasse) Hat in mir erfolgreich eine lebenslange Abneigung gegen Schiller hervorgerufen. Spätere private Versuche mit den Räubern und Don Carlos brachten uns nicht wieder zusammen. Menschen mit der Charaktertiefe von Pappkameraden stehen herum und geben politische Verlautbarungen von sich. Auf seine Art hat Schiller Twitter vorweggenommen. Nicht nur, dass mir die Charaktere egal waren, ich habe eine Abneigung gegen komplett alle Personen entwickelt. Ein halbes Jahr lang."  

Schullektüren in der DDR:

Timur und sein Trupp

Dieter Noll: Die Abenteuer des Werner Holt

Bruno ApitzNackt unter Wölfen

(Abitur 1994 in Sachsen und damit Lektüre im “alten” wie im für uns “neuen” Schulsystem:
“Wie der Stahl gehärtet wurde” – das las die DDR über Jahrzehnte hinweg in Klasse 8 und damit m.E. viel zu früh
“Käuzchenkuhle”
in Klasse 11 Hochhuths “Stellvertreter”

Sieh auch:

Liest Ihr Kind? ZEIT 19.8.21 (Von )

Von Herrn Rau übernehme ich die Links zu anderen Blogbeiträgen zum selben Thema:

Wer auch darüber schreibt:

09 August 2021

Bernward Vesper: Die Reise

 Bernward Vesper Sohn von Will Vesper, zeitweise Lebensgefährte von Gudrun Ensslin (Rote Armee Fraktion)

Hauptwerk: Der "Romanessay" Die Reise  ("wertvolles Zeitdokument der 68er-Generation. Vesper setzte sich darin u. a. mit seinem Vater, dem Nazi-Dichter Will Vesper, und seiner ehemaligen Lebensgefährtin Gudrun Ensslin auseinander.") "1969 begann Vesper den Romanessay Die Reise, den er aber nicht mehr vollenden konnte. In dem autobiographischen Fragment, das erst 1977 posthum veröffentlicht wurde, thematisiert und reflektiert Vesper das Verhältnis zu seinem Vater, seine eigene radikale politische Überzeugung, seinen Schreibprozess an der „Reise“ sowie seine Erfahrungen mit Drogen. Es gilt als einflussreiche Darstellung der 68er-Generation und bedeutendes Zeitdokument." (Wikipedia)

Zitate:

E=Erfahrung. Hass

Versuch eines neuen Anfangs

1 Das ist unsere Einsteinsche Formel. Man wird kaum die Unverfrorenheit aufbringen, sie in die bronzene Kirchentür meiner Geburtsstadt einzugießen. Die Formel unserer Krankheit und Exzentrizität. Sie wird Zerstörungen zur Folge haben, gegen die Nagasaki und Hiroschima lächerlich erscheinen. Aber ich weiß, dass der Weg, den sie anzeigt, zu unserer Erlösung führt. (>War das in Hiroschima wirklich geschehen? War irgendetwas jemals wirklich geschehen?>)

2 Ich kannte ihn vorher nicht und ich weiß auch nicht, wo er jetzt steckt. [Ich werde also kaum mehr über ihn erfahren, ich bin auf meine Erinnerung angewiesen: ein Schatten unter dem Tamariskenbaum vor Rijeka am 2. August 1969,] und dieses verdammte Haus hindert mich daran, mich genau zu erinnern (was heißt hier: verdammt; was heißt hier: was heißt hier; [dieses Land ist] alle diese Häuser sind verdammt [, ich bewohnte es, ohne zu merken, dass es meinen Tod zu Lebzeiten bedeutet]. Es ist Zeit, [aus meinem Traum zu erwachen] das zu registrieren. Es ist Zeit, die Dinge zu sehen, wie sie sind, die Projektionen zu knacken, die mir das Unerträgliche erträglich erscheinen lassen, [es ist Zeit, zu begreifen,] Es ist Zeit, zu zerstören, was man mir als Schönheit andrehte, es ist Zeit, die Schönheit der Zerstörung zu begreifen: den Erfahrungen vertrauen, die Erfahrungen in Hass, den Hass in Energie verwandeln). (S.13)

3 Ich werde nicht mehr über ihn herausfinden. [...] (S.14)

4 Es hat keinen Sinn, mir zu sagen, es wäre gescheiter, die ERFAHRUNG, diesen HASS, diese ENERGIE unverzüglich einzusetzen, um die Mine an die ganze Scheiße zu legen und die Kiste in die Luft zu jagen. Derartige Ratschläge selbsternannter Anführer gehen mir auf den Wecker. >Unter diesen Umständen entschied ich mich für den einzig sicheren Weg – meinen eigenen.< (Andre sind weiter als du. Der Fluch des ersten Koch'schen Gesetzes: Der Zweite wird nie der Erste werden.) Was soll diese Trabrennmoral? Ich weiß, dass ich verloren bin, wenn ich die Scheiße, die man mir vorsetzt, bedingungslos runterfresse. Man quatscht uns die / Ohren voll. Ich selbst muss herausfinden, wer ich bin, was ich will, wo ich meine Kräfte einsetzen kann. [Erst] das NEIN [,das ich allen Aufforderungen entgegensetze,] schafft mir die Sekunde Zeit, die ich brauche, um die Sache zu überprüfen; statt mich abschleppen zu lassen, will ich [die Dinge an der Wurzel] begreifen [, erst, wenn du es satt hast, dich bevormunden zu lassen, überfällt dich der ungeheure Hunger nach dem konkreten, nach Gewalt und Radikalität]. >Den einzig sicheren Weg – meinen eigenen Weg<, sagte Eldridge Cleaver." (S.14/15)
7 (Ein Steppke fragt am Kiosk nach dem neusten Mickey-Maus-Heft. Es ist noch nicht raus. Eines Tages wird die Nachricht >Mickey-Maus ist tot!< bei einer größeren Anzahl Men/schen auf der ganzen Erde weit größeres Entsetzen auslösen als Nietzsches Aufschrei >Gott ist tot!< – die Menschen werden ratlos in den Straßen stehen: >Mickey-Maus ist tot! Wer wird der nächste sein?<) (S.15/16) 
9 Ich fragte Jorge Armado: Was ist die Ursache für die Krise unserer Literatur? Und Jorge antwortet: >Wir haben nicht mehr genügend junge Autoren, weil diese jungen Künstler alle Musiker oder Filmemacher sind.< Das individuelle Produktionsmittel Schreibmaschine, die technische Fortsetzung des Gänsekiels, ist veraltet. Die Bibel ist verschwunden, doch die Zelle ist geblieben. Und die Zeile. Sie zwingt die Gedanken in einen linearen Prozess, die Widersprüche erscheinen als Hierarchie, eins >folgt< auf das andere, also auch aus dem anderen, wat schrifft, dat blifft, bleibt gleich für alle, obgleich nicht alle gleich sind. Niemand, der schreibt, kann sich dem Zwang der Linie entziehen. Immer entstehen Zeilen, Geschichten, ohne dass zugleich Gegen-Zeilen, Gegen-Gegen-Geschichten sichtbar würden. Standpunkt und Gegenstand müssen sich auf einer Waffenstillstandslinie / einfrieren lassen, die ihnen beiden nicht adäquat ist. Der inner space hängt ja schließlich auch nicht auf einer Linie (dass wir dann mit Sätzen, Wörtern, Buchstaben noch ein bisschen auf der Seite rumrutschen, ändert an der bestehenden Kommunikations-Misere gar nichts). (S.16/17)

"Abschweifen – wovon? Es gibt doch nur ein Abschweifen vom Standpunkt des Erzählers, eine Verdrängung – mehr nicht. [...] Man muss sich vermutlich damit abfinden, dass es ganz unmöglich ist, diese ganze Kloake von 31 Jahren zu Papier zu bringen. Versuchen, sie dadurch zu ordnen, die Legende, die wir von uns gemacht haben, zu zerstören, die neue Legende." (S.22)

"Vor dem Trip liegt die Drift, das Bewusstsein, dass das / ganze Leben an einem Punkt gelangt ist, wo das ich eine andere Qualität erhält und zur Überprüfung all dessen drängt, was seit seiner Geburt geschehen ist. Mindestens dessen – denn es schießt über alles hinaus, bezieht den Punkt, der man selbst ist, in der Zeit geworden ist, in diese Prüfung mit ein (mindestens in der Zeit, weil sie unkorrigierbar ist). Dieser Augenblick ist jetzt erreicht. Indem ich erfahren will, was es mit Ruth auf sich hat, versuche ich, die sieben Jahre mit Gudrun meiner Kontrolle zu unterwerfen. Dahinter steht der Versuch, die Rolle des Vaters und der Mutter zu begreifen. Der Schriftsteller würde jetzt zum Einzigartigen drängen, oder zum Mythos. Dies hier sind Recherchen." (S.35/36)

