"Hildegard Amalie Henriette Maria Freifrau von Spitzemberg[1] (* 20. Januar 1843 in Hemmingen; † 30. Januar 1914 in Berlin) war eine Berliner Salonnière der Bismarckzeit und des Wilhelminischen Zeitalters. [...]
Bis 1866 eine scharfe Gegnerin Preußens, wandelte sich Baronin Spitzemberg nach dem preußischen Sieg über Österreich und die süddeutschen Staaten (vgl. Deutscher Krieg) bald zur enthusiastischen Befürworterin der deutschen Einigung unter preußischer Führung und zur glühenden Bewunderin Bismarcks. Der dänische Literat Georg Brandes, der um 1880 Berlin bereiste, schildert, ohne ihren Namen zu nennen, eine Unterhaltung mit der Baronin, die diesen Gesinnungswandel eindrucksvoll dokumentiert:
„In einer großen Gesellschaft vor einigen Tagen sprach die Gemahlin eines süddeutschen Gesandten mit einem Fremden über diese Eigenart des Norddeutschen, seine Individualität dem Staatsgedanken unterzuordnen; persönlich fühle sie sich von der Uniformierung der Gemüter abgestoßen; aber sie erkannte diese Entsagung an, die allzeit zu Opfern bereit war: 'Weil sie den Preußen in Fleisch und Blut übergegangen ist, sind sie geworden, was sie sind, und weil sie uns fehlt, sind wir mit all unsern lieben individuellen Eigenarten zu einem Nichts geworden.' [...] Eine derartige Äußerung ist ein Zeichen der Zeit. Ihr Vater war ein süddeutscher Premier, einer von denen, die vor 1866 Bismarck den hartnäckigsten Widerstand leisteten und große Zuversicht in Österreichs Sieg hatten [...] Die Tochter gehört jetzt zu Bismarcks engerem Kreis und zu seinen eifrigsten Bewunderinnen.[3]“
Seit den frühen 1870er Jahren ging „Higa“ bei Bismarcks ein und aus wurde dem Reichsgründer eine vertraute Freundin und Gesprächspartnerin, ebenso seiner Gattin Johanna.[4] Allerdings nahm ihr Kontakt nach Bismarcks Entlassung 1890 und seinem Rückzug auf Schloss Friedrichsruh stark ab, wie sie selber 1895 schwermütig resümierte:
„Ich persönlich habe dem Fürsten geschrieben mit wenig Aussicht, dass er den Brief lese – er in seiner Einsamkeit und seinem Alter vergisst wohl allmählich die Menschen, die ihm nicht öfter wieder vor Augen treten, und seit die Fürstin tot ist, fehlt mir die Persönlichkeit, durch die ich meine Wünsche und Rechte könnte geltend machen. Marie [v. Bismarck] ist mir ganz entfremdet, die Söhne [Herbert und Wilhelm v. Bismarck] haben mir schon, als Bismarcks noch hier waren, ferne gestanden. Wäre ich ein Mann, ich säße irgendwo bei Friedrichsruh und genösse von A bis Z all das, was sich jetzt dort abspielt! So muss ich mich damit begnügen, es in Gedanken mit zu erleben.[5]“
Die Meinungen über das Verhältnis der Frau von Spitzemberg zu Bismarck nach seiner Entlassung sind allerdings geteilt. Nach den, indessen nicht immer zuverlässigen, Memoiren des Fürsten Bülow gehörte sie
„zu den ersten, die von dem gestürzten Bismarck abschwenkten [...] Hildegard von Spitzemberg schloss sich mit solchem Enthusiasmus dem Nachfolger von Bismarck an, dass in dem grollenden Friedrichsruh spöttisch behauptet wurde, sie wolle den Hagestolz Caprivi [den unverheirateten Nachfolger Bismarcks als Reichskanzler, General Leo von Caprivi] heiraten, um Frau Reichskanzler zu werden.[6]“
Jedenfalls steht sie Bismarck – mit der Zeit zunehmend – kritisch gegenüber; in ihrem Tagebuch beklagt sie „die Brutalität und Unbarmherzigkeit, mit der [die Familie Bismarck] so viele Menschen, groß und klein, in den Staub getreten“,[7] Bismarcks „Gewalttätigkeit und kleinliche Herrschsucht“,[8] „viel menschliche Versündigung“[9] und „viele kleine und kleinliche Seiten“ ihres „Helden“.[10]" [...]
Baronin Spitzemberg ist heute durch ihr Tagebuch bekannt, das sie seit ihrer frühen Jugend bis unmittelbar vor ihrem Tod führte und in dem sie die Situation der gesellschaftlichen Elite des Kaiserreiches sowie die politische Stimmung insbesondere ihrer eigenen Gesellschaftsschicht detailliert und kontinuierlich beschrieb, kommentierte und kritisierte. Dem Leser vermittelt die Lektüre neben den Fakten – wie höfischen Veranstaltungen, personellen Revirements und familiären Begebenheiten – vor allem den jeweiligen Eindruck, den Veränderungen in der politischen Elite und der Hofgesellschaft bei der Autorin und ihren Bekannten hervorriefen. Persönliche Emotionen, die über ein Niveau strenger bürgerlicher Zurückhaltung hinausgingen, spielen dagegen keine Rolle, es sei denn, sie betreffen Phänomene aus Politik und Gesellschaft.
Nicht zuletzt deshalb liegt der Schluss nahe, dass zumindest die reife Frau von Spitzemberg ihr Journal bewusst für die Nachwelt schrieb, worauf ebenso sein gehobener, ungewöhnlich gesetzter und durchweg „vorzeigbarer“ Stil hinweist; jedenfalls wurde es genau im Todesjahr der Tochter der Verfasserin, 1960, vom Historiker Rudolf Vierhaus an die Öffentlichkeit gebracht und bis heute mehrmals neu aufgelegt. Da es allerdings nur in Auszügen ediert wurde, ein Teil ihrer Aufzeichnungen also weiterhin in privaten und öffentlichen Archiven ruht, kann diese Vermutung nicht restlos bestätigt werden.
Da zahlreiche Aristokraten, Beamte, Offiziere und Politiker zu den Habitués der Spitzemberg zählten, sie selber wiederum bei allen wichtigen Berliner Persönlichkeiten verkehrte, stellen ihre Aufzeichnungen ein relativ dichtes Panorama und ein authentisches Sittenbild der Berliner beau monde dar, das die gesamte Zeitspanne von der Reichsgründung 1871 bis ins Jahr des Kriegsausbruchs 1914 umfasst. So ist das Tagebuch als Geschichtsquelle zur Erforschung der politischen und sozialen Mentalitäten des Kaiserreiches bis heute für die Geschichtswissenschaft „hoch einzuschätzen“:[16]
„Ein zwar persönlich bestimmter, aber bedeutsamer Ausschnitt deutscher Geschichte ist hier in dem zwar persönlich gefassten, aber doch allgemeines Interesse beanspruchenden Spiegel des Bewusstseins einer klugen Miterlebenden und der Berliner Hofgesellschaft aufgefangen [...] Der historische Wert des Tagebuchs der Baronin Spitzemberg beruht darauf, dass es Quelle für das Bewusstsein von Menschen, für ihr politisches und soziales Selbstverständnis ist.[17]“
Gustav R. Hocke: Europäische Tagebücher (S.217 ff.):
"[...] Diese fortschreitende Dekadenz von Staat und Gesellschaft und die Kämpfe der Jahre 1871 bis 1914 um eine parlamentarisch-demokratische Staatsform spiegelt sich in einem vorwiegend politischen, zwar 'privaten', aber nicht 'intimen' Frauentagebuch wider, das in dieser Beziehung heute schon klassischen Wert haben dürfte; in dem ebenso gescheiten wie farbigen Diarium der Baronin Spitzemberg. [...]
Die Brüche dieser Zeit erkennt Hildegard von Spitzenberg, vor allem aufgrund ihrer Erfahrungen in der damaligen Berliner Hofgesellschaft. Alle maßgebende Persönlichkeiten dieser exklusiven Machtgruppe werden portraitiert, meist mit knappen Formeln; dann durch Zitate, sowie durch eine Fülle von Indiskretionen und Anekdoten. Dabei bekundet die Baronin auch viel Sinn für die zwielichtige Atmosphäre dieser Zeit, für wechselnde Modeströmungen, für die Wandlungen der Gebräuche und Ansichten. [...] So nimmt sie oft auch in sehr kritischer Weise Stellung. Sie urteilt nicht nur. Sie verurteilt auch: den zunehmenden Dilettantismus und Amoralismus der Machtausübung, die materielle Profitgier und politische Selbstgerechtigkeit der aristokratische Gesellschaft der Gründerzeit, den Byzantinismus in der Umgebung Wilhelm II. Dabei legt Hildegard von Spitzenberg, bei einigem Interesse für Thea- [S.218/19] ter und Kunst nicht gerade eine Tochter der Musen, auf literarische Form, keinen Wert. Aus diesem Grunde haben wir es mit einem ebenso echten Diarium wie mit einem wahren politischen Tagebuch zu tun. Einen besonderen Wert erhält es dadurch, dass Hildegard von Spitzenberg für ihre Informationen nicht auf das Couloir-Geflüster am Hof angewiesen war. Sie verkehrte bei Bismarck und seinen Nachfolgern. Kaiser Wilhelm I, kam zu ihr ins Haus. Die wichtigsten Beamten des Reiches, hohe Militärs, deutsche und ausländische Diplomaten, hatten zu ihr ein eigenartiges Vertrauen. Man hat das Gefühl, dass manche es liebten, sich bei ihr ganz einfach einmal auszusprechen, und sich nicht scheuten, sie auch um Rat zu fragen, vor allem in ihren letzten Lebensjahren. [...] Dass sie so genau Tagebuch führte, wussten wohl nur ihre nächsten Angehörigen. So füllte sie sechs Jahrzehnte lang achtundsechzig Schreibhefte in Quart von je rund zweihundertfünfzig Seiten, mit eigenen Beobachtungen und Meinungen, mit Berichten über Begebenheiten und vor allem über 'Hintergrund'-Geschehnisse. Eine [...] verborgene Diagnostikerin, die die abfallenden Kurven der 'Dekadenz'-Epoche (nach der Bismarckzeit einer ihrer Lieblingsausdrücke) aufzeichnete wie ein Arzt, die Fieberkurve eines Kranken." (S. 219).
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