19 April 2012

Gespräch über Französische Revolution, Schwarmintelligenz und Genie

An dem Abende dieses Briefes ging er mit seinem Vater in eine Conversazione im Palazzo Colonna – hier fanden sie die schwarzmarmorne Galerie voll Antiken und Gemälde aus einem Kunst- und Gesellschaftszimmer in einen Fechtboden verkehrt, alle Arme und Zungen der Römer waren in Bewegung und Kampf über die neuesten Entwicklungen der gallischen Revolution, und die meisten für sie. Es war damals, wo fast ganz Europa einige Tage lang vergaß, was es aus der politischen und poetischen Geschichte Frankreichs jahrhundertelang gelernt hatte, daß dasselbe leichter eine vergrößerte als eine große Nation werden könnte. Der Ritter allein gab sich lieber den Kunstwerken als [587] dem leeren Gefechte seiner Nachbarschaft hin; endlich aber hört' er von weitem, wie Albano, gleich allen damaligen Jünglingen, der Himmels-Königin, derFreiheit, jauchzend nachzog, unter den ewigen Freien und ewigen Sklaven mitgehend nach der damaligen Gleichheit; da trat er näher und merkte nach seiner Weise an: »die Revolution sei etwas sehr Großes; er finde indes an großen Werken, z.B. an einem Coliseo, Obeliskus, an dem Flor einer Wissenschaft, an dem Kriege, an der Höhe der Astronomie, der Physik weniger als andere zu bewundern, denn bloß die Menge in der Zeit oder im Raume schaff' es, eine beträchtliche Vielheit kleiner Kräfte. Aber nur große achte man178. In der Revolution seh' er mehr jene als diese – Freiheit werde an einem Tage so wenig gewonnen als verloren; wie schwache Individuen im Rausche gerade ihr Gegenteil wären, so geb' es auch wohl einen Rausch der Menge durch die Menge.«
Bouverot versetzte darauf: »Das ist ganz meine Meinung auch.« Albano antwortete recht sichtbar nur seinem Vater – weil er den deutschen Herrn tief verachtete und ihn ganz unwürdig des Genusses hoher Kunstwerke hielt, wofür er vornehmen Geschmack mitgebracht, obwohl keinen Sinn – und sagte: »Lieber Vater, die 12000 Juden entwarfen nicht das Coliseo, das sie baueten, aber die Idee war doch irgendeinmal ganz in einem Menschen, im Vespasian; und so muß überall den konzentrischen Richtungen kleiner Kräfte irgendeine große vorstehen, und wär' es Gottsel ber.« – »Dahin« (sagte Gaspard) »wo alles Göttliche verlegt wird, magst du es denn auch versetzen.« – Bouverot lächelte. – »Der gallische Rausch« (versetzte Albano heftig) »ist doch wahrlich kein zufälliger, sondern ein Enthusiasmus, in der Menschheit und Zeit zugleich gegründet; woher denn sonst der allgemeine Anteil?
[588] – Sie können vielleicht sinken, aber um höher zu fliegen. Durch ein rotes Meer des Bluts und Kriegs watet die Menschheit dem gelobten Lande entgegen, und ihre Wüste ist lang; mit zerschnittenen, nur blutig-klebenden Händen klimmt sie wie die Gemsenjäger empor.« 
(Jean Paul: Titan, 105. Zykel)

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