"Ich möchte zu denen gehören, die nicht dazugehören" ZEIT Nr.54, 16.12.2025
"[...] Es ist immer derselbe Mann: Ali. In 38 Sprachen redet er von den Buchcovern zu uns, hier im Haus dieses Mannes, der mal dieser Ali gewesen ist. 40 Jahre ist das her.
Günter Wallraff war neben Ali, dem Gastarbeiter, schon vieles: Hans Esser zum Beispiel, als er Mitte der Siebzigerjahre als vermeintlicher Boulevardjournalist die unwürdigen Recherchemethoden der Bild-Zeitung aufdeckte. Er war undercover unterwegs als iranischer Arbeitsmigrant in Japan (Anfang der Neunzigerjahre) und als Somalier in Deutschland (Ende der Zweitausenderjahre). Er recherchierte auch verdeckt für das ZEITmagazin. Er wurde der bekannteste Investigativjournalist Deutschlands.
Heute ist Wallraff 83 Jahre alt, und an diesem Herbsttag in Köln sagt er, dass er sich damals, als Ali und in all den anderen Rollen danach, viel mehr zu Hause gefühlt habe, dass er viel mehr er selbst gewesen sei als in seinem wirklichen, unverkleideten Leben als Günter Wallraff.Ganz unten heißt das Buch, für das er zwei Jahre lang als Ali in Deutschland lebte. Fünf Millionen Mal hat sich das Buch über den türkischen Gastarbeiter und das Elend und die Ausbeutung, die er erlebt hat, bis heute verkauft. Die Verbandszeitung des Buchhandels, das Börsenblatt, schrieb: "In der Geschichte des deutschen Verlagswesens hat es noch nie einen sensationelleren Erfolg gegeben." Was bleibt von so einem Buch? [...]
Sie blieben. Aber es dauerte, bis sie wirklich angekommen waren. Als dann Ganz unten erschien, habe sich etwas verändert, sagt Özdemir. "Meine Eltern hatten die türkische Fassung, En Alttakiler, natürlich zu Hause. Wie so viele türkeistämmige Familien damals. Es stand neben dem Fernseher, dem prominentesten Platz in einer türkischen Wohnung!"
Vergangene Nacht habe er einen Traum gehabt, sagt Günter Wallraff: "Ich stand vor einer eingezäunten Manege mit einem fauchenden Tiger darin. Plötzlich entdeckte ich ein Loch im Zaun. Zum Glück fand ich eine Matratze, mit der ich das Loch stopfen konnte. Doch dann sieht der Tiger mich an und richtet den Blick auf ein anderes Loch, und dann seh ich, dass da lauter Löcher im Zaun sind. Der Tiger guckt mich gebannt an und deutet mit dem Kopf von einem Loch zum nächsten. Ich eile von Loch zu Loch und versuche, sie zu stopfen. Und irgendwann fällt mir auf: Der Tiger will gar nicht raus. Der macht dich nur auf die Löcher aufmerksam."
Er frage sich, was der Traum bedeute. [... ]
ZEIT: Kann ein Buch etwas verändern? Was kann es verändern?
Wallraff: Nach Ganz unten wurden Thyssen und andere Konzerne zu Bußgeldern in Millionenhöhe verurteilt, Dauerschichten wurden unterbunden, Schutzhelme und Staubmasken zur Verfügung gestellt, zahlreiche Sicherheitsingenieure mussten neu eingestellt werden, und Leiharbeiter erhielten Festanstellungen. Das Wichtigste aber war die Anteilnahme der Menschen an dem Schicksal der türkischen Arbeiter, eine große Solidarisierung, insbesondere im Ruhrgebiet. Ein Buch kann und sollte also auch an Ort und Stelle etwas verändern und vor allem denen eine Stimme geben, die nichts zu sagen haben, obwohl sie viel zu sagen hätten. [...]"
Wikipedia über Ganz unten
Das Werk schildert, wie Günter Wallraff in der Rolle des Türken Levent (Ali) Sigirlioğlu (in späteren Ausgaben Sinirlioğlu genannt) in Deutschland verschiedene Arbeiten annimmt und dabei vielerorts Ausbeutung, Ausgrenzung, Missachtung und Hass erfährt.
