19 Dezember 2024

Ergänzendes zu Hermann Hesse

Geschätzt wird auch von Kennern Die Morgenlandfahrt, die ich wohl nie ganz durchgelesen habe. Man kann sie als Vorstufe zum Glasperlenspiel sehen, sie hat aber als biographisches Zeugnis eine größere Aussagekraft. Denn zentral ist für die Morgenlandfahrt auch die Gemeinschaft vom Monte Verità. Hesse "entschuldigt" sich darin sozusagen, dass er es nicht bei dieser Gemeinschaft aushielt. 

Hesse hat Zeiten gehabt, wo er - z.B. in den USA - Furore gemacht hat, Zeiten, wo er in Deutschland wegen seiner Kritik am 1. Weltkrieg geradezu verfemt war, er wurde al medioker und kitschig angesehen. Er ist kein Superstilist und seine Werke sind nicht so welthaltig wie etwa die von Thomas Mann oder Fontane, sein Gedicht "Stufen" war aber bei einer Umfrage ums Jahr 2000 das beliebteste der befragten Deutschen (wer beteiligt sich schon bei einer solchen Umfrage?). Als Jugendlicher hat mich Demian fasziniert, meine Tochter war es von Siddharta. Seine menschliche Haltung gefällt mir sehr gut, als Ehemann und als Zeitgenosse war er wohl eher eine Zumutung.

Keiner von den ganz Großen, aber ein ungewöhnlich guter Kenner der Weltliteratur.


17 Dezember 2024

Jean Paul: Die unsichtbare Loge

 Dieser Versuch mit einem Roman von Jean Paul (Die unsichtbare Loge)* schlug fehl. Zwar habe ich inzwischen einige Romane von ihm gelesen und hier dokumentiert; aber gerade der Roman, mit dem er seinen Durchbruch als Schriftsteller hatte, hat mich geschafft. [Vgl. unten allerdings den Hinweis, wie ich wieder hineingefunden habe.]

Gut, das zu erleben und Jugendlichen nachzufühlen, was literarische Werke für eine Zumutung sein können, wenn man sich nicht auf sie einlassen kann.

Gerade hatte ich mit Grausen festgestellt, dass der Autor von dem sich jemand auf gutefrage.net weitere Texte der Art wünscht, Sebastian Fitzek ist, der Psychothriller schreibt, hatte ich - gerade etwas angeschlagen - nach etwas Langweiligem gesucht und nun das. 

Dabei wäre es völlig falsch, anzunehmen, ich hielte nichts von Jean Paul. Aber ähnlich wie Arno Schmidt verlangt er Lesern etwas ab, das sie ihm erst, wenn er sie für sich gewonnen hat, geben können. Sie müssen seine Schreibart genießen, und das ist mir auch nach mehreren Romanen nicht gelungen.

*"Die Reihe seiner schriftstellerischen Erfolge begann 1793 mit dem Roman Die unsichtbare Loge. Jean Paul hatte dem Schriftsteller Karl Philipp Moritz das Manuskript geschickt, und Moritz zeigte sich begeistert: „Ach nein, das ist noch über Goethe, das ist was ganz Neues!“, soll er gesagt haben, und durch seine Vermittlung fand das Buch rasch einen Verlag in Berlin. In Die unsichtbare Loge verwendete Jean Paul, der seine Arbeiten zuvor unter dem Pseudonym J. P. F. Hasus geschrieben hatte, aus Bewunderung für Jean-Jacques Rousseau erstmals den Namen Jean Paul. Doch Die unsichtbare Loge blieb ein Fragment, denn ..." (Wikipedia)

Zitate:

"Gewisse Schönheiten, wie gewisse Wahrheiten – wir Sterbliche halten beide noch für zweierlei – zu erblicken, muß man das Herz ebenso ausgeweitet und ausgereinigt haben wie den Kopf...". (S.23 in der Kindle-Ausgabe)

"Nach wenigen Schritten und Worten ist die Vorrede aus, auf die ich mich so lang gefreuet, und der Schneeberg da, auf dem ich mich erst freuen soll. – Es ist gut, wenn ein Mensch seine Lebensereignisse so wunderbar verflochten hat, daß er ganz widersprechende Wünsche haben kann, daß nämlich der Vorredner dauere und der Schneeberg doch komme." (S.26)

"Verlobung-Schach – graduierter Rekrut – Kopulier-Katze 

Meines Erachtens war der Obristforstmeister von Knör bloß darum so unerhört aufs Schach erpicht, weil er das ganze Jahr nichts zu tun hatte als einmal darin der Gast, die Santa Hermandad und der teure Dispensationbullen-Macher der Wildmeister zu sein. 

Der Leser wird freilich noch von keiner so unbändigen Liebhaberei gehört haben, als seine war. Das wenigste ist, daß er alle seine Bediente aus dem Dorfe Strehpenik verschrieb, wo man durch das Schach so gut Steuerfreiheit gewinnt als ein Edelmann durch einen sächsischen Landtag, damit er (obwohl in anderem als katonischen Sinne) ebenso viele Gegner als Diener hätte – oder daß er und ein oberysselscher Edelmann in Zwoll mehr Postgeld verschrieben als verreiseten, weil sie Schach auf 250 Meilen nicht mit Fingern, sondern Federn zogen (S.28)

"Aber ich und der Leser wollen über die ganze spielende Kompagnie wegspringen und uns neben den Rittmeister von Falkenberg stellen, der bei dem Vater steht und auch heiraten will. Dieser Offizier – ein Mann voll Mut und Gutherzigkeit, ohne alle Grundsätze als die der Ehre, der, um sich nichts hinter seine Ohren zu schreiben, die sonst bei einiger Länge das schwarze Brett und der Kerbstock empfangner Beleidigungen sind, lieber andre Christen hinter die ihrigen schlug, der feiner handelte, als er sprach, und dessen Kniestück ich nicht zwischen diesen zwei Gedankenstrichen ausbreiten kann – warb in dieser Gegend so lange Rekruten, bis er selber wollte angeworben sein von Ernestinen. Er haßte nichts so sehr als Schach und Herrnhutismus; indessen sagte Knör zu ihm: »abends um 12 Uhr fingen, weil er so wollte, die sieben Spiel-Turnierwochen an, und wenn er nach sieben Wochen um 12 Uhr die Spielerin nicht aus dem Schlachtfelde [...] (S. 28)

" [...] Brautbette hineingeschlagen hätte: so tät' es ihm von Herzen leid, und aus der achtjährigen Erziehung brauchte dann ohnehin nichts zu werden.« 

