Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart
1. Eintracht und Streit in der Familie . . . . . . . . . . . 19
Der große und der kleine Bruder . . . . . . . . . . . . . 19
Die Großrussen und die Kleinrussen . . . . . . . . . . 25
2. Die gemeinsame Wiege der Kyjiver Rus’ . . . . . 28
Der Erbstreit der Historiker . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
Der Erbstreit der Politiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
3. Mongolen und Polen – Asien und Europa: Die Geschwister gehen getrennte Wege (14. bis 17. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
Danylo von Galizien-Wolhynien und Alexander Nevskij . . . . . . 38
Der Aufstieg Moskaus und die Herausbildung des Zarenreichs. . . 43
Die Ukraine unter litauischer und polnischer Herrschaft . ............46
Kirchenunion von Brest 1596, Ukrainische griechisch-katholische Kirche
Die ukrainischen Kosaken und die Revolution von 1648 . . . . . . . .51
Starker Staat – libertäre Gesellschaft, belagerte Festung – Orientierung nach Europa . 53
4. Die Annäherung der Ukraine an Russland und die Integration der «Kleinrussen» in das Imperium der Zaren (17. bis frühes 19. Jahrhundert) . .. . . . . . . . . . . . . . . . . 56
Die Vereinbarung von Perejaslav und der Beginn der Herrschaft Russlands über die Ukraine 59 Peter der Große, Mazepa und das Ende des ukrainischen Kosakentums . . . . . . . . . . . . 65 Doch Angehörige einer ukrainischen Kosakenfamilie erlebten unter der Kaiserin Elisabeth einen auffallenden Aufstieg: Alexei Grigorjewitsch Rasumowski, Kirill Grigorjewitsch Rasumowski (S.71), Andrei Kirillowitsch Rasumowski (S.72)
Die Ukrainisierung der russischen Kultur . .. . . . . . . . . . . . . . . . . 72 "Im 18. Jahrhundert kamen etwa 60 Prozent der Bischöfe des Imperiums aus der Ukraine und Weißrussland." (S.73) Feofan Prokopovyč . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 "Ausgerechnet ein ukrainischer Absolvent der Kijiver Akademie wurde so zum wichtigsten frühen Ideologen des autokratischen Absolutismus in Russland. [...] Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts hob sich die linksufrige Ukraine von Russland durch ein merklich höheres Bildungsniveau ab, wie ausländische Beobachter bestätigten. Sie wies ein recht breites Netz von Kirchenschulen auf, an denen auch Mädchen ausgebildet wurden." (S.75/76)
"Im Laufe des 18. Jahrhunderts erlebte die auf Mittel- und Westeuropa ausgerichtete weltliche Bildung und Kultur auch in Russland einen raschen Aufschwung. Die Kijiver Akademie und die anderen Bildungsstätten in der Ukraine sanken dagegen zu Priesterseminaren ab, während die weltliche höre Bildung seit dem Jahr 1755, als die Universität Moskau gegründet wurde, immer mehr von russischen Institutionen übernommen wurde. Allerdings wurde die zweite (russischsprachige) Universität des Imperiums 1805 in Charkiv gegründet, wo sie auf dem dortigen Collegium aufbauen konnte. Trotzdem beraubte der ständig zunehmende Brain Drain die Ukraine zahlreicher Gebildeter. In der Mitte des 18. Jahrhunderts drehte sich die Richtung des Kulturtransfers um, und die Ideen der französischen Aufklärung kamen nicht mehr über die Ukraine nach Russland, sondern über St. Petersburg in die Ukraine. Die Bildungssprachen waren nicht mehr Latein und Kirchenslawisch, sondern Deutsch, Französisch und zunehmend Russisch. (S.76/ 77)
Die Expansion Russlands ans Schwarze Meer und in die rechtsufrige Ukraine . . .. . . . . . 77 "Der Steppengürtel nördlich des schwarzen Meeres war seit der Antike Durchzugsgebiet aus Asien kommender Reiternomaden gewesen. Seit dem 15. Jahrhundert stand er unter der Herrschaft der Krimtataren, deren Khan Vasall des Osmanischen Reiches war. Die Region war landwirtschaftlich nicht erschlossen und kaum besiedelt. Lediglich die Saporoger Kosaken hatten am Unterlauf des Dnjepr Fuß gefasst. Sie standen in ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen (aber auch in Handelsbeziehungen) mit den Krimtataren und fuhren mit ihrem kleinen Booten auf das Schwarze Meer, wo sie osmanische Galeeren kaperten und Hafenstädte ausraubten.
Die Entdeckung Kleinrusslands durch die Russen um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Im Geiste Rousseaus wurde die Ukraine als einfaches, moralisch reines, von der Zivilisation nicht verdorbenes Volk und ihr Leben als ländliche Idylle idealisiert. Die ukrainischen Bauern erschienen als Kinder der Natur, als ehrlich, fröhlich, treu, offen, gastfreundlich, musikalisch, emotional und tief religiös. [...] Man kann von einer Kleinrussland-Mode im Russland der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprechen. Nicht nur die Reiseberichte, sondern auch die wichtigsten russischen Zeitschriften der ersten vier Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, sowohl konservativer wie liberaler Ausrichtung, zeichneten ein überwiegend positives Bild von der Ukraine. [...]
