27 Juni 2013

Richard Wagner: Über sein Leben (Fortsetzung I)

Auf einer schönen Sommerreise in die böhmischen Bäder entwarf ich den Plan zu einer neuen Oper: »Das Liebesverbot«, wozu ich den Stoff aus Shakespeare's »Maaß für Maaß« entnahm, nur mit dem Unterschied, daß ich ihm den darin vorherrschenden Ernst benahm und ihn so recht im Sinne des jungen Europa modelte: die freie, offene Sinnlichkeit erhielt den Sieg rein durch sich selbst über puritanische Heuchelei. – Noch im Sommer desselben Jahres, 1834, nahm ich die Musikdirektorstelle am Magdeburger Theater an. Die praktische Anwendung meiner musikalischen Kenntnisse für die Funktion eines Dirigenten glückte mir sehr bald: der wunderliche Verkehr mit Sängern und Sängerinnen hinter den Coulissen und vor den Lampen entsprach ganz und gar meiner Neigung zu bunter Zerstreuung. Die Komposition meines »Liebesverbotes« wurde begonnen. [...] Auf einige Zeit darin unterbrochen, nahm ich die Komposition im Winter 1835 zu 1836 wieder auf und beendete sie kurz vor dem Auseinandergehen der Opernmitglieder des Magdeburger Theaters. Mir blieben nur noch zwölf Tage bis zum Abgange der ersten Sänger übrig; in dieser Zeit mußte also meine Oper studirt werden, wollte ich sie noch von ihnen aufführen lassen. Mit mehr Leichtsinn als Überlegung ließ ich nach zehntägigem Studium die Oper, welche sehr starke Partien hatte, in Szene gehen; ich vertraute dem Souffleur und meinem Dirigentenstabe. Trotzdem konnte ich aber doch nicht verhindern, daß die Sänger ihre Partien kaum halb auswendig wußten. Die Vorstellung war Allen wie ein Traum, kein Mensch konnte einen Begriff von der Sache bekommen; dennoch wurde, was halbweg gut ging, gehörig applaudiert. Eine zweite Vorstellung kam aus verschiedenen Gründen nicht zu Stande*. – Während dem hatte sich denn auch der Ernst des Lebens bei mir gemeldet; meine schnell ergriffene äußere Selbstständigkeit hatte mich zu Thorheiten aller Art verleitet, Geldnoth und Schulden quälten mich auf allen Seiten. [...]
Im Sommer 1837 besuchte ich Dresden auf eine kurze Zeit. Dort brachte mich die Lektüre des Bulwer'schen Romans »Rienzi« wieder auf eine bereits gehegte Lieblingsidee zurück, den letzten römischen Tribunen zum Helden einer großen tragischen Oper zu machen. Durch widerliche äußere Verhältnisse daran verhindert, beschäftigte ich mich aber nicht weiter mit Entwürfen. Im Herbste dieses Jahres ging ich nach Riga, um die Stelle des ersten Musikdirektors bei dem unter Holtei neu eröffneten Theater anzutreten. Ich fand da vortreffliche Mittel für die Oper versammelt, und mit vieler Liebe ging ich an die Verwendung derselben. Mehrere Einlagen in Opern sind für einzelne Sänger in dieser Zeit von mir komponirt worden. [...] Als ich im Herbst die Komposition meines »Rienzi« begann, band ich mich nun an nichts, als an die einzige Absicht, meinem Süjet zu entsprechen: ich stellte mir kein Vorbild, sondern überließ mich einzig dem Gefühle, das mich verzehrte, dem Gefühle, daß ich nun so weit sei, von der Entwickelung meiner künstlerischen Kräfte etwas Bedeutendes zu verlangen und etwas nicht Unbedeutendes zu erwarten. Der Gedanke, mit Bewußtsein – wenn auch nur in einem einzigen Takte – seicht oder trivial zu sein, war mir entsetzlich. Mit voller Begeisterung setzte ich im Winter die Komposition fort, so daß ich im Frühjahr 1839 die beiden großen ersten Akte fertig hatte. Um diese Zeit ging mein Kontrakt mit dem Theaterdirektor zu Ende, und besondere Umstände verleideten es mir, länger in Riga zu bleiben. Bereits seit zwei Jahren nährte ich den Plan, nach Paris zu gehen; [...] In Boulogne sur mer blieb ich vier Wochen: dort machte ich die erste Bekanntschaft Meyerbeer's, ich ließ ihn die beiden fertigen Akte meines »Rienzi« kennen lernen; er sagte mir auf das Freundlichste seine Unterstützung in Paris zu. Mit sehr wenig Geld, aber den besten Hoffnungen betrat ich nun Paris. Gänzlich ohne alle Empfehlungen war ich einzig nur auf Meyerbeer angewiesen; mit der ausgezeichnetsten Sorgsamkeit schien dieser für mich einzuleiten, was irgend meinen Zwecken dienlich sein konnte, [...]
Richard Wagner: Autobiographische Skizze

*Es kamen nur drei Besucher.