Die ersten 14 Tage wurd' in der Tat zu nachlässig gespielt und – geliebt. Allein damals hatten weder andre gescheite Leute noch ich selber jene hitzigen Romane geschrieben, wodurch wir (wir habens zu verantworten) die jungen Leute in knisternde, wehende Zirkulieröfen der Liebe umsetzen, welche darüber zerspringen und verkalken und nach der Trauung nicht mehr zu heizen sind. Ernestine gehörte unter die Töchter, die bei der Hand sind, wenn man ihnen befiehlt: »Künftigen Sonntag, so Gott will, werde um 4 Uhr in den Herrn A-Z, wenn er kommt, – verliebt.« Der Rittmeister biß im Artikel der Liebe überhaupt weder in den gärenden Pumpernickel der physischen – noch in das weiße kraftlose Weizenbrot der parisischen – noch in das Quitten- und Himmelbrot der platonischen, sondern in einen hübschen Schnitt Gesindebrot der ehelichen Liebe: er war 37 Jahre alt. Sechzehn Jahre früher hatt' er sich einen Bissen vom gedachten Pumpernickel abgeschnitten: seine Geliebte und sein und ihr Sohn wurden nachher vom ehrlichen Kommerzien-Agenten Röper geheiratet." (S.29)

"am Ende kehren Weiber und Ruderknechte allzeit eben den Rücken dem Ufer zu, an das sie anzurudern streben) " (S.31)

"Heute spielten wir oben im sinesischen Häuschen. Da die Abendröte, die gerade in sein Gesicht hineinfiel, verwirrte Schatten unter die Figuren warf und da mich sein rechter Zeigefinger dauerte, der von einem Säbelhiebe eine rote Linie hat und der auf der Schachbande auf lag: so kam ich aus Zerstreuung wahrhaftig um meine Königin, [...]" (S.45)

Dritter Sektor oder Ausschnitt 

Unterirdisches Pädagogium – der beste Herrnhuter und Pudel Jetzo 

(Norbert Miller (Hrsg.): Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung. Mumien. in: Jean Paul: Sämtliche Werke. Abteilung I. Erster Band, S.42)

"Ich weiß dein ganzes Leben voraus, darum beweget mich die klagende Stimme deiner ersten Minute so sehr; ich sehe an so manchen Jahren deines Lebens Tränentropfen stehen, darum erbarmet mich dein Auge so sehr, das noch trocken ist, weil dich bloß dein Körper schmerzet – ohne Lächeln kommt der Mensch, ohne Lächeln geht er, drei fliegende Minuten lang war er froh." (dito, S.42)

Und jetzt von Hedwig Storch für die Wikipedia ausgesuchte Aphorismen aus dem Buch:

Alles Schöne aber ist sanft[36].
Alles Große oder Wichtige bewegt sich langsam… – die Wolken bei schönem Wetter[37].
Der Mensch ist nie so schön, als wenn er um Verzeihung bittet oder selber verzeiht[38].
Der innere Mensch hat keine Zunge[39].

In einer Nachtstunde und von einer Trauerbotschaft ganz aus dem Tagegeschäft herausgerissen, überdies in der Lage, im Buch hin- und her- zu blättern, bin ich wieder besser in der Lage, den Geist zu schätzen, der bei Jean Paul überall herausblitzt, aber es so schwer macht, in die Texte zu finden. 
Also Folgendes (im 20. Sektor) ließ sich wieder gut lesen, und ich kann mir die Frauenzimmer der Zeit gut vorstellen, wie sie sich an dem Geist erfreut haben:
Zwanzigster Sektor

[171] Das zweite Lebens-Jahrzehend – Gespenstergeschichte – Nacht-Auftritt – Lebensregeln


Oefel hielt Wort. Vierzehn Tage darauf schrieb uns der Professor Hoppedizel, er werde den neuen Kadetten abholen. – – Nun wurde unser bisheriger Wunsch unsre Pein. Gustavs und mein Bund sollte auseinandergedehnt und verrenkt werden; jedes Buch, das wir nun zusammen lasen, kränkte uns mit dem Gedanken, daß es jeder allein zu Ende bringen würde; ich wollte meinem Gustav kaum etwas mehr lehren, dessen Ausbau ich an fremde Architekten übergeben mußte, und jeder schöne Blumenplatz war uns die Gartentür des Edens, die ein bewaffneter Cherub abschloß.[171] Die Sturmmonate seines Herzens rückten nun auch näher. Ich hatte ohnehin den Flügeln seiner Phantasie nicht Federn genug ausgerisssen und ihn aus seiner Einsamkeit nicht oft genug verjagt. In dieser trieb seine Phantasie ihre Wurzeln in alle Fibern seiner Natur hinein und verhing mit den Blüten, die seinen Kopf auslaubten, die Eingänge des äußern Lichts. -

Wahrhaftig weder der klappernde Mentor noch seine Bücher, d.h. weder die Gartenschere noch die Gießkanne sättigen und färben die Blume, sondern der Himmel und die Erde, zwischen denen sie steht – d.h. die Einsamkeit oder Gesellschaft, in der das Kind seine ersten Knospen-Minuten durchwächset. Gesellschaft treibt im Alltagkind, das seine Funken nur an fremden Stößen gibt. Aber Einsamkeit zieht sich am besten über die erhabnere Seele, wie ein öder Platz einen Palast erhebt; hier erzieht sie sich unter befreundeten Bildern und Träumen harmonischer als unter ungleichartigen Nutzanwendungen. Um so mehr haben General-Akziskollegien darauf zu sehen, daß große poetische Genies – im Grunde taugt keines zu einem gescheiten Kammer- oder Kanzleiverwandten – vom zehnten Jahre bis zum fünfunddreißigsten in lauter Besuch-, Schreib- und Votierzimmern herumgehetzet werden, ohne in eine stille Minute zu kommen; sonst ist keines in einen Archivar oder Registrator umzusetzen. [Hier höre ich Werthers Klagen aus Goethes Jugendroman.] Daher hält auch das Marktgetöse der großen Welt allen Wuchs der Phantasie so glücklich am Boden.

