31 Oktober 2011

Die Zigeunerin Elsbeth

»Lassen Sie uns«, sagt jetzt der Präsident zu Nolten, welcher noch immer ohne Besinnung an der Erde kauerte, »lassen Sie uns vernünftig und gefaßt schnelle Hülfe anwenden, Ihre Braut wird in kurzem die Augen wieder öffnen!« Also hob man vorsichtig die Scheinleiche auf das Polster und alle setzten sich in Bewegung, als auf einmal eine fremde Weiberstimme, welche ganz in der Nähe aus dichtem Gezweige hervordrang, einen plötzlichen Stillstand veranlaßte. Unwillkürlich ballte sich Theobalds Faust, da er die majestätische Gestalt der Zigeunerin mit keckem Schritt in die Mitte treten sah, aber die Gegenwart einer unnahbaren Macht schien alle seine Kraft in Bande zu schlagen.
Indes man Agnesen, von den Mädchen geschäftig begleitet, hinwegtrug, sagte Elisabeth mit ruhigem Ernst: »Wecket das Töchterchen ja nicht mehr auf! Entlaßt in Frieden ihren Geist, damit er nicht unwillig, gleich dem verscheuchten Vogel, in der unteren Nacht ankomme, verwundert, daß es so balde geschah. Denn sonst kehrt ächzend ihre Seele zurück, mich zu quälen und meinen Freund; es eifert, ich fürchte, die Liebe selber im Tode noch fort. Ich bin die Erwählte! mein ist dieser Mann! Aber er blickt mich nicht an, der Blöde! Laßt uns allein, damit er mich freundlich begrüße!«
Sie tritt auf Theobalden zu, der ihre Hand, wie sie ihn sanft anfassen will, mit Heftigkeit wegwirft. »Aus meinen Augen Verderberin! verhaßtes, freches Gespenst! das mir den Fluch nachschleppt, wohin ich immer trete! Auf ewig verwünscht, in die Hölle beschworen sei der Tag, da du mir zum ersten Male begegnet! Wie muß ich es büßen, daß mich als arglosen Knaben das heiligste Gefühl zu dir, zu deinem Unglück mitleidig hinzog, in welche schändliche Wut hat deine schwesterliche Neigung, in was für teuflische Bosheit hat deine geheuchelte Herzensgüte sich verkehrt! Aber ich konnte wissen, ich kindischer, rasender Tor, mit wem ich handeln ging! – Herr Gott im Himmel! nur diese Strafe ist zu hart – Elend auf Elend, unerhört und unglaublich, stürzt auf mich ein – O ihr, deren Blicke halb mit Erbarmen, halb mit entehrendem Argwohn auf mich, auf dieses Weib gerichtet sind, glaubt nicht, daß meine Schuld dem Jammer gleich sei, der mein Gehirn zerrüttet! Das Elend dieser Heimatlosen lest ihr auf ihrer Stirn – aus dieser Quelle floß mir schon ein übervolles Meer von Kummer und Verwirrung. Keine Verbrecherin darf ich sie nennen – sie verdiente mein Mitleid, ach, nicht meinen Haß! Doch wer kann billig sein, wer bleibt noch Mensch, wenn der barmherzige Himmel sich in Grausamkeiten erschöpft? Was? wär's ein Wunder, wenn hier auf der Stelle mich selbst ein tobender Wahnsinn ergriffe, mich fühllos machte gegen das Äußerste, Letzte, das – o ich seh es unaufhaltsam näher kommen! Was klag ich hier? was stehn wir alle hier? und droben der Engel ringt zwischen Leben und Tod – Sie stirbt! Sie stirbt! Soll ich sie sehn? kann ich sie noch retten? O folgt mir! – Wohin? dort kommt Margot eben von ihr! Ja – ja – auf ihrer Miene kann ich es lesen – Es ist geschehen – mit Agnes, mit Agnes ist es vorbei! – Hinweg! laßt mich fliehen! fliehen ans Ende der Welt –« Kraftvoll hält ihn Elisabeth fest, er stößt im ungeheuren Schmerz ein entsetzliches Wort gegen sie aus, aber sie umfaßt mit Geschrei seine Kniee und er kann sich nicht rühren. Der Präsident wendet das Auge von der herzzerreißenden Szene. »Weh! Wehe!« ruft Elisabeth, »wenn mein Geliebter mir flucht, so zittert der Stern, unter dem er geboren! Erkennst du mich denn nicht? Liebster! erkenne mich! Was hat mich hergetrieben? was hat mich die weiten Wege gelehrt? Schau an, diese blutenden Sohlen! Die Liebe, du böser, undankbarer Junge, war allwärts hinter mir her. Im gelben Sonnenbrand, durch Nacht und Ungewitter, durch Dorn und Sumpf keucht sehnende Liebe, ist unermüdlich, ist unertötlich, das arme Leben! und freut sich so süßer, so wilder Plage, und läuft und erkundet die Spuren des leidigen Flüchtlings von Ort zu Ort, bis sie ihn gefunden – Sie hat ihn gefunden – da steht er und will sie nicht kennen. Weh mir! wie hab ich freudigern Empfang gehofft, da ich dir so lange verloren gewesen, und, Liebster, du mir! – So gar nicht achtest du meines herzlichen Grames, stößest mich von dir wie ein räudiges Tier, – das aber leckt mit der Zunge die Füße des Herrn, das aber will von seinem Herrn nicht lassen. – – Ihr Leute, was soll's? Warum hilft mir niemand zu meinem Recht? Sei Zeuge du Himmel, du frommes Gewölbe, daß dieser Jüngling mir zugehört! Er hat mir's geschworen vorlängst auf der Höhe, da er mich fand. Die herbstlichen Winde ums alte Gemäuer vernahmen den Schwur; alljährlich noch reden die Winde von dem glückseligen Tag. Ich war wieder dort, und sie sagten: Schön war er als Knabe, wär er so fromm auch geblieben! Aber die Kinder allein sind wahrhaftig. – Agnes, was geht sie dich an? Ihr konntest du dein Wort nicht halten, du selbst hast's ihr bekannt, das hat sie krank gemacht, sie klagte mir's den Abend. Warst du ihr ungetreu, ei sieh, dann bist du mir's doppelt gewesen.«
Diese letzten Worte fielen dem Maler wie Donner aufs Herz Er wütete gegen sich selbst, und jammervoll war es zu sehen, wie dieser Mann, taub gegen alle Vernunft, womit der Präsident ihm zusprach, sich im eigentlichen Sinne des Worts, die Haare raufte und Worte ausstieß, die nur der Verzweiflung zu vergeben sind. Endlich stürzt er dem Schlosse zu, der Präsident, voll Teilnahme, eilt nach. Auf seinen Wink wollen einige Leute sich der Verrückten bemächtigen, aber mit einer Schnelligkeit, als hätte sie es aus der Luft gehascht, schwingt sie ein blankes Messer drohend in der Faust, daß niemand sich zu nähern wagt. Dann stand sie eine ganze Weile ruhig, und nach einer unbeschreiblich schmerzvollen Gebärde des Abschieds, indem sie ihre beiden Arme nach der Seite auswarf, wo Nolten sich entfernt hat, wandte sie sich und verschwand zögernden Schritts in der Finsternis. (Mörike: Maler Nolten, 2. Teil, S.343-346)

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