Lea Ypi: Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte (Perlentaucher)
(ihr Urgroßvater war der Ministerpräsident Xhafer Ypi)
Reportage von Caterina Lobenstein, ZEIT Nr. 53/ 11.12.2024
daraus:
"[...] Dass diese [rechte] Weltanschauung bei vielen Wählern verfängt, liegt laut Ypi auch daran, dass die linken Parteien kaum mehr grundsätzliche Kritik an den bestehenden Verhältnissen üben: "Die Linken haben es verlernt, die Systemfrage zu stellen." Stattdessen verteidigten sie im Namen der Demokratie den Status quo. So wie bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland. Da war das größte Versprechen, mit dem sie um Wähler warben, die Ablehnung der AfD. Oder im US-Wahlkampf. Da lautete das zentrale Argument von Kamala Harris: Ich bin nicht Donald Trump. "Wenn die politische Linke gegen die Rechte eine Chance haben will, muss sie sich wieder trauen, einen eigenen großen Gesellschaftsentwurf zu liefern", sagt Ypi. Wer ein System verteidige, das derart viele Menschen zu Verlierern macht, der könne nicht darauf hoffen, Mehrheiten zu erlangen. [...]
Das westliche Freiheitsverständnis beruht in Lea Ypis Augen auf Doppelmoral. Es bringe im Namen der Freiheit jede Menge Unfreiheit hervor: "Schauen Sie sich das Recht auf freie Meinungsäußerung an", sagt Ypi. "Was bleibt davon übrig, wenn die größten Plattformen der politischen Meinungsbildung von ein paar Tech-Milliardären gesteuert werden?" Oder das Recht auf freie Berufswahl: Was nütze es einem, wenn es keine Arbeit gibt? Am deutlichsten aber träten die Widersprüche dort zutage, wo das liberale Gesellschaftsmodell derzeit am stärksten unter Druck gerät: beim Thema Migration.
Ypi erzählt von ihrer Mutter, die wegen der Unruhen von 1997 auf illegalem Weg mit dem Schiff nach Italien kam – weil es einen legalen Weg für sie nicht gegeben habe. Während des Kommunismus galten Albaner, denen es gelang, ihr Land zu verlassen, als Flüchtlinge. Als Opfer eines Regimes, das seine Bürger mit Waffengewalt daran zu hindern versuchte, ins Ausland zu reisen. Als dann die Mauer gefallen war und die Albaner von der neu gewonnenen Reisefreiheit Gebrauch machen wollten, nannte man sie Kriminelle oder illegale Wirtschaftsmigranten. Von einem auf den anderen Tag hatten sie sich von unschuldigen Helden in unerwünschte Gäste verwandelt.
"Wie viel ist die Freiheit wert, wenn man zwar endlich ausreisen, aber nirgendwo mehr einreisen darf?", fragt Ypi. Welchen Unterschied mache es, ob man von Grenzsoldaten erschossen wird oder im Mittelmeer ertrinkt? Und welcher Logik gehorche ein System, dessen Gesellschaft sich Flüchtlinge vom Leib zu halten versucht – und dessen Wirtschaft sie zugleich als billige Arbeitskräfte missbraucht? [...]"
(Hervorhebungen von Fontane)
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