Daran dacht' ich oft und warf mir manches vor. Würde nicht (hielt ich mir vor) ein gründlicherer Schulkollege deinen Gustav, wenn er mit dem Rücken auf dem Grase liegt und in den blauen Himmelkrater hinaufzusinken oder auf Flügeln an den Schulterblättern durch das All zu schwimmen träumt, mit dem Spazierstock an ein Buch von Nutzen treiben? Und, sagt' ich, wenn ich zum gründlichern Kollegen sagte, es sei einerlei, woran eine kindliche Phantasie sich aufwinde, ob an einem lackierten Stäbchen, oder an einer lebendigen Ulme, oder an einem schwarzen Räucherstecken: würde der Kollege nicht witzig versetzen, eben deshalb, es sei also einerlei? –

Inzwischen besäß' ich meines Orts auch Witz; ich würde auf [172] die Replik verfallen: »Glauben Sie denn, Herr Konfrater, daß unter dem größten Spitzbuben und dem größten komischen Dichter, den Sie vertieren, ein Unterschied ist? – Allerdings; ein guter Plan des Cartouche ist von einem guten Plan des Dichters Goldoni darin verschieden, daß der erste die Komödie selber ausführet, die der letzte von Schauspielern ausführen lässet.«

Gustav war jetzt in der Mitte des schönsten und wichtigsten Jahrzehends der menschlichen Flucht ins Grab, im zweiten nämlich. Dieses Jahrzehend des Lebens besteht aus den längsten und heißesten Tagen; und – wie die heiße Zone zugleich die Größe und den Gift der Tiere mehrt – so kocht sich an der Jünglingglut zwar die Liebe reif, die Freundschaft, der Wahrheit-Eifer, der Dichtergeist, aber auch die Leidenschaften mit ihren Giftzähnen und Giftblasen. In diesem Jahrzehend schleicht das Mädchen aus ihren durchlachten Jahren weg und verbirgt das trübere Auge unter derselben hängenden Trauerweide, worunter der stille Jüngling seine Brust und ihre Seufzer kühlt, die für etwas Nähers steigen als für Mond und Nachtigall. Glücklicher Jüngling! in dieser Minute nehmen alle Grazien deine Hand, die dichterischen, die weiblichen und die Natur selber, und legen ihre Unsichtbarkeit ab und schließen dich in einen Zauberkreis von Engeln ein. Ich sagte: selber die Natur; denn an ihr glühen noch höhere Reize als die malerischen; und der Mensch, für dessen Auge sie ein meilenlanges Kniestück voll Zaubereien war, kann ihr ein Herz mitbringen, das aus ihr ein Pygmalions-Gebilde macht, welches tausend Seelen hat und mit allen eine umschlingt .... O sie kehrt niemals, niemals wieder, die zweite Dekade des armen Lebens, die mehr hat als drei hohe Festtage: ist sie vorüber, so hat eine kalte Hand unsre Brust und unser Auge berührt; was noch in diese dringt, was noch aus ihnen dringt, hat den ersten Morgenzauber verloren, und das Auge des alten Menschen öffnet sich dann bloß gegen eine höhere Welt, wo er vielleicht wieder Jüngling wird!

Drei Tage, eh' der Professor kam, war Gespensterlärm im Schloß; zwei Tage vorher währte er noch fort; einen Tag zuvor machte der Rittmeister Anstalten zur Entdeckung der Schelmerei. Er hatte einen Wasserscheu vor Gespenstergeschichten und gab[173] jedem Bedienten, der eine wie Bokaz erzählte, als ein Honorar seiner Novelle nach der Bogenzahl Prügel. Die Rittmeisterin ärgerte ihn durch ihren Leichtglauben, und sie bekam oft den Blick von ihm, den Männer werfen, wenn die Hoffnungen oder Befürchtungen ihrer Weiber Hasensprünge wie Erdhalbmesser tun. – Sie hatte nachts ein dreifüßiges Gehen durch den Korridor gehört, ein Blitz war durch ihr Schlüsselloch gefahren, und eine andre Taschenuhr als ihre hatte 12 geschlagen, und alles war verflogen. [...]" (Zeno 20. Sektor)

Zwei  Apercus Jean Pauls möchte ich aus diesem "20. Sektor" hervorheben:

"Die Rittmeisterin ärgerte ihn durch ihren Leichtglauben, und sie bekam oft den Blick von ihm, den Männer werfen, wenn die Hoffnungen oder Befürchtungen ihrer Weiber Hasensprünge wie Erdhalbmesser tun." 

"eine Mannsperson kann 20 Jahre alt werden, ohne ihre Zähne, und 25 Jahre, ohne ihre Augen-Wimpern zu kennen, indes ein Mädchen dahinter kommt vor der Firmelung"

Jean Pauls Stil wieder äußerst pathetisch, aber die Beobachtung feinsinnig: Der Mann will funktionieren und deshalb mutig sein. Die Frau nimmt menschliche Feinheiten genau wahr, über die der Mann achtlos hinweggeht. - Natürlich ist die Trennung dieser Züge künstlich, beides steckt in beiden Geschlechtern, und die deutliche Trennung, die es damals möglich machte, dass Frauen von Jean Pauls frühen Werken so begeistert waren, gibt es heute nicht mehr so. Aber Jean Paul beobachtet Feinheiten, die noch heute charakteristische Geschlechtsunterschiede der üblichen "cis-Menschen" sind. So ungewöhnlich cis-Menschen aus der LGBTQ-Sicht auch scheinen mögen. 


Ich folge dem Ablauf meiner Lektüre und kehre in den dritten Sektor (S.42) zur Geburt und 8 Jahre dauernden Erziehung unter der Erde, dem "Unterirdischen Pädagogium" zurück: Was in der Realität ein Horrorszenario wäre, erweist sich als Parodie auf die Herrenhuthische Auffassung vom Leben: Das Leben selbst ist nur die Vorbereitung auf das himmlische Leben nach dem Tod. Der Herrenhuther, der Gustav in einem Kellergewölbe aufzieht, malt ihn den Tod als Befreiung aus diesem Jammertal aus. Mit dem Tod werde er aus dem Gewölbe in einen himmlischen Raum aufsteigen, in dem die Decke völlig blau und unerreichbar hoch sei, und die Lampe stehe dort genauso hoch wie die Decke und strahle über alles.


14 Dezember 2024

Lea Ypi: Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte

 Lea Ypi: Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte (Perlentaucher)

(ihr Urgroßvater war der Ministerpräsident Xhafer Ypi)

Leseprobe

Reportage von ZEIT Nr. 53/ 11.12.2024

daraus:

"[...] Dass diese [rechte] Weltanschauung bei vielen Wählern verfängt, liegt laut Ypi auch daran, dass die linken Parteien kaum mehr grundsätzliche Kritik an den bestehenden Verhältnissen üben: "Die Linken haben es verlernt, die Systemfrage zu stellen." Stattdessen verteidigten sie im Namen der Demokratie den Status quo. So wie bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland. Da war das größte Versprechen, mit dem sie um Wähler warben, die Ablehnung der AfD. Oder im US-Wahlkampf. Da lautete das zentrale Argument von Kamala Harris: Ich bin nicht Donald Trump. "Wenn die politische Linke gegen die Rechte eine Chance haben will, muss sie sich wieder trauen, einen eigenen großen Gesellschaftsentwurf zu liefern", sagt Ypi. Wer ein System verteidige, das derart viele Menschen zu Verlierern macht, der könne nicht darauf hoffen, Mehrheiten zu erlangen. [...]