26 Juni 2013

Eine Pilgerfahrt zu Beethoven - Die Begegnung

Mit großer Kaltblütigkeit an die Hausthüre Beethoven's gelehnt, erwartete mich mein Dämon, – der Engländer! – Der Unselige hatte alle Welt, somit endlich auch den Wirth unseres Gasthofes bestochen; dieser hatte die offenen Zeilen Beethoven's an mich früher, als ich selbst, gelesen, und den Inhalt derselben an den Britten verrathen.
Ein kalter Schweiß überfiel mich bei diesem Anblick; alle Poesie, alle himmlische Aufregung schwand mir dahin: ich war wieder in seiner Gewalt.
»Kommen Sie,« begann der Unglückliche: »stellen wir uns Beethoven vor!«
Erst wollte ich mir mit einer Lüge helfen, und vorgeben, daß ich gar nicht auf dem Wege zu Beethoven sei. Allein er benahm mir bald alle Möglichkeit zur Ausflucht; denn mit großer Offenherzigkeit machte er mich damit bekannt, wie er hinter mein Geheimniß gekommen war, und erklärte, mich nicht eher verlassen zu wollen, als bis wir von Beethoven zurückkämen. Ich versuchte erst in Güte ihn von seinem Vorhaben abzubringen – umsonst! Ich gerieth in Wuth – umsonst! Endlich hoffte ich mich ihm durch die Schnelligkeit meiner Füße zu entziehen; wie ein Pfeil flog ich die Treppen hinan, und riß wie ein Rasender an der Klingel. Ehe aber noch geöffnet wurde, war der Gentleman bei mir, ergriff die Flügel meines Rockes und sagte: »Entfliehen Sie mir nicht! Ich habe ein Recht an Ihren Rockschoß; ich will Sie daran halten, bis wir vor Beethoven stehen.«
Entsetzt wandte ich mich um, suchte mich ihm zu entreißen, ja, ich fühlte mich versucht, gegen den stolzen Sohn Brittaniens mich mit Tätlichkeiten zu vertheidigen: – da ward die Thüre geöffnet. Die alte Aufwärterin erschien, zeigte ein finsteres Gesicht, als sie uns in unserer sonderbaren Situation erblickte, und machte Miene, die Thüre sogleich wieder zu schließen. In der Angst rief ich laut meinen Namen, und betheuerte, von Herrn Beethoven eingeladen worden zu sein.
Noch war die Alte zweifelhaft, denn der Anblick des Engländers schien ihr ein gerechtes Bedenken zu erwecken, als durch ein Ungefähr auf einmal Beethoven selbst an der Thüre seines Kabinetes erschien. Diesen Moment benutzend trat ich schnell ein, und wollte auf den Meister zu, um mich zu entschuldigen. Zugleich zog ich aber den Engländer mit herein, denn dieser hielt mich noch fest. Er führte seinen Vorsatz aus, und ließ mich erst los, als wir vor Beethoven standen. Ich verbeugte mich, und stammelte meinen Namen; wiewohl er diesen jedenfalls nicht verstand, schien er doch zu wissen, daß ich der sei, der ihm geschrieben hatte. Er hieß mich in sein Zimmer eintreten, und ohne sich um Beethoven's verwunderungsvollen Blick zu bekümmern, schlüpfte mein Begleiter mir eiligst nach.
Hier war ich – im Heiligthum; die gräßliche Verlegenheit aber, in welche mich der heillose Britte gebracht hatte, raubte mir alle wohlthätige Besinnung, die mir nöthig war, um meines Glückes würdig zu genießen. An und für sich war Beethoven's äußere Erscheinung keineswegs dazu gemacht, angenehm und behaglich zu wirken. Er war in ziemlich unordentlicher Hauskleidung, trug rothe wollene Binde um den Leib; lange, starke graue Haare lagen unordentlich um seinen Kopf herum, und seine finstere, unfreundliche Miene vermochte durchaus nicht meine Verlegenheit zu heben. Wir setzten uns an einen Tisch nieder, der voll Papiere und Federn lag.
Es herrschte unbehagliche Stimmung, Keiner sprach. Augenscheinlich war Beethoven verstimmt. Zwei für Einen empfangen zu haben.
Endlich begann er, indem er mit rauher Stimme frug: »Sie kommen von L...?«
Ich wollte antworten; er aber unterbrach mich, indem er einen Bogen Papier nebst einem Bleistift bereit legte, fügte er hinzu: »Schreiben Sie, ich höre nicht.«
Ich wußte von Beethoven's Taubheit, und hatte mich darauf vorbereitet. Nichtsdestoweniger fuhr es mir wie ein Stich durch das Herz, als ich von dieser rauhen, gebrochenen Stimme hörte: »Ich höre nicht!« – Freudenlos und arm in der Welt zu stehen; die einzige Erhebung in der Macht der Töne zu wissen, und sagen zu müssen: ich höre nicht! – Im Moment kam ich in mir zum vollkommenen Verständniß über Beethoven's äußere Erscheinung, über den tiefen Gram auf seinen Wangen, über den düsteren Unmuth seines Blickes, über den verschlossenen Trotz seiner Lippen: – er hörte nicht! –
Verwirrt und ohne zu wissen, was? schrieb ich eine Bitte um Entschuldigung und eine kurze Erklärung der Umstände auf, die mich in der Begleitung des Engländers erscheinen ließen. Dieser saß während dem stumm und befriedigt Beethoven gegenüber, der, nachdem er meine Zeilen gelesen, sich ziemlich heftig zu ihm wandte, mit der Frage, was er von ihm wünsche?
»Ich habe die Ehre ...« – entgegnete der Britte.
»Ich verstehe Sie nicht!« – rief Beethoven ihn hastig unterbrechend; – »ich höre nicht, und kann auch nicht viel sprechen. Schreiben Sie auf, was Sie von mir wollen.«
Der Engländer sann einen Augenblick ruhig nach, zog dann sein zierliches Musikheft aus der Tasche, und sagte zu mir: »Es ist gut. Schreiben Sie: ich bitte Herrn Beethoven, meine Komposition zu sehen; wenn ihm eine Stelle darin nicht gefällt, wird er die Güte haben, ein Kreuz dabei zu machen.«
Ich schrieb wörtlich sein Verlangen auf, in der Hoffnung, ihn nun los zu werden; und so kam es auch. Nachdem Beethoven gelesen, legte er mit einem sonderbaren Lächeln die Komposition des Engländers auf den Tisch, nickte kurz und sagte: »Ich werde es schicken.« –
Damit war mein Gentleman sehr zufrieden, stand auf, machte eine besonders herrliche Verbeugung und empfahl sich. – Ich athmete tief auf: – er war fort.
Nun erst fühlte ich mich im Heiligthum. Selbst Beethoven's Züge heiterten sich deutlich auf; er blickte mich einen Augenblick ruhig an, und begann dann:
»Der Britte hat Ihnen viel Ärger gemacht?« sagte er; »trösten Sie sich mit mir; diese reisenden Engländer haben mich schon bis auf das Blut geplagt. Sie kommen heute, einen armen Musiker zu sehen, wie morgen ein seltenes Thier. Es thut mir leid um Sie, daß ich Sie mit jenem verwechselt habe. – Sie schrieben mir, daß Sie mit meinen Kompositionen zufrieden wären. Das ist mir lieb, denn ich rechne jetzt nur wenig darauf, daß meine Sachen den Leuten gefallen.«
Diese Vertraulichkeit in seiner Anrede benahm mir bald alle lästige Befangenheit; ein Freudenschauer durchbebte mich bei diesen einfachen Worten. Ich schrieb, daß ich wahrlich nicht der Einzige sei, der von so glühendem Enthusiasmus für jede seiner Schöpfungen erfüllt wäre, daß ich nichts sehnlicher wünschte, als z. B. meiner Vaterstadt das Glück verschaffen zu können, ihn einmal in ihrer Mitte zu sehen; er würde sich dann überzeugen, welche Wirkung dort seine Werke auf das gesammte Publikum hervorbrächten.