"Diese Aufzeichnungen folgen nicht im geringsten einer Assoziationstechnik. Sie haben nichts mit Kunst oder Litera/tur zu tun. Ich bin darauf angewiesen, die Spitzen der Eisberge wahrzunehmen. Das ist alles. Es interessiert mich nicht, ob sich jemand durchfindet oder besser, ich habe es aufgegeben, zugleich genau und verständlich zu sein. Ich interessiere mich ausschließlich für mich und meine Geschichte und meine Möglichkeit, sie wahrzunehmen. Ich pfeife auf Besuche, weil ich doch nicht verstehe, was die Leute sagen. Ich distanziere mich nicht. Ich bin überhaupt nicht arrogant. Aber ich kann fremde Probleme oder Sachverhalte nicht aufnehmen. Es ist mir unmöglich, Beispiele zu nennen, weil ich das, was andre zu mir sagen, nicht einmal höre oder doch sofort vergesse. Ich habe herumgestöbert, um einen Farbkasten zu finden, weil ich seit mehreren Tagen den Wunsch habe, zu malen. Aber in diesem Haus gibt es keine Mittel, sich aus zudrücken. Die Leute brauchen so etwas nicht." (S. 36/37)

"Rauschgift. Allein schon diese Bezeichnung, alles verbindet sich damit: Bewusstlosigkeit, Betäubung, Abtöten der Wirklichkeit. Dabei sind wir seit unserer Kindheit betäubt gewesen. Die Droge reißt den Schleier von der Wirklichkeit, weckt uns auf, macht uns lebendig, und macht uns zum ersten Mal unsere Lage bewusst." (S. 64)

"Zwei Tage lang arbeite da mein Vater mit einem Mann im Keller am großen Heizofen und verbrannte Bücher und Papiere. Tigerpanzer gingen in der Sandgrube in Stellung. Waffen-SS und Totenkopf – Werwolf und Endsieg. Man kümmerte sich wenig um die Kinder. Dann stürzte meine Halbschwester herein: >>Der Führer ist gefallen.<< Es war ein herrlicher Frühlingstag, blau und warm. Dann saßen wir einen halben Tag lang im dunklen Flur des alten Hauses, Granaten zogen über das Haus und schlugen am Westerbecker Berg und im Dorf Westerbeck ein und zerstörten / es". (S.66/67)

"Es sind die VEGETABLES. Alles ist hier 
Vegetable. Was nützt es, high zu sein, wenn man auf dem Grund dieses Morastes sitzt? Ich sehe sie kaum, ich spreche nicht mit ihnen und dennoch sind sie überall präsent. Ihre Straßen, Häuser, die Missbildung der Fenster, der Türen, der Garten, alles verrät sie, auch wenn ich nur nachts spazieren gehe, wenn sie – an Wochentagen um 10, am Freitag und Sonnabend um 11.30 Uhr – das Licht gelöscht haben. Goethe hatte recht, wenn er auf dem urbanen Ursprung aller Kunst wies. Aber er hielt Weimar für eine Stadt! Ein Deutscher!
Selbst die Wahrheit nützt ihnen nichts. Es ist, als würde die Erinnerung blockiert. Es liegt an den Eindrücken, ringsum; man empfängt keine Impulse und konzentriert sich nach und nach vollkommen auf seine Verlassenheit. Das aber ist ein Rückfall, der unproduktiv bleibt. Der Mensch ist von Natur aus ein Wanderer, nur die ökonomische Notwendigkeit hat ihn sesshaft gemacht. Heute gibt es diese Notwendigkeit nicht mehr, aber er hockt an seinem Platz für Generationen und rührt sich nicht. Es ist unfasslich." (S.69)