Wallraff schreibt im Vorwort zu seinem Buch, für das er ab März 1983 zwei Jahre lang recherchierte:
„Sicher, ich war nicht wirklich ein Türke. Aber man muß sich verkleiden, um die Gesellschaft zu demaskieren, muss täuschen und sich verstellen, um die Wahrheit herauszufinden.
Ich weiß immer noch nicht, wie ein Ausländer die täglichen Demütigungen, die Feindseligkeiten und den Haß verarbeitet. Aber ich weiß jetzt, was er zu ertragen hat und wie weit die Menschenverachtung in diesem Land gehen kann.
Ein Stück Apartheid findet mitten unter uns statt – in unserer ‚Demokratie‘.
Die Erlebnisse haben alle meine Erwartungen übertroffen. In negativer Hinsicht. Ich habe mitten in der Bundesrepublik Zustände erlebt, wie sie eigentlich sonst nur in den Geschichtsbüchern über das 19. Jahrhundert beschrieben werden.“
Wallraff musste als Ali Sinirlioğlu bei verschiedenen bekannten Unternehmen schwerste Arbeiten für geringe Stundenlöhne ausführen, schikaniert von deutschen Kollegen, ohne Sicherheitsvorkehrungen, bisweilen ohne Papiere, Sozial- oder Krankenversicherung, nicht selten mehrere Schichten hintereinander. Wo deutsche Kollegen Schutzkleidung bekamen (zum Beispiel bei Kanalarbeiten bei Temperaturen unter null Grad), erhielt er keine; Wallraff schildert in diesem Zusammenhang auch, wie türkische Arbeiter in Atomkraftwerken bei ihren Tätigkeiten gefährlich hohe Strahlendosen in Kauf nehmen sollten. Hierzu führte ein von Wallraff engagierter Schauspieler als angeblicher Vertreter des Kernkraftwerks Würgassen ein fingiertes Gespräch mit einem der Arbeitgeber Wallraffs. Dabei wurde von einer (fiktiven) Panne gesprochen, die nur mit erheblicher Strahlenbelastung der Arbeiter zu beseitigen sei. Wallraffs Arbeitgeber sagte trotzdem zu, entsprechende Kräfte zu beschaffen.[2]
Viele türkische Arbeiter hatten kaum eine Chance, sich gegen solche Unmenschlichkeiten zu wehren, hielten sie sich doch illegal in Deutschland auf oder standen vor der Ausweisung. Der Autor berichtet von sich selbst, seine Gesundheit sei noch lange Zeit nach den Recherche-Arbeiten durch die Tätigkeiten, die er als Ali Sinirlioğlu, wenn auch nur kurzzeitig, durchführen musste, stark angegriffen gewesen. Hinzu kamen auch die Nachwirkungen von Medikamentenversuchen, an denen er gegen Bezahlung teilgenommen hatte, wobei die durchführenden Institute den Probanden die Nebenwirkungen teilweise verschwiegen.
Nicht nur auf seinen verschiedenen Arbeitsstellen, auch im täglichen Leben, selbst wenn er fließend Deutsch sprach und selbst noch wenn er bei einem Fußballspiel der deutschen Nationalmannschaft gegen die Türkei nur die deutschen Spieler anfeuerte, musste Wallraff mit seinem südländischen Erscheinungsbild Demütigungen wie „Sieg-Heil“-, „Deutschland-den-Deutschen“- und „Türken-raus“-Anfeindungen ertragen, es wurden ihm Zigaretten ins Haar geworfen und Biere über den Kopf gegossen.
Auch bei weiteren Gelegenheiten, die nicht unbedingt etwas mit der Arbeitswelt zu tun hatten, erfuhr er Ausgrenzung als Türke, beispielsweise, indem er bei katholischen Pfarrern um die Taufe nachsuchte oder in einem Bestattungsinstitut die eigene Beerdigung – wegen einer tödlichen Erkrankung durch mangelnden Arbeitsschutz – organisieren wollte.
Aus seinem Inhalt erklärt sich die Titelwendung des Buches, [...]"
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen