Nachdem Schoppe, durch die gewitterhafte Luft von Punsch und Liebe feuriger, ziemlich lange den Blitz-Funken seines Humors hatte im Zickzack und verkalkend durch das Weltgebäude schießen lassen: so trat plötzlich ein Unbekannter, wie ein Totenkopf gänzlich kahl und sogar ohne Augenbraunen, aber welk- und rosenwangig, an ihren Tisch und sagte mit eiserner Miene zu Schoppe: »Binnen heute und 15 Monaten seid Ihr wahnsinnig geworden, Spaßvogel!« »Oho!« fuhr Schoppe äußerlich auf, aber innerlich zusammen. Albano wurde blaß. Jener faßte sich wieder, starrete die widerwärtige Gestalt, die die welke, aber rosenrote Haut auf scharfen hohen Gesichtsknochen hin- und herrollte, scharf und mutig an und sagte: »Wenn Ihr mich versteht, prophetischer Galgen- und Spaßvogel, und nicht selber wahnsinnig seid: so bin ich imstande, darzutun, daß man sich sehr wenig daraus zu machen habe aus der Tollheit.« […] »Ich bin kein Philosoph«, sagte gleichgültig der Kahlkopf, dessen vollendete glänzende Kahlheit mehr fürchterlich als häßlich war. Schoppe fragte erbittert, »wer er denn sei, quis und quid und ubi und quibus auxiliis und cur und quomodo und quando[Fußnote: Wenn.]« – »Quando? – Nach 15 Monaten komm' ich wieder – Quis? – Nichts; Gott braucht mich bloß, wenn er jemand unglücklich machen muß«, sagte der Kahle und bat sich ein Glas und die Erlaubnis mitzutrinken aus. Albano sagte, es gern erlaubend, im Frageton: er sei wohl erst angekommen? »Eben vom großen Bernhard«, sagte der Kahle, aber widriger mit jedem Wort, weil sein altes Rosen-Gesicht ein Zickzack konvulsivischer Verziehungen war, so daß immer ein Mensch nach dem andern dazustehen schien. […]
Jetzt trat eine arme, magere Tischlersfrau, Likör zu holen, herein, welche die Augen vor Scham und Schwäche nieder- und halb zugezogen trug; sie getrauete sich nicht aufzusehen, weil die ganze Stadt wußte, daß sie nachts gewaltsam aus dem Bette in die Gasse getrieben werde, um einem Leichenzuge, der dann durch dieselbe nach einigen Tagen wirklich ziehe, in seinem Vorspiele und Vorbilde vor ihr zuzuschauen. Kaum hatte sie der Kahle erblickt, als er sich das Gesicht bedeckte: »Es ist ein einziger Unschuldiger unter uns« (sagt' er ganz bleich und unruhig) – »der Jüngling hier«, indem er auf Albano zeigte. [...]
Albano fragte, ob er vorhin mit dem großen Bernhard den Schweizerberg gemeint. »Wohl!« (versetzt' er) »Ich reise jährlich hin, um eine Nacht mit meiner Schwester zuzubringen.« – »Meines Wissens sind nur Mönche da«, sagte Albano. – »Sie steht unter den Erfrornen in der Klosterkapelle[Fußnote: Bekanntlich lehnen sie da unverweset aneinander.], (versetzt' er) »ich bleibe die ganze Nacht vor ihr und sehe sie an und singe Horen.« [...]
»Ich hatt' auch eine« (sagte Albano) – »kann man Tote zitieren?« – »Nein, aber Sterbende«, sagte der Kahle. – »Huh!« sagte Albano bebend. – »Wen wollt Ihr sehen?« fragte der Kahle. – »Eine lebende Schwester, die ich noch nicht gesehen«, sagte glühend Albano. »Es kommt« (sagte der Kahle) »auf ein wenig Schlaf an, und daß Ihr noch wisset, wo die Schwester an ihrem letzten Geburtstag war.« – Zum Glück war Julienne, die er für seine Schwester nahm, an dem ihrigen im Schlosse zu Lilar gewesen. Er sagt' es ihm. »So kommt mit mir!« sagte der Kahle. [...]
Da folgte Albano dem Kahlkopf verwegner nach, die Geisterfurcht tötet die Menschenfurcht. Beide gingen stumm nebeneinander. In der fernen Tiefe schien es, als schwebe ein Mensch, ohne zu schreiten und rege zu sein, fest und langsam in den Lüften weiter. [...]