»Ich glaube wohl,« – erwiderte Beethoven, – »daß meine Kompositionen im nördlichen Deutschland mehr ansprechen. Die Wiener ärgern mich oft; sie hören täglich zu viel schlechtes Zeug, als daß sie immer aufgelegt sein sollten, mit Ernst an etwas Ernstes zu gehen.«
Ich wollte dem widersprechen, und führte an, daß ich gestern der Aufführung des »Fidelio« beigewohnt hätte, welche das Wiener Publikum mit dem offensten Enthusiasmus aufgenommen habe.
»Hm, hm!« brummte der Meister, »der Fidelio! – Ich weiß aber, daß die Leutchen jetzt nur aus Eitelkeit in die Hände klatschen, denn sie reden sich ein, daß ich in der Umarbeitung dieser Oper nur ihrem Rathe gefolgt sei. Nun wollen sie mir die Mühe vergelten, und rufen bravo! Es ist ein gutmüthiges Volk und nicht gelehrt; ich bin darum lieber bei ihnen, als bei gescheidten Leuten. – Gefällt Ihnen jetzt der Fidelio?«
Ich berichtete von dem Eindrucke, den die gestrige Vorstellung auf mich gemacht hatte, und bemerkte, daß durch die hinzugefügten Stücke das Ganze auf das Herrlichste gewonnen habe.
»Ärgerliche Arbeit!« entgegnete Beethoven. »Ich bin kein Opernkomponist, wenigstens kenne ich kein Theater in der Welt, für das ich gern wieder eine Oper schreiben möchte! Wenn ich eine Oper machen wollte, die nach meinem Sinne wäre, würden die Leute davon laufen; denn da würde nichts von Arien, Duetten, Terzetten und all dem Zeuge zu finden sein, womit sie heut' zu Tage die Opern zusammenflicken, und was ich dafür machte, würde kein Sänger singen und kein Publikum hören wollen. Sie kennen alle nur die glänzende Lüge, brillanten Unsinn und überzuckerte Langweile. Wer ein wahres musikalisches Drama machte, würde für einen Narren angesehen werden, und wäre es auch in der That, wenn er so etwas nicht für sich selbst behielte, sondern es vor die Leute bringen wollte.«
»Und wie würde man zu Werke gehen müssen« – frug ich erhitzt, – »um ein solches musikalisches Drama zu Stande zu bringen?«
»Wie es Shakespeare machte, wenn er seine Stücke schrieb«, war die fast heftige Antwort. Dann fuhr er fort: »Wer es sich darum zu thun sein lassen muß, Frauenzimmern mit passabler Stimme allerlei bunten Tand anzupassen, durch den sie braviund Händeklatschen bekommen, der sollte Pariser Frauenschneider werden, aber nicht dramatischer Komponist. – Ich für mein Theil bin nun einmal zu solchen Späßen nicht gemacht. Ich weiß recht wohl, daß die gescheidten Leute deßhalb meinen, ich verstünde mich allenfalls auf die Instrumentalmusik, in der Vokalmusik würde ich aber nie zu Hause sein. Sie haben Recht, da sie unter Vokalmusik nur Opernmusik verstehen; und dafür, daß ich in diesem Unsinne heimisch würde, bewahre mich der Himmel!«
Ich erlaubte mir hier zu fragen, ob er wirklich glaube, daß Jemand nach Anhörung seiner »Adelaide« ihm den glänzendsten Beruf auch zur Gesangsmusik abzusprechen wagen würde?
»Nun,« entgegnete er nach einer kleinen Pause, – »die Adelaide und dergleichen sind am Ende Kleinigkeiten, die den Virtuosen von Profession zeitig genug in die Hände fallen, um ihnen als Gelegenheit zu dienen, ihre vortrefflichen Kunststückchen anbringen zu können. Warum sollte aber die Vokalmusik nicht ebenso gut als die Instrumentalmusik einen großen, ernsten Genre bilden können, der zumal bei der Ausführung von dem leichtsinnigen Sängervolke ebenso respektirt würde, als es meinetwegen bei einer Symphonie vom Orchester gefordert wird? Die menschliche Stimme ist einmal da. Ja, sie ist sogar ein bei weitem schöneres und edleres Ton-Organ als jedes Instrument des Orchesters. Sollte man sie nicht ebenso selbstständig in Anwendung bringen können, wie dieses? Welche ganz neuen Resultate würde man nicht bei diesem Verfahren gewinnen! Denn gerade der seiner Natur nach von der Eigenthümlichkeit der Instrumente gänzlich verschiedene Charakter der menschlichen Stimme würde besonders herauszuheben und festzuhalten sein, und die mannigfachsten Kombinationen erzeugen lassen. In den Instrumenten repräsentiren sich die Urorgane der Schöpfung und der Natur; das, was sie ausdrücken, kann nie klar bestimmt und festgesetzt werden, denn sie geben die Urgefühle selbst wieder, wie sie aus dem Chaos der ersten Schöpfung hervorgingen, als es selbst vielleicht noch nicht einmal Menschen gab, die sie in ihr Herz aufnehmen konnten. Ganz anders ist es mit dem Genius der Menschenstimme; diese repräsentirt das menschliche Herz und dessen abgeschlossene, individuelle Empfindung. Ihr Charakter ist somit beschränkt, aber bestimmt und klar. Man bringe nun diese beiden Elemente zusammen, man vereinige sie! Man stelle den wilden, in das Unendliche hinausschweifenden Urgefühlen, repräsentirt von den Instrumenten, die klare, bestimmte Empfindung des menschlichen Herzens entgegen, repräsentirt von der Menschenstimme. Das Hinzutreten dieses zweiten Elementes wird wohlthuend und schlichtend auf den Kampf der Urgefühle wirken, wird ihrem Strome einen bestimmten, vereinigten Lauf geben; das menschliche Herz selbst aber wird, indem es jene Urempfindungen in sich aufnimmt, unendlich erkräftigt und erweitert, fähig sein, die frühere unbestimmte Ahnung des Höchsten, zum göttlichen Bewußtsein umgewandelt, klar in sich zu fühlen.«
Hier hielt Beethoven wie erschöpft einige Augenblicke an. Dann fuhr er mit einem leichten Seufzer fort: »Freilich stößt man bei dem Versuch zur Lösung dieser Aufgabe auf manchen Übelstand; um singen zu lassen braucht man der Worte. Wer aber wäre im Stande, die Poesie in Worte zu fassen, die einer solchen Vereinigung aller Elemente zu Grunde liegen würde? Die Dichtung muß da zurückstehen, denn die Worte sind für diese Aufgabe zu schwache Organe. – – Sie werden bald eine neue Komposition von mir kennen lernen, die Sie an das erinnern wird, worüber ich mich jetzt ausließ. Es ist dieß eine Symphonie mit Chören. Ich mache Sie darauf aufmerksam, wie schwer es mir dabei ward, dem Übelstand der Unzulänglichkeit der zu Hülfe gerufenen Dichtkunst abzuhelfen. Ich habe mich endlich entschlossen, die schöne Hymne unsers Schiller's »an die Freude« zu benützen; es ist diese jedenfalls eine edle und erhebende Dichtung, wenn auch weit entfernt davon, das auszusprechen, was allerdings in diesem Falle keine Verse der Welt aussprechen können.«
Richard Wagner: Eine Pilgerfahrt zu Beethoven

Aus der Zusammenstellung dieser Erzählung von der Pilgerfahrt mit Wagners Lebensabriss konnte man es sich wahrscheinlich schon denken, dass die Komödie vom Engländer von Wagner stammt und dass er sie nur geschrieben hat, um sein Verständnis der Musik Beethovens und die Darstellung seiner Musikauffassung gehörig einzukleiden. Diese kann man über den obigen Link finden.

Half Broke Horses oder: Erziehung ist nie perfekt

Jeanette Walls beschreibt in "Half Broke Horses" das Leben ihrer Großmutter Lily Casey Smith, die von ihrem Vater gelernt hat, aus verzweifelten Situationen ungebrochen herauszukommen. "Wenn das Leben dir eine Fenster schließt, öffnet es eine Tür. Du musst sie nur finden." Und "Du musst mit den Karten spielen, die du bekommst."
Die Härte, die sie in ihrem Leben gelernt hat, versucht sie durch harte Erziehung an ihre Tochter Rose Mary weiterzugeben und scheitert dabei, weil sie ihre Kinder ursprünglich Freiheit gelehrt hat.
Als sie Rose Mary übermäßig schlägt und ihr dann sagt, "Es war zu hart, aber musstest diese Lektion lernen", sagt diese "Ja, ich habe eine Lektion gelernt, ich werde meine Kinder nicht schlagen".
Jeanette Walls macht den Eindruck, dass diese Erziehung erfolgreich war. Ihre Darstellung aus der Sicht von Lily Casey Smith fasziniert durch die hautnahe Schilderung von Schwierigkeiten, die Lily überwindet. Aber sie macht auch deutlich, dass Lily eine Härte gelernt hat, die für die neue Generation nicht das beste ist.

In diesem Buch habe ich erstmalig etwas über Critter gelesen und zwar passenderweise nur so viel, dass ich wusste, dass es ein Wesen ist, das beißen kann.
Natürlich half mir kein Lexikon, sondern nur die englische Wikipedia (vgl. o.).

Jeanette Walls Interview über "Half Broke Horses"
Jeanette Walls: Interview mit ihr und ihrer Mutter über "The Glass Castle"

Der Artikel erschien zunächst unter "Schnipsel", weil ich an eine simple kurze Vorstellung mit Verlinkung dachte. Die Links sind aber so gut, dass sie zusammen eine gute Vorstellung des Romans bieten.


24 Juni 2013

Eine Pilgerfahrt zu Beethoven - Der Brief

Was nun beginnen, um den Argwohn des Meisters zu enttäuschen? Alles kam darauf an, ihn wissen zu lassen, daß ich eine einfache deutsche Seele sei, voll irdischer Armuth, aber überirdischem Enthusiasmus.
So entschied ich mich denn endlich, mein Herz auszuschütten, zu schreiben. Dieß geschah. Ich schrieb; erzählte kurz meine Lebensgeschichte, wie ich zum Musiker geworden war, wie ich ihn anbetete, wie ich ihn einmal hätte kennen lernen wollen, wie ich zwei Jahre opferte, mir einen Namen als Galopp-Komponist zu machen, wie ich meine Pilgerfahrt antrat und vollendete, welche Leiden der Engländer über mich brachte, und welche grausame Lage gegenwärtig die meinige sei. Indem ich bei dieser Aufzählung meiner Leiden mein Herz sich merklich erleichtern fühlte, verfiel ich in der Wohllust dieses Gefühles sogar in einen gewissen Grad von Vertraulichkeit; ich flocht meinem Briefe ganz freimüthige und ziemlich starke Vorwürfe ein über die ungerechte Grausamkeit des Meisters, mit der ich Ärmster von ihm behandelt ward. Mit wahrhafter Begeisterung schloß ich endlich diesen Brief; es flimmerte mir vor den Augen, als ich die Adresse: »An Herrn Ludwig van Beethoven« – schrieb. Ich sprach noch ein stilles Gebet, und gab diesen Brief selbst in Beethoven's Hause ab.
Als ich voll Enthusiasmus zu meinem Hôtel zurückkehrte, o Himmel! – wer brachte mir auch da wieder den furchtbaren Engländer vor meine Augen! Von seinem Fenster aus hatte er auch diesen meinen letzten Gang beobachtet; er hatte in meinen Mienen die Freude der Hoffnung gelesen, und das war genug, um mich wiederum seiner Macht verfallen zu lassen. Wirklich hielt er mich auf der Treppe an mit der Frage: »Gute Hoffnung? Wann werden wir Beethoven sehen?«
»Nie, nie!« – schrie ich in Verzweiflung –»Sie will Beethoven nie im Leben wieder sehen! Lassen Sie mich. Entsetzlicher, wir haben nichts gemein!« [...]
Rastlos stürmte ich aber hinauf zu meinem fünften Stock; da schloß ich mich ein und erwartete Beethoven's Antwort.
Wie aber soll ich beschreiben, was in mir, was um mich vorging, als ich wirklich in der nächsten Stunde ein kleines Stück Notenpapier erhielt, auf welchem mit flüchtiger Hand geschrieben stand:
»Entschuldigen Sie, Herr R...., wenn ich Sie bitte, mich erst morgen Vormittag zu besuchen, da ich heute beschäftigt bin, ein Packet Musikalien auf die Post zu liefern. Morgen erwarte ich Sie. Beethoven.«
Zuerst sank ich auf meine Kniee und dankte dem Himmel für diese außerordentliche Huld; meine Augen trübten sich mit den inbrünstigsten Thränen. Endlich brach aber mein Gefühl in wilde Lust aus; ich sprang auf, und wie ein Rasender tanzte ich in meinem kleinen Zimmer umher. Ich weiß nicht recht, was ich tanzte, nur entsinne ich mich, daß ich zu meiner großen Scham plötzlich inne ward, wie ich einen meiner Galopps dazu pfiff. Diese betrübende Entdeckung brachte mich wieder zu mir selbst. Ich verließ mein Stübchen, den Gasthof, und stürzte freudetrunken in die Straßen Wien's. [...]
 Ich wachte, ich schwärmte und bereitete mich, vor Beethoven zu erscheinen.– Endlich erschien der neue Tag; mit Ungeduld erwartete ich die zum Morgenbesuch schickliche Stunde; – auch sie schlug, und ich brach auf. Mir stand das wichtigste Ereigniß meines Lebens bevor: von diesem Gedanken war ich erschüttert.
Aber noch sollte ich eine furchtbare Prüfung überstehen.

Richard Wagner: Eine Pilgerfahrt zu Beethoven

Eine Pilgerfahrt zu Beethoven: In Wien und doch fern vom Ziel

Endlich betrat ich die Straßen Wien's; das Ende meiner Pilgerfahrt war erreicht. Mit welchen Gefühlen zog ich in dieses Mekka meines Glaubens ein! Alle Mühseligkeiten der langen und beschwerlichen Wanderschaft waren vergessen; ich war am Ziele, in den Mauern, die Beethoven umschlossen.
Ich war zu tief bewegt, um sogleich an die Ausführung meiner Absicht denken zu können. Zunächst erkundigte ich mich zwar nach der Wohnung Beethoven's, jedoch nur um mich in dessen Nähe einzulogiren. Ziemlich gegenüber dem Hause, in welchem der Meister wohnte, befand sich ein nicht zu vornehmer Gasthof; ich miethete mir ein kleines Kämmerchen im fünften Stock desselben, und dort bereitete ich mich nun auf das größte Ereigniß meines Lebens, auf einen Besuch bei Beethoven vor.
Nachdem ich zwei Tage ausgeruht, gefastet und gebetet, Wien aber noch mit keinem Blick näher betrachtet hatte, faßte ich denn Muth, verließ meinen Gasthof, und ging schräg gegenüber in das merkwürdige Haus. Man sagte mir, Herr Beethoven sei nicht zugegen. Das war mir gerade recht; denn ich gewann Zeit, um mich von Neuem zu sammeln. Da mir aber den Tag über noch viermal derselbe Bescheid, und zwar mit einem gewissen gesteigerten Tone gegeben ward, hielt ich diesen Tag für einen Unglückstag, und gab mißmuthig meinen Besuch auf.
Als ich zu meinem Gasthof zurückwanderte, grüßte mir aus dem ersten Stocke desselben mein Engländer ziemlich leutselig entgegen.
»Haben Sie Beethoven gesehen?« rief er mir zu.
»Noch nicht: er war nicht anzutreffen«, entgegnete ich, verwundert über mein abermaliges Zusammentreffen mit ihm. Auf der Treppe begegnete er mir, und nöthigte mich mit auffallender Freundlichkeit in sein Zimmer. »Mein Herr,« sagte er, »ich habe Sie heute schon fünf Mal in Beethoven's Haus gehen sehen. Ich bin schon viele Tage hier, und habe in diesem garstigen Hôtel Quartier genommen, um Beethoven nahe zu sein. Glauben Sie mir, es ist sehr schwer Beethoven zu sprechen; dieser Gentleman hat sehr viele Launen. Ich bin im Anfange sechs Mal zu ihm gegangen, und bin stets zurückgewiesen worden. Jetzt stehe ich sehr früh auf, und setze mich bis spät Abends an das Fenster, um zu sehen, wann Beethoven ausgeht. Der Gentleman scheint aber nie auszugehen.«
Der Erzähler wird - wie der Engländer - nie vorgelassen.
Nach und nach begann ich zu verzweifeln.
Ich theilte meine Leiden dem Wirthe des Gasthofes mit. Dieser lächelte, und versprach mir den Grund meines Unglückes anzugeben, wenn ich gelobte, ihn nicht dem Engländer zu verrathen. Meinen Unstern ahnend that ich das verlangte Gelübde.
»Sehen Sie wohl,« – sagte nun der ehrliche Wirth – »es kommen hier sehr viel Engländer her, um Herrn von Beethoven zu sehen und kennen zu lernen. Dieß verdrießt aber Herrn von Beethoven sehr, und er hat eine solche Wuth gegen die Zudringlichkeit dieser Herren, daß er es jedem Fremden rein unmöglich macht, vor ihn zu gelangen. Er ist ein sonderlicher Herr, und man muß ihm dieß verzeihen. Meinem Gasthofe ist dieß aber recht zuträglich, denn er ist gewöhnlich stark von Engländern besetzt, die durch die Schwierigkeit, Herrn Beethoven zu sprechen, genöthigt sind, länger, als es sonst der Fall sein würde, meine Gäste zu sein. Da Sie jedoch versprechen, mir diese Herren nicht zu verscheuchen, so hoffe ich ein Mittel ausfindig zu machen, wie Sie an Herrn Beethoven herankommen können.« [...]
So verstrichen wiederum mehrere fruchtlose Tage, während welcher der Ertrag meiner Galopps sichtlich abnahm, als mir endlich der Wirth vertraute, daß ich Beethoven nicht verfehlen könnte, wenn ich mich in einen gewissen Biergarten begeben wollte, wo dieser sich fast täglich zu einer bestimmten Stunde einzufinden pflege. Zugleich erhielt ich von meinem Rathgeber unfehlbare Nachweisungen über die Persönlichkeit des großen Meisters, die es mir möglich machen sollten, ihn zu erkennen. Ich lebte auf und beschloß, mein Glück nicht auf morgen zu verschieben. Es war mir unmöglich, Beethoven beim Ausgehen anzutreffen, da er sein Haus stets durch eine Hinterthür verließ; somit blieb mir nichts übrig, als der Biergarten. Leider suchte ich den Meister aber sowohl an diesem, als an den nächstfolgenden zwei Tagen dort vergebens auf. Endlich am vierten, als ich wiederum zur bestimmten Stunde meine Schritte dem verhängnisvollen Biergarten zuwandte, mußte ich zu meiner Verzweiflung gewahr werden, daß mich der Engländer vorsichtig und bedächtig von fern verfolgte. Der Unglückliche, fortwährend an sein Fenster postirt, hatte es sich nicht entgehen lassen, daß ich täglich zu einer gewissen Zeit nach derselben Richtung hin ausging; dieß hatte ihn frappirt, und sogleich vermuthend, daß ich eine Spur entdeckt habe, Beethoven aufzusuchen, hatte er beschlossen, aus dieser meiner vermuthlichen Entdeckung Vortheil zu ziehen. Er erzählte mir alles dieß mit der größten Unbefangenheit, und erklärte zugleich, daß er mir überall hin folgen wollte. Vergebens war mein Bemühen, ihn zu hintergehen und glauben zu machen, daß ich einzig vorhabe, zu meiner Erholung einen gemeinen Biergarten zu besuchen, der viel zu unfashionabel sei, um von Gentleman's seines Gleichen beachtet zu werden; er blieb unerschütterlich bei seinem Entschlusse, und ich hatte mein Geschick zu verfluchen. Endlich versuchte ich Unhöflichkeit, und suchte ihn durch Grobheit von mir zu entfernen; weit davon aber, sich dadurch aufbringen zu lassen, begnügte er sich mit einem sanften Lächeln. Seine fixe Idee war: Beethoven zu sehen, – alles Übrige kümmerte ihn nicht.
Und in Wahrheit, diesen Tag sollte es geschehen, daß ich endlich zum ersten Male den großen Beethoven zu Gesicht bekam. Nichts vermag meine Hingerissenheit, zugleich aber auch meine Wuth zu schildern, als ich, an der Seite meines Gentleman's sitzend, den Mann sich nähern sah, dessen Haltung und Aussehen vollständig der Schilderung entsprachen, die mir mein Wirth von dem Äußern des Meisters entworfen hatte. Der lange, blaue Überrock, das verworrene, struppige graue Haar, dazu aber die Mienen, der Ausdruck des Gesichts, wie sie nach einem guten Portrait lange meiner Einbildungskraft vorgeschwebt hatten. Hier war ein Irrthum unmöglich: im ersten Augenblicke hatte ich ihn erkannt! Mit schnellen, kurzen Schritten kam er an uns vorbei; Überraschung und Ehrfurcht fesselten meine Sinne. [...]
 Aus meiner tiefen Extase ward ich aufgeschreckt durch die Worte: »Yes! dieser Gentleman ist Beethoven! Kommen Sie, und stellen wir uns ihm sogleich vor!«
Voll Angst und Verdruß hielt ich den verwünschten Engländer bei'm Arme zurück.
»Was wollen Sie thun?« rief ich, – »wollen Sie uns kompromittiren – hier an diesem Orte – so ganz ohne alle Beobachtung der Schicklichkeit?«
»O« – entgegnete er – »dieß ist eine vortreffliche Gelegenheit, wir werden nicht leicht eine bessere finden.«
Damit zog er eine Art von Notenheft aus der Tasche, und wollte direkt auf den Mann im blauen Überrock losgehen. Außer mir erfaßte ich den Unsinnigen bei den Rockschößen, und rief ihm mit Heftigkeit zu: »Sind Sie des Teufels?«
Dieser Vorgang hatte die Aufmerksamkeit des Fremden auf sich gezogen. Mit einem peinlichen Gefühle schien er zu errathen, daß er der Gegenstand unserer Aufregung sei, und nachdem er hastig sein Glas geleert, erhob er sich, um fortzugehen. Kaum hatte dieß aber der Engländer gewahrt, als er sich mit solcher Gewalt von mir losriß, daß er mir einen seiner Rockschöße in der Hand zurückließ, und sich Beethoven in den Weg warf. Dieser suchte ihm auszuweichen; der Nichtswürdige kam ihm aber zuvor, machte ihm eine herrliche Verbeugung nach den Regeln der neuesten englischen Mode, und redete ihn folgendermaßen an:
»Ich habe die Ehre mich dem sehr berühmten Kompositeur und sehr ehrenwerthen Herrn Beethoven vorzustellen.«
Er hatte nicht nöthig, mehr hinzuzufügen, denn nach den ersten Worten schon hatte Beethoven, nachdem er einen Blick auf mich geworfen, sich mit einem eiligen Seitensprunge abgewandt, und war mit Blitzesschnelle aus dem Garten verschwunden. Nichtsdestoweniger war der unerschütterliche Britte eben im Begriff, dem Entflohenen nachzulaufen, als ich mich in wüthender Bewegung an den letzten seiner Rockschöße anhing. Einigermaßen verwundert hielt er an, und rief mit seltsamem Tone:
»Goddam! dieser Gentleman ist würdig, Engländer zu sein! Er ist gar ein großer Mann, und ich werde nicht säumen, seine Bekanntschaft zu machen.«
Ich blieb versteinert; dieses schauderhafte Abenteuer vernichtete mir alle Hoffnung, den heißesten Wunsch meines Herzens erfüllt zu sehen!