Die Ukrainer seien in ihrer Entwicklung stecken geblieben und hätten es nicht verstanden, eine gebildete Elite, eine höhere Zivilisation und einen Staat zu schaffen. Die idealisierten traditionellen Sitten wurden somit umgedeutet zu Rückständigkeit, Ignoranz und Aberglauben. Das häufigste Attribut, dass russische Beobachter den Ukrainern zuschrieben, war deren Trägheit und Faulheit." (S.83)
5. Zwei verspätete Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
Russland und die Ukraine existieren als Nationalstaaten erst seit einem Vierteljahrhundert. Sie sind junge, verspätete Nationen [...] Dass die Ukrainer eine verspätete Nation sind, ist evident. Sie wurde nach dem plötzlichen Erscheinen des Nationalstaats auch als 'unerwartete Nation' bezeichnet, und es wird sogar bestritten, dass sie überhaupt eine Nation sein. 'Die Ukraine ist ein unabhängiger Staat, der kein Nationalstaat ist. Zwischen Historikern ist umstritten, ob es überhaupt eine ukrainische Nation gibt', so der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt [...] kurz nach der Annexion der Krim durch Russland. [...]
Nicht selbstverständlich ist dagegen die These von den Russen als einer verspäteten Nation. Im Gegensatz zur Ukraine verfügt Russland über eine seit dem Mittelalter ununterbrochene staatliche Tradition, und bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion lebten fast alle Russen in einem Staat zusammen. Allerdings war der Staat nicht, wie in Westeuropa, der Kern, sondern der wichtigste Hemmschuh für die russische Nationsbildung [...]. Gerade der übermächtige, territorial riesige Stadt, das russländische Imperium [...] und die Sowjetunion behinderten die Formierung einer russischen Nation [...] Die autoritären Regime der Zaren und Sowjets verhinderten eine demokratische Entwicklung, eine politische Emanzpation der russischen Gesellschaft und ihre Integration zu einer Staatsbürgernation, Die Multiethnizität und die soziale Polarisierung standen der Bildung einer ethnischen Nation im Weg.". (S.85/86)
Prozesse der Nationsbildung in der Vormoderne . . 87
6. Ein asymmetrisches Verhältnis: Russen und Ukrainer im Russländischen Reich im 19. und frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Russische Stadt – ukrainisches Dorf . . . . . . . . . . . 114 Hierarchie der Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Wechselseitige Perzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Akkulturation und doppelte Identität . . . . . . . . . 124 War die Ukraine eine Kolonie Russlands? . . . . . . . 130
7. Die Russische und die Ukrainische Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . 132
In der Zeit von 1917-1922 herrschten in der Ukraine unübersichtliche und zeitlich rasch wechselnde Machtverhältnisse:
Die national-ukrainisch orientierten Kräfte des Bürgertums und der Intelligenz, die Mittelmächte, die weißen Truppen [Deniken, Wrangel], die die russische Revolution annullieren wollten, die ukrainischen Bauern, die weitgehend russischen, bolschewistisch orientierten Arbeiter, die provisorische russische Regierung ab Februar 1917, die Rote Armee der Sowjetunion. (Eine gewisse Sonderrolle spielte die im November 1918 in Lemberg ausgerufene Westukrainische Volksrepublik (S.142) der Ruthenen/Ukrainer im Bereich der Habsburger Monarchie. [Einen groben Überblick liefern die Seiten 132-149 und im Internet die betreffenden Artikel, die nur zum Teil verlinkt sind, einiges ist dort genauer dargestellt als im Buch.]
