23 September 2010

Das Ende

[511] Nana war plötzlich verschwunden; man erzählte von einer Flucht in unbekannte Länder mit seltsamen Namen. Vor ihrer Abreise hatte sie sich noch das Vergnügen bereitet, ihr Hab und Gut zu versteigern; das Haus, die Möbel, das Geschmeide, selbst die Toiletten und die Wäsche. Man erzählte, daß sie an sechshunderttausend Franken eingenommen habe. Paris hatte sie das letztemal als Schauspielerin in dem Ausstattungsstück »Melusine« im Possentheater [512] gesehen, das Bordenave, ohne einen Sou zu besitzen, auf gut Glück gemietet hatte. Sie hatte sich da wieder mit Prullière und Fontan zusammengefunden. Ihre Rolle war einfach die einer Statistin, die allerdings drei »plastische« Stellungen einer stummen, aber um so mächtigeren Fee hatte. Inmitten des großen Erfolges, als Bordenave mit Hilfe ungeheurer Reklame und Plakate ganz Paris in Erregung versetzt hatte, erfuhr man eines Tages, daß sie am Abend vorher nach Kairo abgereist sei. Als Ursache erwähnte man einen kleinen Wortwechsel mit ihrem Direktor, ein Wort, das ihr nicht paßte; es war eben die Laune einer Frau, die zu reich war, um sich ärgern zu lassen. Übrigens war es schon seit längerer Zeit ein Lieblingsgedanke von ihr, zu den Türken zu gehen.
Monate verflossen, man vergaß sie. Als ihr Name wieder auftauchte, waren die seltsamsten Geschichten über sie im Umlauf. Jeder wußte etwas anderes zu erzählen. Man sagte, sie hätte den Vizekönig erobert und herrsche in einem Palaste über zweihundert Sklaven, denen sie zu ihrer Belustigung die Köpfe abschlage. Ein anderer meinte, nichts von alledem sei wahr; im Gegenteil, sie habe sich mit einem langen Neger ruiniert, der sie ohne ein Hemd zurückgelassen.
[...]
Rosa verließ mühsam den Koffer. Sie murmelte:
Ja, ich komme, ich komme ... Gewiß, sie bedarf meiner nicht mehr, man muß eine barmherzige Schwester bestellen ...
Sie wandte sich um; sie vermochte ihren Schal nicht zu finden. Am Waschtische füllte sie mechanisch ein Waschbecken mit Wasser und wusch sich Hände und Gesicht, wobei sie murmelte:
Ich weiß nicht, aber es hat mich arg mitgenommen ... Wir waren, solange sie am Leben war, einander nicht sehr freundlich gesinnt. Das schmerzt mich jetzt ... Allerlei dumpfe Gedanken gehen mir durch den Kopf. Ich selbst wünsche mir den Tod ... Ja, ich brauche frische Luft.
Die Leiche begann die Luft im Zimmer zu vergiften. An die Stelle der allgemeinen Sorglosigkeit trat eine allgemeine Panik.
Schauen wir, daß wir fortkommen, meine Kätzchen, sagte Gaga. Es ist hier nicht besonders gesund.
Sie gingen hinaus, einen letzten Blick auf das Bett werfend. Da Lucy, Blanche und Karoline noch im Zimmer geblieben waren, legte Rosa noch eine letzte Hand an, um das Zimmer in Ordnung zu bringen. Sie zog den Vorhang vor dem Fenster zu; dann fiel ihr ein, daß diese Lampe sich hier nicht schickte, man bedürfe einer Wachskerze. Sie zündete eine Kerze an, die auf dem Kamin stand, und stellte sie auf das Nachtkästchen neben der Leiche. Ein helles Licht beleuchtete plötzlich das Gesicht der Toten. Es war furchtbar. Alle schreckten zusammen und eilten hinaus.
Ach, sie hat sich sehr verändert, murmelte Rosa Mignon, die als letzte das Zimmer verließ.
Sie ging hinaus und schloß die Tür. Nana blieb allein [532] im hellen Glanz der Kerze, das Gesicht nach oben gekehrt. Sie war nichts mehr als ein Haufen verdorbenen Fleisches und Blutes, hingeworfen auf diese Kissen. Die Pusteln hatten das ganze Gesicht überzogen; eine Blatter saß neben der anderen; vertrocknend, zusammenfallend nahmen sie die graue Farbe des Schmutzes an und saßen wie ein Stück Erde auf dieser unförmigen Masse, in der man keinen Zug mehr erkennen konnte. Das linke Auge war in der Entzündung der entsetzlichen Krankheit vollständig verschwunden; das andere, halb offen, saß wie ein schwarzes Loch inmitten dieser Masse. Die Nase ragte entzündet nur wenig hervor. Von einer ihrer Wangen ging eine dicke, rotentzündete Kruste aus, die sich über den Mund verbreitete und diesen da durch zu einem grauenhaften Lächeln verzog. Über diese fürchterliche, schaurige Masse des Nichts ergossen sich wie eine goldene Flut die Haare, die schönen Haare, die noch immer ihren Sonnenglanz bewahrt hatten. Venus begann allmählich zu verwesen. Es schien, daß das Gift, das sie in der Gosse, aus dem Schmutz der Menschheit aufgelesen, um ein ganzes Volk damit zu vergiften, ihr jetzt ins Gesicht gestiegen war, um die Fäulnis zu beschleunigen. Das Zimmer war leer. Ein ungeheurer Hauch der Verzweiflung stieg vom Boulevard empor und bauschte den Vorhang des Zimmers auf.

Nach Berlin, nach Berlin, nach Berlin ...

Zola: Nana (14. Kapitel), S.511-532

Der Roman spielt in Frankreich zur Zeit Kaiser Napoleons III. vor Ausbruch des deutsch-französischen Krieges. Der Ruf "Nach Berlin" entspricht spiegelbildlich den Rufen "Nach Paris" bei Ausbruch des 1. Weltkrieges.

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