Das westliche Freiheitsverständnis beruht in Lea Ypis Augen auf Doppelmoral. Es bringe im Namen der Freiheit jede Menge Unfreiheit hervor: "Schauen Sie sich das Recht auf freie Meinungsäußerung an", sagt Ypi. "Was bleibt davon übrig, wenn die größten Plattformen der politischen Meinungsbildung von ein paar Tech-Milliardären gesteuert werden?" Oder das Recht auf freie Berufswahl: Was nütze es einem, wenn es keine Arbeit gibt? Am deutlichsten aber träten die Widersprüche dort zutage, wo das liberale Gesellschaftsmodell derzeit am stärksten unter Druck gerät: beim Thema Migration.

Ypi erzählt von ihrer Mutter, die wegen der Unruhen von 1997 auf illegalem Weg mit dem Schiff nach Italien kam – weil es einen legalen Weg für sie nicht gegeben habe. Während des Kommunismus galten Albaner, denen es gelang, ihr Land zu verlassen, als Flüchtlinge. Als Opfer eines Regimes, das seine Bürger mit Waffengewalt daran zu hindern versuchte, ins Ausland zu reisen. Als dann die Mauer gefallen war und die Albaner von der neu gewonnenen Reisefreiheit Gebrauch machen wollten, nannte man sie Kriminelle oder illegale Wirtschaftsmigranten. Von einem auf den anderen Tag hatten sie sich von unschuldigen Helden in unerwünschte Gäste verwandelt.

"Wie viel ist die Freiheit wert, wenn man zwar endlich ausreisen, aber nirgendwo mehr einreisen darf?", fragt Ypi. Welchen Unterschied mache es, ob man von Grenzsoldaten erschossen wird oder im Mittelmeer ertrinkt? Und welcher Logik gehorche ein System, dessen Gesellschaft sich Flüchtlinge vom Leib zu halten versucht – und dessen Wirtschaft sie zugleich als billige Arbeitskräfte missbraucht? [...]"

 (Hervorhebungen von Fontane)

10 Dezember 2024

Thomas Mann: Buddenbrooks und der Nobelpreis

 Die Buddenbrooks waren nicht nur die Familiengeschichte eines begabten Schreibers, der unbedenklich das Material aus seiner Familiengeschichte verarbeitete.

Sie waren auch das Werk eines mit 25 Jahren reifen Autors, der in den Überlegungen des 42-jährigen Senators Thomas Buddenbrook ("rechte Hand" des Bürgermeisters) vor dem Kauf der Poppenröder Ernte schildert, was der gut 50-jährige Nobelpreisträger 1929 empfunden haben mag: Den Nobelpreis für meinen ersten Roman und nicht für das Meisterwerk des reifen Mannes, den Zauberberg (und was Günter Grass empfand, wenn man die Blechtrommel über die Maßen lobte, was ihn immer wieder herausforderte, auf die "Hundejahre" hinzuweisen.).

Nicht mehr der Elan des Anfangs, dessen, für den alles noch vor ihm liegt. - Und dann dass Mann über 80 Jahre werden würde, seine gewaltige Josephstetralogie noch vor ihm lag und seine dichterische Gestaltung der NS-Herrschaft, die in die Welttragödie des Zweiten Weltkriegs mündete. 

Und danach noch der Aufschwung seines Alterswerks in den humorvollen, ironiegesättigten Werken Der Erwählte und Felix Krull.

Vom 25-Jährigen dichterisch gestaltet eine Midlife-Crisis, bevor sie 1957 benannt (erfunden?)  wurde. 

Prophetisch und dann doch ganz widerlegt durch das Leben, das sich eben nicht im "Zwischenhändlerdasein" erschöpfte, sondern in bewusstem Antagonismus zum Terror sein Gegendeutschland  ("Deutsche Hörer") schuf.

09 Dezember 2024

Christa und Gerhard Wolf

 Aufgrund ihres schlechten Gewissensihrer wegen ihrer kindlichen Hitlergläubigkeit war  Christa zu weit größeren Zugeständnissen an das kommunistische System bereit als ihr Mann. Aber dennoch unterschied sich ihre Bereitschaft deutlich von der eines durchschnittlichen Bundesbürgersgegenüber seinem System. Ihre Distanz blieb immer größer.

30 November 2024

Andreas Reckwitz: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne

 https://www.perlentaucher.de/buch/andreas-reckwitz/verlust.html

Andreas Reckwitz: Verlust, Suhrkamp, Berlin 2024

Erfreulich ist an den Rezensionen, dass alle Reckwitz relativ große Nüchternheit nachsagen, bemerkenswert (oder naheliegend?) dass Reckwitz nachgesagt wird, er übergehe reale Verluste und andererseits, er sei auf vermeintliche Verluste fixiert.

Verlagstext: "[...] Unter dem Banner des Fortschritts, so legt er dar, wird die westliche Moderne schon immer von einer Verlustparadoxie angetrieben: Sie will (und kann) Verlusterfahrungen reduzieren - und potenziert sie zugleich. Dieses fragile Arrangement hatte lange Bestand, doch in der verletzlichen Spätmoderne kollabiert es. Das Fortschrittsnarrativ büßt massiv an Glaubwürdigkeit ein, Verluste lassen sich nicht mehr unsichtbar machen. Das führt zu einer der existenziellen Fragen des 21. Jahrhunderts: Können Gesellschaften modern bleiben und sich zugleich produktiv mit Verlusten auseinandersetzen? [...]"

 Stefan Reinecke:" [...] In Anlehnung an Virilio spricht Reckwitz von einer Gesellschaft, in der die technische Entwicklung stetig weitergeht, die Zukunftsvision aber abhanden gekommen ist. Die eurozentrische Perspektive des Buches reflektiert Reckwitz selbst, so ganz zufrieden ist der Rezensent aber nicht damit, dass er in seiner Analyse die Rolle von China und Indien vernachlässigt." 

Guillaume Paoli: "[...] Denn die Grundprämisse des Buchs, nämlich "Verlust" nicht von seiner Konkretion her, sondern als Diskursphänomen behandeln zu wollen - also die Art und Weise, wie Verluste gesellschaftlich aufgearbeitet und thematisiert werden - findet Paoli wenig ertragreich. Die sich daraus ergebende Formel des "doing loss" passe zwar wunderbar zur praxistheoretischen Ausrichtung Reckwitz', sei aber eben blind für gewisse sehr reale Verluste wie etwa den der Biodiversität, der diskursiv wenig präsent und doch stetig fortschreitend sei, moniert Paoli. Auch die vehemente Abgrenzung des Autors von jeglicher Kulturkritik scheint den Kritiker zu nerven; die Beanspruchung einer neutralen Beobachterposition ist für ihn schlicht veraltet - und, ebenso wie Reckwitz' abschließende drei Zukunftsszenarien, recht unbrauchbar für den Umgang mit Verlusten."

Thomas Steinfeld : "[...] Besonders kritisiert Steinfeld die Fixierung auf vermeintliche Verluste, hinter denen oft gar keine realen Schäden stecken, sondern versteckte Ansprüche, wie etwa die Sehnsucht nach einer "biodeutsch reinen Volksgemeinschaft". Reckwitz' "Universalsoziologie" gerät dadurch eher zu einer Bestätigung landläufiger Vorurteile als zu einer eine originellen Analyse, meint der Kritiker. Wie nun der richtige Umgang mit dem Verlust aussieht, kann Reckwitz letztlich auch nicht sagen - ob seine Soziologie da weiterhelfen kann, "bleibt abzuwarten", schließt Steinfeld.

Dass man angesichts des Klimawandels, der schmelzenden Eisdecke, der verheerenden Brände jenseits des nördlichen Polarkreise, des weltweiten Anstiegs des Meeresspiegels und des zunehmenden Verlusts der Erwärmung bremsenden Eigenschaft der Weltmeere von "vermeintlichen" Verlusten sprechen kann, ohne sich die Mühe zu machen, den Klimawandel abzuleugnen, beeindruckt mich. Denn dass es Menschen gibt, die unter Realitätsverlust leiden und deshalb "Verluste" da sehen, wo nichts Wertvolles verloren geht, beweist ja nicht, dass es keine realen Verluste gibt. 

Und wenn von den weltweiten Verlusten nicht alle genannt worden sind, bedeutet das erst recht nicht, dass es überhaupt keine gäbe. 

17 November 2024

Henry de Montherlant: Die Aussätzigen

 Henry de Montherlant: Die Aussätzigen

"[...] Zu den prägenden Einflüssen seiner Jugend gehörten, neben seiner Familie, Sport, Literatur und Stierkampf. In seinen Anfangswerken sind Ich-Kult, Männlichkeit und der Kampf ums Dasein von ihm idealisierte Themen. Montherlant war vor allem von D’Annunzio, Nietzsche und Barrès beeinflusst. Erst später setzte er sich mit den Geschehnissen und der Gesellschaft seiner Zeit kritisch auseinander. Seine Stilsicherheit und sein gutes Vermögen, Menschen psychologisch zu analysieren, brachten ihm schon früh den Ruf eines Klassikers ein.

Montherlant war bekannt für antifeministische und frauenfeindliche Ansichten, die Simone de Beauvoir in einem Kapitel von Das andere Geschlecht  behandelte.[...][5] (Wikipedia)

Zitate:

  • "Am Unheil der Welt leiden und zu gleicher Zeit glücklich sein: eine jener absurden Gleichungen, deren ich mich stets befleißigt habe" - Tagebücher 1930-1944, Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berlin 1961, S. 322
  • "Das einzige Rezept: schöne Werke schaffen. Dann komme, was mag." - Tagebücher 1930-1944, Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berlin 1961, S. 14
  • "Das Mädchen wird unter Tränen zur Frau und unter Stöhnen zur Mutter." - Die jungen Mädchen
  • "Die Geschichte? Das gleiche Stück mit unterschiedlichen Rollenbesetzung." - Tagebücher 1930-1944, Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berlin 1961, S.168
  • "Eine anständige Frau ist eine, die nicht oder nicht mehr imstande ist, mehr als nur einen Mann unglücklich zu machen." - Erbarmen mit den Frauen
  • "Die Hoffnung ist der Wille der Schwachen" - Nutzloses Dienen, S.130, Leipzig, 1939
  • "Man bezahlt die Frauen, damit sie kommen, und man bezahlt sie, damit sie verschwinden; das ist ihr Schicksal." - Die Aussätzigen
  • "Wer dem Publikum - seiner "Kundschaft" - nicht zu mißfallen wünscht, ist, wie er es auch anstellen mag, ein Krämer. Sogar und vor allem, wenn er Literat ist. - Tagebücher 1930-1944, Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berlin 1961, S.60
Das Buch fiel mir in einem öffentlichen Bücherregal in die Hand, weil ich für eine Kurzreise kein Buch mitgenommen hatte. Ich bin zufrieden, dass ich mir jetzt ein Vorstellung von ihm machen konnte.
Die folgenden Textauszüge erklären zum einen den Titel "Die Aussätzigen", weil davon berichtet wird, wie der Protagonist mit der aussätzigen Rhadidja schläft und dann sein Verhältnis zu zwei anderen Frauen: Andrée Hacquebaut schreibt Briefe die den Protagonisten charakterisieren (diese Briefe finden sich ca. alle 20 Seiten), von denen aber immer wieder festgestellt wird: "Dieser Brief ist vom Empfänger ungeöffnet abgelegt worden." Solange Dandillot hat er in Genua kennengelernt und schreibt einen Roman über sie. Er findet sie sehr langweilig, doch nimmt er sie als Ausgangsfigur für die Heldin, die re für seinen neuen Roman erfindet. Während des Schreibens hält er sich monatelang von ihr entfernt. Zum Ausgleich dafür, dass er ihr gegenüber so herzlos war, heiratet er sie. 
Die Phase, in der sich die beiden kennenlernen, kommt im Roman nicht vor. 














15 November 2024

Chatwin: Traumpfade

 Songlines oder Traumpfade nennen die Einwanderer Australiens die in Lieder gefassten Nachschöpfungen der Natur (Landschaftsbeschreibungen) der Aborigines. (Diese nennen ihre Beschreibungen "Fußspuren der Ahnen" oder "Weg des Gesetzes".)

Neben der Kodierung der äußeren Natur im Lied steht für die Aborigines die Verkörperung der Seelen der Ahnen in Tschuringas oder Tjurungas, die in Höhlen aufbewahrt werden.
Bei seinen Reflexionen über das Nomadentum verweist Bruce Chatwin, der Verfasser des Buches "The Songlines" (deutsch: Traumpfade), darauf, dass Kain, der Ackerbauer, zum Mörder an Abel, dem Hirten, wurde und Gott von ihm als Sühne verlangt, dass er seinerseits zum Umherziehenden wird, im Lande Nod, dem Bereich des Umherwanderns, der Wildnis oder Wüste.
Meiner Meinung nach ist deutlich genug, dass Chatwin im Roman nicht eine wissenschaftlich treffende Beschreibung der Vorstellungen der Aborigines versucht, sondern etwas anderes: Die Übersetzung des Fremdartigen, das er erlebt hat, in eine dichterische Welt, die es einem Europäer von heute ermöglicht, eine eigene Vorstellung von dem zu gewinnen, was die Welt der Aborigines von der unsrigen unterscheidet. 
Deshalb schaltet er zwischen seine Darstellung der Welt der Aborigines den "Fachmann" Akardy ein, der die Erkenntnisse, die er von den Aborigenes hat, nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit bekommen hat, seine Erkenntnisse aber weitergibt, so wie er - um die Welt der Aborigines zu schützen - seine Erkenntnisse darüber, was man beim Eisenbahnbau nicht zerstören sollte, der Eisenbahngesellschaft weitergibt.


Zumindest theoretisch konnte ganz Australien wie eine Partitur gelesen werden. Es gab kaum einen Felsen oder einen Bach im Land, der nicht gesungen werden konnte oder gesungen worden war. Man musste sich die Songlines wie Spaghetti aus Iliaden und Odysseen vorstellen, die sich hier hin und dorthin schlängelten, wobei jede 'Episode' den geologischen Formen abzulesen war.
"Unter Episode, verstehen Sie 'heilige Stätte'?" fragte ich. "So ist es." 
"Stätten wie die, die sie zur Zeit für die Eisenbahngesellschaft vermessen?" 
"Sie müssen es so sehen", sagte er. Überall im Busch können sie auf irgendeine Stelle in der Landschaft zeigen und den Aborigine an ihrer Seite fragen: 'Was für eine Geschichte ist das?' oder: 'Wer ist das?' Es ist möglich, dass er 'Känguru oder 'Wellensittich' oder 'Eidechse' antwortet, je nachdem, welcher Ahne diesen Weg gegangen ist."
"Und die Entfernung zwischen zwei solcher Stätten kann als Abschnitt des Lieds gemessen werden?"
"Deshalb", sagte Arkadi, "habe ich so viele Schwierigkeiten mit den Leuten von der Eisenbahn." (S.24)
Man musste es natürlich nicht, sondern die 'Ilias als Spaghettifaden' ist ein Bild, das dem Leser ermöglichen soll, sich eine eigene Vorstellung darüber zu machen, wie eine Landschaft in ein Lied umzusetzen sei und wie man ein Lied als Orientierungshilfe in der (möglichst über Jahrtausende unveränderten) Landschaft verwenden könne.

"Es war nicht leicht, einen Vermesser davon zu überzeugen, dass ein Haufen Flusssteine, die Eier einer Regenbogenschlange oder ein rötlicher Sandsteinbrocken die Leber eines mit dem Speer erlegten Kängurus war. Schwerer noch war es, ihm einsichtig zu machen, dass eine öde Schotterlandschaft die musikalische Entsprechung zur Beethovens Opus 111 war.
Indem sie die Welt ins Dasein, sangen, sagte er, seien die Ahnen Dichter in der ursprünglich Bedeutung des Wortes poesis gewesen, das 'Schöpfung' besage. Kein Aborigine könne sich vorstellen, dass die erschaffene Welt in irgendeiner Weise unvollkommen sei. Sein religiöses Leben habe nur ein Ziel: das Land so zu erhalten, wie es war und wie es sein sollte. Ein Mann, der 'Walkabout' ging, machte eine rituelle Reise. Er folgte den Fußspuren seines Ahnen. Er sang die Strophen seines Ahnen, ohne ein Wort oder eine Note zu ändern – und er schuf so die Schöpfung neu." [...] 
Aborigines konnten nicht glauben, dass das Land existierte, bevor die Ahnen es sangen. [...]
Aborigines glaubten, dass die 'lebenden Dinge' im verborgenen unter der Erdkruste gemacht worden waren, wie auch alle Maschinen des weißen Mannes- seine Flugzeuge, seine Gewehre, seine Toyota-Landcruiser - und aller Erfindungen, die man noch erfinden würde, sie schlummerten unter der Oberfläche und warteten, bis sie gerufen wurden.
"Vielleicht können sie die Eisenbahn in die erschaffene Welt Gottes zurücksingen?" schlug ich vor.
"Da können Sie sicher sein", sagte Arkady. (S. 25/26).
 
vgl. dazu das Nationalepos der Finnen Kalevala, wonach die alten Finnen/Heroen Wirklichkeit durch Singen bewirkten.("Übersinge, wer mich ansingt,/Überspreche, wer mich anspricht,/Singe, daß der beste Sänger/Bald als schlechtester erscheinet,/Sing' ihm Steinschuh' an die Füße,/Hölzern Beinkleid an die Hüften,/Sing' ihm Steinlast auf das Brustbein,/Einen Steinblock auf die Schultern,/Steinern' Handschuh' an die Hände,/Eine Steinmütz' auf den Schädel.")

Auf den Seiten 80-89 lässt Chatwin den Ex-Benediktiner Flynn eine relativ verständliche Darstellung zu der Bedeutung der Song-Lines abgeben.

Zitate:

"Die Weißen, begann er, gingen von der allgemein verbreiteten, irrtümlichen Annahme aus, dass die Aborigines, weil sie Wanderer waren, keine Landbesitzordnung hätten. Das sei Unsinn. Aborigines, das stimmte, / konnten sich ein Territorium nicht als ein von Grenzen umschlossenes Stück Land vorstellen, sondern sahen es eher als ein verschachteltes Netz von 'Linien' oder 'Durch-Gängen'.

Alle unsere Worte für Land sind identisch mit den Wörtern für Linie, sagte er.

Dafür gab es eine einfache Erklärung. Der größte Teil des australischen Busch Landes bestand aus dürrem Gestrüpp oder Wüste, wo die Regenfälle immer unregelmäßig kamen und wo auf ein fettes Jahr sie magere Jahre folgen konnten. in einer solchen Landschaft herumzuziehen, bedeutete Überleben, am selben Ort zu bleiben war Selbstmord. 

 Die Definition von 'eigenem Land' eines Menschen war der 'Ort, an dem ich nicht fragen muss'. (S.81/82)

Chatwin deutet an, dass die Aborigines die Regeln der Kultur der Weißen nicht akzeptieren und dafür erwarten, dass die Weißen, sie sich an sie annähern, sich den Aborigines-Regeln anzupassen hätten und dass bei Nichtbefolgung der Tod drohe. Eine seiner Personen spricht von Apartheid, und er deutet an, dass sie von den Aborigines ausgehe.