Drogen:
"Plötzlich ist der Trip wieder da. Nach acht Wochen die Farben erbleichen, die Landschaft beginnt zu schwimmen wie die Luft über der Autobahn bei großer Hitze. Farbränder an den Birken, Regenbogenfarben der Scheinwerfer. Ich las Learys Interview mit Paul Krassner. Und nach den bedrückenden Wochen hier atmete ich auf. Es tut so wohl, daran erinnert zu werden, was man damals erfuhr: dass zwei Milliarden Jahre menschlicher und biologischer Entwicklung aufstehen gegen die paar Jahrhunderte, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind.
Das Wertsystem verschiebt sich. Es ist das gleiche, wie wenn man zum ersten Mal klaut, zum ersten Mal abtreibt, zum ersten Mal begreift, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt. Man ist gefeit gegen alle neuen Suggestionen des Idealismus. Man wirft die Systeme in die Luft und sie fliegen davon, Spreu der Ideologie. Und die Materie bewegt sich ewig, atmet, lebt, verschiebt sich, stürzt ein und ballt sich, flieht vor sich selbst. Und wir sind ein Teil davon, jetzt, wo der Morgen beginnt, der Tag, mein Tag!
Im Fernsehen – Cocteau würde sofort die Koinzidenz bemühen – läuft ein Film über eine neue gefährliche Droge, auf die das RD von Los Angeles angesetzt wird. Und man sieht, den Kopf tief im Sand, einen jungen Amerikaner, der ins Innere der Erde blickt und das ewige Feuer sieht – und die faschistischen Bullen, die ihn packen, sein schönes, bemaltes Gesicht, den tiefen strahlenden Blick, den Glanz, /die Glätte des vom Geist belebten Ausdrucks: ihn schütteln, aus dem Trip zu reißen versuchen, ihn quälen, sadistisch mit jenem Spott, der die Ohnmacht der Bullen beweist. Nichts sonst. Er sagt wunderbare Sache: >Ich bin der Stuhl!< [...] Er umarmt den Baum, er schluckt die Rinde, er stößt sich an den Schreibtischen der Wache. Natürlich: sie sperren ihn ein, aber der Geist ätzt sich den Weg, schöner Vogel Quetzal, wir werden uns, der Freiheit beraubt, nicht töten, wir schmelzen, fließen durch die Mauern – das ist alles. Das System hat kein Argument auf seiner Seite, keins.
Kinder, Maler, Dichter: sie haben doch schon lange gewusst, dass sie Pferde blau sind und die Löwenflügel haben, dass das Weltall lebt.
Dann Jean Cau (un légume francais): >Meine Reaktionen waren intakt, aber als ich begriff, sie könnten nachgeben, entgleisen, da war das Schreckliche da. Man hatte ihn, da er als légume typique an einer LSD-Séance  als >Beobachter< teilnehmen wollte, 300 mg in den Wein getan, woraufhin er sofort zum Arzt rannte, sich Spritzen in den Arsch jagen ließ, um da rauszukommen. Er weigerte sich, von seinen Wertsystem, seinen Symbolen, seinen Metaphern runterzugehen, er ist krank, gestört, Ich-schwach, er kennt nur seine Vorurteile, in die er so vernarrt ist, dass er sich an sie klammert wie an etwas, was ihn retten könnte. Er ist davon überzeugt, dass er, Monsieur Jean Cau, nur in seiner Borniertheit bestehen kann. Oh, das Gefühl, sich an das sinkende Schiff zu klammern, von den Wellen losgerissen zu werden, übers Wasser zu treiben und zu merken, dass es trägt, dass es unendlich ist, dass man auch, wenn man tausend Meter tief sinkt, atmen kann, sehen kann, dass in dem / Moment, wo man fällt, die unendliche Liebe einen umfängt und behütet und trägt. Ja, Herr Cau, sehen Sie und Sie behaupten, wir >erleben eine Art von Katastrophe, in der die menschlichen Werte einfach ausgehöhlt werden<." (S. 97-99)

Während eines (Drogen-)Trips: "Wir sind Hitler."
"Ja, ich wusste genau, dass ich Hitler war, bis zum Gürtel, dass ich da nicht herauskommen würde, dass es ein Kampf auf Leben und Tod ist, der mein Leben verseucht, seine gottverdammte Existenz hat sich an meine geklebt wie Napalm, und wenn ich auch eigentlich ganz andere Sachen vorhabe, die Gräber der Inka zu sehen und am Fuß des Himalaya sitzend den Morgen erwarten, und >ich tue nichts und das Volk wandelt sich von selbst<, ich muss versuchen, die brennende Flamme zu löschen, aber es ist gar nicht Hitler, ist mein Vater, ist meine Kindheit, meine Erfahrung BIN ICH… "(S. 107)

"Und dann gab Joseph Göbbels seinen Kindern Gift, dann erschoss er seine Frau und sich und im Garten der Reichskanzlei schlugen, neben den brennenden Geheimakten, die Flammen über ihm zusammen und auf Berlin hämmerte die russische Artillerie, ganz Deutschland ein Feuermeer, holladihi! Wenn wir abtreten müssen, dann werden wir den sagt Deckel zuschlagen, dass es an den Westen des Himmels wieder halt! Ende. Sollten die deutschen unwürdig der Ihnen aufgetragenen geschichtlichen Mission, zu sehen, wie sie allein fertig würden, führerlos.

Und dann, nach dem pünktlichen Abendessen, während meine Mutter in der Küche und der Geruch angebrannten Lebkuchens durch die Flure zog, lag er auf dem durchgesessenen Biedermeiersofa, das Weinglas in der Hand, die Linke an den Eiern (Prostata). (S. 451/52)

"Wir richten den Blick nicht auf die Geschenktische, sondern verharren schweigend, in die Betrachtung des Baumes versunken. Die erzgebirgischer Klingelei läutet. Wir singen jetzt 'Stille Nacht', ein Lied, das wir uns für diese Stunde aufgespart haben. Dann greift mein Vater, der mit dem Rücken zum Baum, im unteren Teil der Halle steht, zur Bibel, einer Fassung für die Jugend, die er selbst bearbeitet hat. Während er liest, läuft in meinem Kopf der Originaltext "mit Maria, seinem vertrauten Weibe. Und als sie..", "und die war schwanger", denke ich. (Und die Hirten auf dem Felde, ihre wehenden Mäntel, die Eiskruste in den Bärten, und die Schafe stehen bis zu den Zitzen im torfigen Schnee.)
Kühle Luft kriecht in die weiten Hosenbeine meines schwarzen Tanzstunden- und Konfirmationsanzusg, die Heizungen sind abgestellt, der Baum darf nicht frühzeitig nadeln.(S. 459)

"Und während ich sang, dachte ich an das Gedicht, das mein Vater dem Führer gewidmet hatte, Fühl unsere Herzen schlagen, wie in Dein Herz gebannt und wage, was du mußt wagen, wozu dich Gott gesandt, und ich merkte, wie wir alle, die wir hier standen, in eins verschmolzen, das können Sie uns nicht nehmen.. (S. 460)

"Das Christentum zu bekämpfen war ein Fehler der Partei", sagte mein Vater. "Man kann nicht das alte deutsche Weihnachtsfest in ein heidnisches Lichtfest zurück verwandeln. Diesen Fehler haben Rosenberg und Bormann zu verantworten. Der Führer selbst war religiös, schon aus Ehrfurcht vor seiner Mutter, die eine fromme Frau war. Bormann war überhaupt in allen Dingen der böse Geist des Führers, der ihn zum Schluß sogar verrät. Der Führer hat von alledem nichts gewußt." (Was war das für ein Führer, der diese Verräter um sich herum nicht durchschaute?) "Luther und Bach waren Christen – waren sie keine guten Deutschen?" rief er, "ich habe schon 1935 mein "Bekenntnis" zum Christentum veröffentlicht. Dafür bin ich angefeindet worden. Ich habe ein Parteiverfahren gegen mich beantragt, denn im Programm steht, die Partei steht auf dem Boden eines positiven Christentums, man hat das Verfahren abgewürgt. Und was haben die Herren Widerständler getan, die mich heute wieder verfolgen?" Tränen traten ihm in die Augen, wenn er Musik hörte oder seine eigenen Gedichte vorlas. "Übrigens", sagte er, "Luther und Bach stammen aus denselben Dörfern wie die Vorfahren meiner Mutter, es ist gut möglich, daß wir mit ihnen verwandt sind." (S. 462)

"LSD kann eben so wenig zurückgenommen werden wie die neunte Sinfonie." (S. 505)

"1971 wurde Vesper in die Psychiatrie Haar bei München eingewiesen und anschließend in die Psychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf verlegt, wo er sich am 15. Mai 1971 mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben nahm." (Wikipedia:  Bernward Vesper)

08 August 2021

Daniela Krien: Der Brand

 Schriftstellerin Daniela Krien

Perlentaucher Rezensionen zu 4 Titeln

Perlentaucher Rezensionen zu Der Brand

Die ZEIT Rezension von Burkhard Müller

Müller ist etwas enttäuscht:: "Daniela Kriens letzter Roman, Die Liebe im Ernstfall, hatte die Liebe als ein großstädtisches Phänomen behandelt; fünf enger oder lockerer miteinander verbundene Frauen aus dem alternativen Milieu Leipzigs hatten darin mit wechselnden Männern ihr Glück gesucht, und es war in seiner komplexen, über mehrere Jahre geführten Anlage eine sehr anregende Studie über den Preis der Freiheit in einer Umwelt gewesen, in der alle Lebensentwürfe möglich geworden zu sein scheinen.

Schon der Schauplatz des neuen Buchs und die Art, wie sein Personal aufeinander bezogen ist, nämlich ganz überwiegend durch familiäre Bande, lassen erkennen, dass nun eine gewisse Reduktion von Komplexität eingetreten ist. Während Die Liebe im Ernstfall durch den weiten Umkreis seines Blicks einen multiplen Liebes-, einen Gesellschaftsroman zum Vorschein gebracht hatte, jene Gattung, die heute nötiger wäre denn je, kehrt Der Brand ins engere Bett von Partnerschaft, Ehe und Familie zurück; das heißt, zu einem Genre, an dem wahrlich kein Mangel herrscht. [...] Am Rande passieren immer noch Dinge, oder vielmehr sind Dinge passiert, die aufhorchen lassen, weil es auf einmal wirklich interessant wird. Peter bekommt Probleme an der Uni, weil er es, mehr aus Begriffsstutzigkeit als aus böser Absicht, unterlassen hat, eine*n nicht binäre*n Student*in so zu titulieren, wie sie/er es verlangt; ein Shitstorm hebt an, und er fühlt sich verkauft und verraten. Daraus hätte man was machen können, wie Philip Roth im Menschlichen Makel! Aber es wird nur als müde Anekdote erzählt, die dartun soll, warum ihn sein ganzes akademisches Dasein nicht mehr freut. [...] Nachdem man Kriens Roman zu Ende gelesen hat, neigt man fast zur Prognose, dass die Simplifizierung und Bequemlichkeit, die man sich in Corona-Zeiten hat zu eigen machen müssen, ihre lockende Kraft wohl auch dann behalten werden, wenn man im Prinzip wieder alles dürfte.

Es ist ein aktuelles, ein unausweichliches Buch, das zeigt, wie es gegenwärtig steht und deprimierenderweise vielleicht bleiben wird – aber gerade deshalb, weil es diesen Zustand als lebenspraktisches und literarisches Muster ratifiziert, leider kein eigentlich gutes."

Was für Müller nur eine "müde Anekdote" bleibt, war für Krien Ausgangspunkt des Erzählens:

„Bei zu vielen Themen ist es ein Eiertanz geworden, darüber zu sprechen“ 

FR 7.8.21 Interview mit Cornela Geißler über den Roman "Der Brand"

"[...] 

Was war das ursprüngliche Thema beim neuen Buch? Ein Paar, das in die Krise gerät, weil die Kinder aus dem Haus sind? 

 Nein, ich wollte darstellen, warum sich freiheitlich und liberal gesinnte Menschen in unserer Gesellschaft zunehmend fremd fühlen.* Das Paar hatte ich erst noch gar nicht. Erst wenn ich anfange zu schreiben, entstehen die Figuren. Bestenfalls sehe ich Bilder wie in einem Film. Figuren kristallisieren sich heraus, und dann komme ich mit ihnen ins Gespräch. Die Aspekte meines Themas ordne ich erst beim Schreiben selbst. Wenn ich dann fertig bin, fühle ich mich erstmal leer: Alles, was ich zuvor aufgesaugt hatte, ist dann ausgepresst.       * Hervorhebung von Fontanefan

 Sie erzählen hier chronologisch, schreiben Sie auch chronologisch?

Ich schreibe einmal durch, dann gehe ich zurück und überarbeite. Im Fall von „Der Brand“ war es ein schönes, leichtes Schreiben, es fügte sich alles gut. In der Überarbeitung streiche ich vor allem, denn ich möchte relativ wenig vorgeben, damit die Leser ihren eigenen Phantasie- und Deutungsraum behalten. Und vor allem will ich niemandem meine Meinung aufdrängen. [...]"

01 August 2021

INGEBORG BACHMANN

 Wikipediaartikel

 Ingeborg BachmannDie gestundete Zeit (1953) gilt als Antwort auf Corona von Celan
Text und Vortrag                          

Peter Hamm über den Briefwechsel Bachmann-Celan in ZEIT Nr.35 21.8.2008 "Wer bin ich für Dich?"

"[...] Mögen Liebe und Scheitern ohnehin Synonyme sein, im Falle dieser beiden Dichter wurde die Liebe über alles Scheitern hinaus zum Liebesmartyrium, bei dem sich die Geschichte als weitaus stärker erwies als die Liebesgeschichte. Wer wie Paul Celan in den Abgrund der Geschichte geblickt hatte und den Todeslagern, in denen seine Eltern ermordet wurden, nur knapp entgangen war, den trennte auch noch von dem ihm Liebsten dieser Abgrund, zumal wenn die Geliebte, wie Ingeborg Bachmann, die Tochter eines Nazis der ersten Stunde war. [...]

Da ihr eine Freundschaft, "die hinausgeht über Mitgefühl", nicht mehr möglich erscheint und ihr nach vielen Beleidigungen und Drohungen Celans – einmal nennt er sie seine Mörderin – auch das Mitgefühl fast abhandengekommen ist, rafft sie sich im September 1961 zu jenem todtraurigen (nie abgeschickten) Abschieds- und Abrechnungsbrief auf, in dem es heißt: 

"Ich bin oft sehr bitter, wenn ich an Dich denke, und manchmal verzeihe ich mir nicht, dass ich Dich nicht hasse… Ich denke viel an Gisèle und bewundere sie für eine Größe und Standhaftigkeit, die Du nicht hast… ich glaube, dass ihre Selbstverleugnung, ihr schöner Stolz und ihr Dulden vor mir mehr sind als Dein Klagen. Du genügst ihr in Deinem Unglück, aber Dir würde sie nie in einem Unglück genügen. Ich verlange, dass ein Mann genug hat an der Bestätigung durch mich, aber Du billigst ihr das nicht zu, welche Ungerechtigkeit."
Am 24. November 1965 begeht Celan einen Tötungsversuch an seiner Frau und wird danach in der Zwangsjacke in die Psychiatrie eingewiesen. Wieder entlassen, versucht er am 30. Januar 1967 erneut, Gisèle und den Sohn Eric zu töten, und wird erneut zwangseingewiesen. 
Nach dem letzten Zwangsaufenthalt in der Psychiatrie im Winter 1968/69 sucht er am 20. April den Tod in der Seine. 
'Die Liebe, zwangsjackenschön': Um die schreckliche Wahrheit dieser Zeile aus Celans Gedichtband Fadensonnen zu erfahren, braucht es nicht das Wissen um seine Zwangsaufenthalte in psychiatrischen Kliniken. Die Briefe, die sich Ingeborg Bachmann und Paul Celan geschrieben haben, bezeugen nichts anderes als diese Wahrheit."

kommentierte Linksammlung

Ich habe lange Schwierigkeiten gehabt, zu Ingeborg Bachmann einen Zugang zu finden. Jetzt versuche ich es mit einzelnen Absätzen aus ihren Erzählungen, die mir etwas sagen:

"Wenn einer in sein dreißigstes. Jahr geht, wird man ihn nicht aufhören, ihn jung zu nennen. Er selber aber, obgleich er keine Veränderungen an sich entdecken kann, wird unsicher; ihm ist, als stünde es ihm nicht mehr zu, sich für jung auszugeben. Und eines Morgens wacht er auf, an einem Tag, den er vergessen wird, und liegt plötzlich da, ohne sich erheben zu können, getroffen von harten Lichtstrahlen und entblößt jeder Waffe und jeden Muts für den neuen Tag." 

(Das dreißigste Jahr1961, I. Bachmann: Sämtliche Erzählungen, Piper 1992, S. 94)

"Wenn wir uns, wie zwei Versteinerte, zum Essen setzen oder abends an der Wohnungstür zusammentreffen, weil wir beide gleichzeitig daran denken, sie abzusperren, fühle ich unsere Trauer wie einen Bogen, der von einem Ende der Welt zum anderen reicht – also von Hanna zu mir –, und an dem gespannten Bogen einen Pfeil bereitet, der den unbewegten Himmel ins Herz treffen müsste. Wenn wir zurückgehen durch das Vorzimmer, ist sie zwei Schritte vor mir, sie geht ins Schlafzimmer, ohne 'Gute Nacht' zu sagen, Und ich flüchte in mein Zimmer, an meinen Schreibtisch, um dann vor mich hin zu starren, ihren gesenktem Kopf vor Augen und ihr Schweigen im Ohr. Ob sie sich hinlegt und zu schlafen versucht oder wach ist und wartet? Worauf? – da sie nicht auf mich wartet!"

(I. Bachmann: Sämtliche Erzählungen, Piper 1992, Alles, S. 138)

Einerseits sehr nah an alltäglicher Lebenssituation. Dann die starken (überstarken?) Metaphern. Und woher dieser Abstand?

"Das Kind, dass wir erwarteten, veränderte uns. Wir gingen / kaum mehr aus und vernachlässigten unsere Freunde; wir suchten eine größere Wohnung und richteten uns besser und endgültiger ein. Aber des Kindes wegen, auf das ich wartete, begann alles sich für mich zu verändern; ich kam auf Gedanken, unvermutet, wie man auf Minen kommt, von solcher Sprengkraft, dass ich hätte zurückschrecken müssen, aber ich ging weiter, ohne Sinn für die Gefahr.
Hanna missverstand mich. Weil ich nicht zu entscheiden wusste, ob der Kinderwagen große oder kleine Räder haben sollen, schien ich gleichgültig. (Ich weiß wirklich nicht. Ganz wie du willst. Doch, ich höre.) Wenn ich mit ihr in Geschäften herumstand, wo sie Hauben, Jäckchen und Windeln aussucht, zwischen Rosa und Blau, Kunstwolle und echter Wolle schwankte, warf sie mir vor, dass ich nicht bei der Sache sei. Aber ich war es nur zu sehr.
Wie soll ich bloß ausdrücken, was in mir vorging? Es erging mir wie einem Wilden, der plötzlich aufgeklärt wird, dass die Welt, in der er sich bewegt, zwischen Feuerstätte und Lager, zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, zwischen Jagd und Mahlzeit, auch die Welt ist, die Jahrmillionen alt ist und vergehen wird, die einen nichtigen Platz unter vielen Sonnensystemen hat, die sich mit großer Geschwindigkeit um sich selbst und zugleich um die Sonne dreht. Ich sah mich mit einem Mal in anderen Zusammenhängen, mich und das Kind, das zu einem bestimmten Zeitpunkt, Anfang oder Mitte November, an die Reihe kommen sollte mit seinem Leben, genauso wie einst ich, genau wie alle vor mir." 

(I. Bachmann: Sämtliche Erzählungen, Piper 1992, AllesS. 138/39)


"Ihr Menschen! Ihr Ungeheuer!

Ja ungeheuer mit Namen Hans! Mit diesem Namen, den ich nie vergessen kann.
Immer wenn ich durch die Lichtung kam und die Zweige sich öffneten, wenn die Ruten mir das Wasser von den Armen schlugen, die Blätter mir die Tropfen von den Haaren leckten, traf ich auf einen, der Hans hieß.
Ja, diese Logik habe ich gelernt, Dass einer Hans heißen muss, dass ihr alle so heißt, einer wie der andere, aber doch nur einer. Immer einer nur ist es, der diesen Namen trägt, den ich nicht vergessen kann und wenn ich euch auch alle vergesse, ganz und gar vergesse, wie ich euch ganz geliebt habe. Und wenn eure Küsse und euer Samen von den vielen großen Wassern – Regen, Flüssen, Meeren – längst abgewaschen und fortgeschwemmt sind, dann ist doch der Name noch da, der sich fortpflanzt unter Wasser, weil ich nicht aufhören kann, ihn zu rufen, Hans, Hans ..." (S.253) 

"Ihr Ungeheuer mit euren Frauen! 

Hast du nicht gesagt: es ist die Hölle, und warum ich bei ihr bleibe, das wird keiner verstehen. Hast du nicht gesagt: meine Frau, ja sie ist ein wunderbarer Mensch, ja sie braucht mich, wüsste nicht wie ohne mich leben –? Hast du’s nicht gesagt! Und hast du nicht gelacht und mit Übermut gesagt: niemals schwer nehmen, nie dergleichen schwer nehmen. Hast du nicht gesagt: so soll es immer sein, und das andere soll nicht sein, ist ohne Gültigkeit! Ihr Ungeheuer mit euren Redensarten, die ihr die Redensarten der Frauen sucht, damit euch nichts fehlt, damit die Welt rund ist. Die ihr die Frauen zu euren Geliebten und Frauen macht, Eintagsfrauen, Wochenendfrauen, Lebenslangfrauen und euch zu ihren Männern machen lasst. (Das ist vielleicht ein Erwachen wert!) Ihr mit eurer Eifersucht auf eure Frauen, mit eurer hochmütigen Nachsicht und eurer/Tyrannei, eurem Schutzsuchen bei euren Frauen, ihr mit eurem Wirtschaftsgeld und euren gemeinsamen Gutenachtgesprächen, diesen Stärkungen, dem Rechtbehalten gegen draußen, ihr mit euren hilflos gekonnten, hilflos zerstreuten Umarmungen. Das hat mich zum Staunen gebracht, dass ihr euren Frauen Geld gebt zum Einkaufen und für die Kleider und für die Sommerreise, da ladet ihr sie ein, (ladet sie ein zahlt, es versteht sich). Ihr kauft und lasst euch kaufen. Über euch muss ich lachen und staunen, Hans, Hans, über euch kleine Studenten und brave Arbeiter, Die ihr euch Frauen nehmt zum Mitarbeiten, da arbeitet ihr beide, jeder wird klüger an einer anderen Fakultät, jeder kommt voran in einer anderen Fabrik, da strengt ihr euch an, legt das Geld zusammen und spannt euch vor die Zukunft." 

(I. Bachmann: Sämtliche Erzählungen, Piper 1992, Undine geht S.255/56)

Bei diesen Erzählungen ist die Wikipedia durchaus hilfreich.