Beide traten ans Laubgehölze vor Lilar; da half sich ein Knabe mit einem unförmlich-großen Kopfe auf zwei Krücken heraus und hatte eine Rose, die er dem Jüngling nickend anbot. Albano nahm sie, aber der Kleine nickte unaufhörlich, als woll' er sagen, er möge doch daran riechen. Albano tats – und plötzlich zog ihn die Theaterversenkung des Lebens, ein bodenloser Schlummer, in die dunkle Tiefe. Als er belastet erwachte, war er allein und ohne seine Waffe in einem alten bestäubten gotischen Zimmer – ein mattes Lichtlein streuete nur Schatten umher – er sah durch das Fenster – Lilar schien es zu sein, aber auf die ganze Landschaft war Schnee gefallen und der Himmel weiß bewölkt, und doch stachen sonderbar die Sterne durch. Was ist das, steh' ich im Larventanz der Träume? fragt' er sich. Da ging eine Tapete auf – eine verhangne weibliche Gestalt mit unzähligen Schleiern auf dem Angesicht trat herein – stand ein wenig – und flog ihm an sein Herz. »Wer ists?« fragte er. Sie drückte ihn heftiger an sich und weinte durch die Schleier hindurch. »Kennst du mich?« fragt' er. Sie nickte. »Bist du meine unbekannte Schwester?« fragt' er. Sie nickte und hielt ihn mit festen Schwesterarmen, mit heißen Liebestränen, mit ungestümen Küssen an sich fest. »Rede, wo lebst du?« – Sie schüttelte. – »Bist du gestorben oder ein Traum?« – Sie schüttelte. – »Heißest du Julienne?« – Sie schüttelte. »Gib mir ein Zeichen deiner Wahrhaftigkeit!« – Sie zeigte ihm einen halben goldnen Ring auf einem nahen Tisch. »Zeige dein Gesicht, damit ich dir glaube!« – Sie zog ihn vom Fenster weg. »Schwester, bei Gott, wenn du nicht lügst, so hebe die Schleier!« – Sie wies mit dem ausgestreckten langen umwickelten Arme nach etwas hinter ihm. Er bat immer fort, sie deutete heftig nach einem Orte hin und drückte ihn von sich; endlich folgte er und kehrte sich seitwärts – Da sah er in einem Spiegel, wie sie schnell die Schleier aufriß und wie darunter die veraltete Gestalt erschien, deren Bild ihm sein Vater auf Isola bella mit der Unterschrift gegeben. Aber als er sich umkehrte, fühlt' er auf seinem Gesicht eine warme Hand und eine kalte Blume; und sein Ich zog wieder ein Schlaf hinunter. Als er erwachte, war er allein, aber mit seiner Waffe und an der Waldstelle, wo er zum ersten Male eingeschlafen war. Der Himmel war blau, und die lichten Bilder schimmerten – die Erde war grün und der Schnee verwischt – den halben Ring hatt' er nicht mehr in der Hand – um ihn war kein Laut und kein Mensch. War alles der verwehte Wolkenzug der Träume gewesen, das kurze Wirbeln und Bilden in ihrem Zauberrauch? Aber das Leben, die Wahrheit hatte ja so lebendig an seiner Brust gebrannt; und die Schwestertränen lagen noch auf seinem Auge. »Oder wären es nur meine Brudertränen?« sagte sein verwirrter Geist, als er aufstand und in der hellen Nacht nach Hause ging. [...]
Ach über allen seinen Gedanken zog in Geier-Kreisen unaufhörlich eine ferne dunkle Gestalt, der Würgengel, der auf die hülflose Liane hungrig niederfliegen wollte! Das Starren der Leichen-Seherin auf dem Blumenbühler Weg – zumal nach dem trüben Blatte der Fürstin – gaukelte jetzt in den dunkeln, durcheinanderkreuzenden Laubgängen, worein sein Lebensweg getrieben war, als ein flatterndes Schreckbild fort.
Jean Paul: Titan, 95. und 96. Zykel
Für die, die sich ängstlich fragen: "Hört das denn endlich wieder auf?" - Ja, es wird einmal aufhören. Es sind schon über 60% des Textes ausgewertet. Das soll freilich nicht heißen, dass nicht auf dem Wege sehr sehr viele Blumenstücke am Wege übergangen worden wären. Es lohnt sich, auch in übergangenen Zykeln danach zu suchen, wenn einem denn nicht die Blumenstücke schon über sind.
Peter Bichsel: Die schöne Schwester Langeweile (2023)
vor 17 Stunden
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