Tschuringa: "der Begriff umfasste nach Strehlow heilige Zeremonien, Stein- und Holzobjekte, SchwirrgeräteBodenzeichnungen, zeremonielle Pfähle, zeremoniellen Kopfschmuck, Gesänge und Erdhügel" (https://de.wikipedia.org/wiki/Tjuringa)



"Einer hatte noch die Kraft, den Arm zu heben, ein anderer etwas zu sagen. Als sie hörten, wer Limpy [ein Aborigine] war, lächelten alle drei spontan, dasselbe, zahnlose Lächeln.
Arcady schlug die Arme übereinander und beobachtete sie.
"Sind sie nicht wunderbar?" flüsterte Marian, legte ihre Hand in meine und drückte sie.
Ja. Ihnen fehlte nichts. Sie wussten, wohin sie gingen. Im Schatten eines Geistereukalyptusbaumes lächelten sie dem Tod entgegen." (S,393/394)


14 November 2024

Vesper

 Ein wenig verbreiteter Name, der ein Verbindung zwischen drei ganz unterschiedlichen Personen herstellt: zwischen dem Nazi-Dichter Will Vesper, seinem Sohn Bernward Vesper*, zeitweise der Lebensgefährte der späteren RAF-Terroristin Gudrun Ensslin, und Guntram Vesper*, Lyriker, Hörspielautor, Privatgelehrter und Verfasser von Romanen, die passagenweise wie Lyrik gelesen werden können/sollten.

*sein Romanessay: Die Reise

mehr in: Fritz J. Raddatz: Mitleid, Trauer und Empörung, DIE ZEIT Nr.38  13.9.1985

zu allen drei Vespers: Zuordnung und Unterscheidung

08 November 2024

Nikolaus Lenau: Faust

 Nikolaus Lenau: Faust (Wikipedia)

Die Verschreibung

"[...] Mönch

Zur Kirche, wüstes Weltkind! sollst du kehren,
Daß mütterlich sie dir die bittern Zähren
Des Zweifels trockne, der Verlassenheit,
Die, unbewußt dir selbst, um Hülfe schreit.
O kehre heim zur gläubigen Gemeinde,
Und laß von ihr das kranke Herz dir pflegen!
Rings steht um dich der brüderliche Segen
Und wird dich schützen vor dem wilden Feinde;
Erlösen wird dich im geweihten Bunde
Der Geist des Herrn, lebendige Liebeskunde.

Faust
Ohnmächtig ist und elend auch die Schar,
Wenn jeder einzle aller Weisheit bar.
Die Kunde, die mir Einsamen geschwiegen,
Mit vielen würd' ich sie zu hören kriegen?
Zur Kirche, meinst du, daß ich flüchten soll?
Ei! wartet Gott, gleich einem Bänkelsänger,
Mit Seiner Stimme, bis die Stube voll
Mönch, hebe dich und laste mir nicht länger!

(Wieder allein)

Ist diese Welt dadurch entstanden,
Daß Gott sich selber kam abhanden?
Ist Göttliches von Gotte abgefallen,
Um wieder gottwärts heimzuwallen?
Ist aus urdunklen Ahnungstiefen,
Worin die Gotteskeime schliefen,
Das Göttliche zuerst erwacht,
Und stieg es auf zur Geistesmacht?
So daß Natur in Haß und Lieben
Als ihre Blüte Gott getrieben? –
An dieser Frage hängt die Welt,
Doch hab ich immer sie umsonst gestellt.
Ja! ob die Welt mit ihrem Lauf
Zu nennen ein Hinab? Hinauf?
Ist wohl der ernsten Frage wert;
Wie aber wenn es ein Hinaus?
Des vollen Gottes Ausstrom, Überbraus,
Der nie zurück zu seinem Quelle kehrt?
Ob alles Leben ein Verschwenden
Des unerschöpflich Reichen ist,
Das nie mehr wird von ihm vermißt,
Und bald wie ein vergeßnes Spiel muß enden? –
Wenn ich vorbei an einem Kirchhof geh,
Und Gräber mit den Leichensteinen seh,
Und mir das Wechselspiel bedenke,
Das mit den hier Vergeßnen ward getrieben,
Ist's wie ein Blick in eine leere Schenke,
Wo auf dem Tisch die Karten liegenblieben. –
Was ist's? – Man spricht von unglücklicher Liebe,
Wie sie manch armes Herz zu Staub zerriebe;
Ich habe diese Liebe nie gekannt,
Fürs Erdenweib war nie mein Herz entbrannt;
Die unglücklichste, ewig hoffnungslose,
Die Liebe für die Wahrheit ist mein Schmerz.
Vom Himmel fallen nicht Erhörungslose,
So schreit ich, sie zu suchen, höllenwärts.

Faust sprach es aus das grausenvolle Wort,
Riß aus der Brust ein Buch und warf es fort,
Und eine Rolle rafft er nun dafür,
Aus abgebleichtem Schriftenhauf herfür,
Und liest daraus ein dringendes Beschwören,
Daß rauschend sich des Waldes Haar' empören.
Er blickt umher im öden Waldesraume,
Ob er nicht seh' den schauerlich Ersehnten.
Was knistert hinter jenem alten Baume,
Dem sturmgebrochnen, traurig hingelehnten?
Er ist's! am Baum hervor, aus Moos und Moder,
Mit seiner Augen finsterem Geloder,
Der Teufel blickt gewärtig und bereit,
Und streckt sein Haupt in Faustens Einsamkeit.

Mephistopheles
Faust, kennst du noch den Medikus,
Der an der Leich' um Mitternacht
Dich überrascht mit seinem Gruß,
Und dir ein Wörtlein Trost gebracht?
Faust, kennst du mich den Jäger noch,
Der dich auf jenem Berge hoch,
Als du geglitscht vom steilen Rand,
Ergriff und hielt mit fester Hand,
Und stehen ließ verblüfft im Schrecke,
Hinumschwand um die Felsenecke?

Faust
Ich kenne dich, doch ohne Dank;
Mir wäre besser, wenn ich dort versank.

Mephistopheles
Freund, mir gefiel die Leidenschaft,
Die dich hoch über Blitz und Sturm
Von Fels zu Fels emporgerafft
Nach Stein und Blume, Kraut und Wurm;
Wie du in heißer Lieb' entflammt
Für deine rätselhafte Braut,
Die noch dein Auge nie geschaut;
Wie du am Stein dich festgeklammt,
Wie an der Eiswand ohne Halt
Du fest und keck die Hand geballt,
Sie blutig schlugst, im tollen Schweben
Mit deinem Blut dich hinzukleben.
Freund, mir gefiel so heiße Gier,
Und wahrlich, ich gestehe dir,
Wer also mit dem Tode wettet,
Ist wert, daß ihn der Teufel rettet.
Sieh da, noch sind die Hände wund,
Wie du sie hast ins Eis gehackt;
Dies Blut besiegle dir den Bund:
Auf, schreibe frisch den Ehepakt
Mit deines Herzens Purpurnaß
Fürs holde Liebchen Veritas!
Doch hast du was am Boden dort,
Das fort muß, oder ich muß fort.
Was starrst du so auf jenes Buch,
Das du wegwarfst mit einem Fluch?
Was hinterm Baum mich angekündet,
Wonach du hingelauscht, das Knistern,
Vom Feuer kam's das ich entzündet,
Es brennt nach der Scharteke lüstern;
O wirf hinein den eklen Band
Mit allen Liedern und Gebeten,
Geschichtefaslern und Propheten.
Hinein, 's gibt einen lust'gen Brand.

Faust
Hab ich verworfen auch die Schrift,
Ihr Anblick noch das Herz mir trifft;
Durch die mir einst so teuren Zeilen
Hör ich die Winde blätternd eilen;
Sie wecken, wie sie drüber fahren,
Mir Klänge aus vergangnen Jahren:
Als ob die Bibel mahnend wehte
Ans Herz mir Psalmen und Gebete
In wunderbaren Sehnsuchtsklängen,
Fühl ich darin ein bang Bedrängen.

Mephistopheles
Ha, die Gebete waren Wind.
Du sei ein Mann und schnell dich fasse,
Eh ich verachtend dich verlasse;
Der Teufel taugt nicht für ein Kind.
Die Blätter, einst dir noch so teuer,
Wirf sie geschwind in dieses Feuer!
Und sind verbrannt sie ganz und gar,
So streu zur Sühnung dir ins Haar
Die Asche vom geliebten Buch;
Mit einem büßerischen Spruch
Verneige dein geäschert Haupt,
Daß du so dumm warst und geglaubt,
Die Wahrheit, scheu und ewig flüchtig,
Nach der dir heiß die Pulse pochen,
Sie habe, völlig zahm und züchtig,
in diesen Schweinsband sich verkrochen.
Schlag dir die Faust zur Stirne oft,
Daß du so dumm warst und gehofft,
Daß du geträumt hast, der Geschichte
Längst abgewelkte Judenblätter,
Sie dauern grün im Zeitenwetter,
Und daß sie dir noch bringen Früchte,
Die ewig frisch das Herz dir laben,
Weil einer aufstand, der begraben.
Oh, Freund, sei bis zum Tod betrübt,
Daß du so dumm warst und geliebt,
Wie diese Blätter dir geboten,
Den ungeheuren Urdespoten!

Faust
Den Herrn nicht lieben, wäre schwer;
Doch liebt mein Herz die Wahrheit mehr.

Mephistopheles
So, Faust, du hast es recht begonnen;
Die Wahrheit mehr – ist viel gewonnen.
Sieh, wie das Feu'r die Zunge streckt,
Nach dem geweihten Futter leckt; –
Hinein damit, hinein damit,
Und deiner Knechtschaft bist du quitt!

Faust (wirft die Bibel ins Feuer)
Mich soll der Glaube nimmer locken.
Sie brennt; ihr Zauber ist besiegt;
Der Trost, den sie geboten, fliegt
Zerstreut in grauen Aschenflocken.
Entschieden war mein Sinn zuvor,
Als dich mein Wort heraufbeschwor.
Jetzt wär's zu spät, mich zu bedenken,
Im Herzen noch den süßen Wahn
Unschlüssig feig herumzuschwenken;
Ich schütt ihn plötzlich aus: wohlan,
Ich bin ein Mann, und was ich liebe,
Lieb ich mit vollem Mannestriebe,
Ich lieb's auf Leben und auf Sterben,
Auf Heil und ewiges Verderben.
Wohlan, du letzter Helfer, sprich:
Willst du zur Wahrheit führen mich,
Daß ich ihr Antlitz schauen mag?

Mephistopheles
Ich will; doch schließe den Vertrag.
Das beste Mittel wäre fast,
Du hängtest dich an diesen Ast;
Doch wirst du wohl noch länger wollen
Herum dich treiben auf den Schollen;
Und wenn ich's recht genau bedenke,
Schad' wär's, daß Faust sich jetzo henke.
Dein halbes Leben ist verflossen,
Es ward vergrämelt und vergrübelt,
Einsam in studiis verstübelt,
Hast nichts getan und nichts genossen.
Hast noch die Weiber nicht geschmeckt,
Noch keinen Feind ins Blut gestreckt.
Das Beste, so das Leben beut,
Hast du zu kosten dich gescheut.
Sonst ist des Menschen höchste Lust,
Daß liebend er ein Kindlein mache,
Und wenn er haßt, dem Mann der Rache
Den Dolch zu stoßen in die Brust.
Denn: liebend zeugen, hassend morden,
Ist Menschenherzens Süd und Norden;
Und was dazwischen innesteckt,
Sind Keime, doch zurückgeschreckt,
Sind Sprossen, doch die halben, matten,
Von Totschlag oder von Begatten.
Du warst bis jetzt ein blöder Tor;
Drum höre, was ich schlage vor:
Der alte Zwingherr hält die Erde
In knechtisch frömmelnder Gebärde;
Doch hat mein Erzfeind nicht versagt
In seiner Welt mir freie Jagd.
Verdinge dich mir zum Gesellen,
Und hilf mein Weidwerk mir bestellen,
Ich will dafür bei meinem Leben
Die Wahrheit dir zum Lohne geben,
Und Ruhm und Ehre, Macht und Gold,
Und alles was den Sinnen hold.
Von deiner Seel' es sich versteht,
Daß sie mit in den Handel geht.
Laß bluten die verharschte Hand,
Zu schreiben mir das Unterpfand,
Und daß dazu beitrage jeder,
Reich ich dir diese Hahnenfeder,
Die ich in einem Forste jüngst,
's war grade Sonntag früh, zu Pfingst,
Dem Raubschütz aus dem Hute zog,
Als ihm ins Herz die Kugel flog.
Recht artlich war es anzusehn,
Wie so der Dieb, im dichten Laub
Versteckt, auflauscht dem Wildesraub;
Wie doch vier Jäger ihn erspähn,
Wie er auf sie drei Kugeln sendet,
Von denen jed' ein Leben endet,
Die vierte, ohne Sakrament,
Ihm selber durch die Lungen rennt.
Was ist dir, Faust, du wirst so blaß,
Ging dir zu Herzen gar der Spaß?

Faust
So reiche mir den Hahnenkiel:
Doch laß der Laune freches Spiel,
Die widerlich dein Wort mir salzt.

(Die Feder betrachtend)

Der arme Hahn, voll Liebesnot,
Hat selber sich dem bittern Tod,
Und mich der Hölle zugefalzt.
Hier unterschreib ich den Vertrag,
Weil ich nicht länger zweifeln mag.

Mephistopheles
So recht, mein Faust, es ist geschehn;
Leb wohl, auf frohes Wiedersehn!


Der Jugendfreund

[...]"

Fortsetzung in Projekt Gutenbrg.de


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Schilflieder. 1832.