Die Russische Revolution (Februar 1917 bis März 1918) . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Die Ukrainische Zentralrada und ihr Verhältnis zu Petrograd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Die Ukrainische Volksrepublik [UNR] zwischen den «roten» und den «weißen»* Russen.141 *"Die Weißen, deren bewaffneter Arm die Weiße Armee war, vereinten politisch sehr unterschiedliche Kräfte der russischen Gesellschaft, deren Vorstellungen über die Methoden, die Richtung und die Ziele des Kampfes gegen Sowjetrussland stark differierten." Weshalb gelang es den Bolschewiki, den Bürgerkrieg zu gewinnen und die Herrschaft über den größten Teil der Ukraine zu erringen? . .(NÖP) . . . . ................................................146 "[...] die Ukrainer waren nach 1918 das größte Volk Europas ohne Nationalstaat." (S.147)
8. Russen und Ukrainer in der sowjetischen «Völkerfamilie» . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Die Gründung der Ukrainischen und der Russländischen Sowjetrepublik . . . . . . . . . . . 151 Korenizacija und Ukrainisierung . .[unter Stalin zurückgenommen] . . . . . . . . . . . .155 Der ukrainische Nationalkommunismus . [ Skrypnyk;S.163/64] . . . . . . . . 162 Industrialisierung, Zwangskollektivierung und Hungersnot (Holodomor) . . . . . . . . . . . . . . . 165
Im Gefolge des Hitler – Stalin – Paltes (und seines Zusatzprotokolls) besetzte die Rote Armee im September 139 das östliche Polen und mit ihm Galizien und West-Wolhynien. Galizien hatte nie zum Zarenreich gehört." ( S.178)
Großer Vaterländischer Krieg oder antisowjetischer Befreiungskampf . . . . . . . . . . . . . 175
"Nicht nur in der Westukraine, sondern auch in den zentralen Regionen, die als Reichskommissariat Ukraine organisiert wurden, und im Osten, der der Militärverwaltung unterstellt war, arbeiteten zahlreiche Ukrainer als Hilfswillige für die Deutschen, in der Hilfspolizei, in Schutzmannschaften und in der Lokalverwaltung. Dabei wurden sie in der Regel gegenüber ethnischen Russen bevorzugt. Unter der breiten Bevölkerung zerstörte die brutale deutsche Besatzungspolitik aber rasch anfängliche Illusionen. (S. 180)
Von der Völkerfamilie zum Sowjetvolk . . . . . . . . . 183 Russland und die Ukraine als Totengräber der Sowjetunion . . . . . . . . .. . . . . . . 192
Die Reformen, die der 1985 zum Generalsekretär der KPDSU gewählte Gorbacev (geb. 1931) [Gorbatschow] unter den Slogans Perestroika (Umbau) und Glasnost' (Transparenz) anstieß und die eine Modernisierung der Sowjetunion, deren wirtschaftliche Rückständigkeit immer offensichtlicher geworden war, zum Ziel hatten, führten in wenigen Jahren zu einer schweren Wirtschaftskrise und zur Delegitimierung der sowjetischen Ordnung. In heftigen Geschichtsdiskussionen fiel ein ideologisches Tabu nach dem anderen, und selbst der Gründungsmythos der Oktoberrevolution und die Person Lenins gerieten unter Beschuss. 1989 wurden erstmals seit 1917 weitgehende freie Parlamentswahlen durchgeführt [...]" (S. 192)
9. Feindliche Brüder? Die Konfrontation der beiden postsowjetischen Staaten . . . 199 Die Unabhängigkeit der Ukraine und die Reaktion Russlands . . .. . . . . . . 199 Kontroversen und Kompromisse . . . . . . . . . . . . . 203
"Dabei blieb der Begriff Russen mehrdeutig. Um Staatsbürger konnte es sich nicht handeln, denn eine russlandische Staatsbürgerschaft gab es erst nach dem Ende der Sowjetunion. Gemeint waren mit Russen die Personen russischer Nationalität oder/und die Russischsprachigen. Die Nationalität war nur in der Sowjetunion eine offizielle, in den Volkszählungen erhobene und im Inlandpass eingetragene Kategorie, die in der Regel vererbt wurde, im Fall von Mischeben auch geändert werden konnte. Sie war nicht gleichzusetzen mit der Kategorie der Mutter- oder Umgangssprache, die in den Volkszählungen ebenfalls erhoben wurde. So wurden die Juden der Sowjetunion als eigene Nationalität geführt, obwohl fast alle Russisch als Muttersprache hatten. In der unabhängigen Ukraine machten die Angehörigen der ukrainischen Nationalität 78 Prozent aus, doch war etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung vorwiegend russischsprachig, wobei Zweisprachigkeit weit verbreitet war. Die Kategorie der Nationalität verlor in den postsowjetischen Staaten ihren offiziellen Status, doch wurde sie in den Zählungen weiter erhoben, und sie wurde als politische Waffe eingesetzt. (S.207)
Die Orange Revolution von 2004: Juščenko, Janukovyč und Putin . 212 Die Revolution des Euro- Majdan . . .219 Das militärische Eingreifen Russlands – Versuch einer Deutung . . . . .222 Putins Begründungen zur Rechtfertigung des Anschlusses der Krim . 226
10. Feinde statt Brüder: Russlands Krieg gegen die Ukraine . . . . .232
Die Ukraine und Russland in der ersten Phase des Krieges (2014 bis 2021) . 232
Der Krieg im Donbass veränderte die Einstellung der ukrainischen Bevölkerung zu Russland und den Russen. Die meisten Ukrainer, auch im Osten und Süden des Landes, betrachteten die Russen nun nicht mehr als Brüder, sondern als Feinde. [...] Die ukrainische Regierung ergriff Maßnahmen gegen die russische Propaganda und schränkte die Tätigkeit russischer und teilweise auch russischsprachiger Medien ein. Manche Ukrainer, vor allem Bewohner der umkämpften Gebiete im Donbass, die unter dem Krieg besonders litten und sich teilweise von Kyjiv im Stich gelassen fühlten, glaubten der durch das russische Fernsehen verbreiteten Propaganda, laut der die Ukraine der Aggressor sei." (S.234)
Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine im Jahr 2022 . . 242 Putins Begründungen und Rechtfertigungen des Kriegs . . . . . . . 255
11. Russland, die Ukraine und Europa . . . . . . . . . . 264