Eine Pilgerfahrt zu Beethoven

Noth und Sorge, du Schutzgöttin des deutschen Musikers, falls er nicht etwa Kapellmeister eines Hoftheaters geworden ist, – Noth und Sorge, deiner sei auch bei dieser Erinnerung aus meinem Leben sogleich die erste rühmendste Erwähnung gethan! Laß dich besingen, du standhafte Gefährtin meines Lebens! Du hieltest treu zu mir und hast mich nie verlassen, lächelnde Glückswechsel hast du stets mit starker Hand von mir abgewehrt, hast mich stets gegen Fortunens lästige Sonnenblicke beschützt! Mit schwarzem Schatten hast du mir stets die eitlen Güter dieser Erde verhüllt: habe Dank für deine unermüdliche Anhänglichkeit! Aber kann es sein, so suche dir mit der Zeit einmal einen andern Schützling, denn bloß der Neugierde wegen möchte ich gern einmal erfahren, wie es sich auch ohne dich leben ließe. Zum wenigsten bitte ich dich, ganz besonders unsere politischen Schwärmer zu plagen, die Wahnsinnigen, die Deutschland mit aller Gewalt unter ein Scepter vereinigen wollen: – es würde ja dann nur ein einziges Hoftheater, somit nur eine einzige Kapellmeisterstelle geben! Was sollte dann aus meinen Aussichten, aus meinen einzigen Hoffnungen werden, die schon jetzt nur bleich und matt vor mir schweben, jetzt – wo es doch der deutschen Hoftheater so viele giebt? – Jedoch – ich sehe, ich werde frevelhaft. Verzeih', o Schutzgöttin, den soeben ausgesprochenen, vermessenen Wunsch! Du kennst aber mein Herz, und weißt, wie ich dir ergeben bin, und ergeben bleiben werde, selbst wenn es in Deutschland tausend Hoftheater geben würde! Amen! [...]
Obwohl Not und Sorge ein treuer Begleiter des Erzählers sind, glaubt er doch, das Ziel seines Lebens erreichen zu können: einen Besuch bei Beethoven in Wien. 
Zwar muss er dafür zwei Jahre lang erst kostenlos, dann für niedriges Honorar das tun, was er verabscheut: Gebrauchsmusik ("Galopps") komponieren. Natürlich langt das Geld nur für eine Fußreise. 
Aber:
Ha, welche Wonne! Mein Ziel war erreicht! Wer war seliger als ich! Ich konnte mein Bündel schnüren und zu Beethoven wandern. Ein heiliger Schauer erfaßte mich, als ich zum Thore hinausschritt und mich dem Süden zuwandte! Gern hätte ich mich wohl in eine Diligence gesetzt, nicht weil ich die Strapaze des Fußgehens scheute – (o, welche Mühseligkeiten hätte ich nicht freudig für dieses Ziel ertragen!) – sondern weil ich auf diese Art schneller zu Beethoven gelangt wäre. Um aber Fuhrlohn zahlen zu können, hatte ich noch zu wenig für meinen Ruf als Galoppkomponist gethan. Somit ertrug ich alle Beschwerden und pries mich glücklich, so weit zu sein, daß sie mich an's Ziel führen konnten. O, was schwärmte ich, was träumte ich! Kein Liebender konnte seliger sein, der nach langer Trennung zur Geliebten seiner Jugend zurückkehrt.
So zog ich in das schöne Böhmen ein, das Land der Harfenspieler und Straßensänger. In einem kleinen Städtchen traf ich auf eine Gesellschaft reisender Musikanten; sie bildeten ein kleines Orchester, zusammengesetzt aus einem Baß, zwei Violinen, zwei Hörnern, einer Klarinette und einer Flöte; außerdem gab es eine Harfnerin und zwei Sängerinnen mit schönen Stimmen. Sie spielten Tänze und sangen Lieder; man gab ihnen Geld und sie wanderten weiter. Auf einem schönen schattigen Plätzchen neben der Landstraße traf ich sie wieder an; sie hatten sich da gelagert und hielten ihre Mahlzeit. Ich gesellte mich zu ihnen, sagte, daß ich auch ein wandernder Musiker sei, und bald wurden wir Freunde. Da sie Tänze spielten, frug ich sie schüchtern, ob sie auch meine Galopps schon spielten? Die Herrlichen! Sie kannten meine Galopps nicht! O, wie mir das wohl that! [...]
Diese Straßenmusikanten sind so begabt, dass sie keine größere Freude kennen, als Beethoven zu spielen. Und sie lassen ihn mitspielen.
O, welches Entzücken! Hier, an einer böhmischen Landstraße, unter freiem Himmel das Beethoven'sche Septuor von Tanzmusikanten, mit einer Reinheit, einer Präzision und einem so tiefen Gefühle vorgetragen, wie selten von den meisterhaftesten Virtuosen! – Großer Beethoven, wir brachten dir ein würdiges Opfer!
Wir waren soeben im Finale, als – die Chaussée bog sich an dieser Stelle bergauf – ein eleganter Reisewagen langsam und geräuschlos herankam, und endlich dicht bei uns still hielt. Ein erstaunlich langer und erstaunlich blonder junger Mann lag im Wagen ausgestreckt, hörte unserer Musik mit ziemlicher Aufmerksamkeit zu, zog eine Brieftasche hervor und notirte einige Worte. Darauf ließ er ein Goldstück aus dem Wagen fallen, und weiter fortfahren, indem er zu seinem Bedienten wenige englische Worte sprach, woraus mir erhellte, daß dieß ein Engländer sein müsse.
Dieser Vorfall verstimmte uns; zum Glück waren wir mit dem Vortrage des Septuors fertig. Ich umarmte meine Freunde und wollte sie begleiten, sie aber erklärten, daß sie von hier aus die Landstraße verlassen und einen Feldweg einschlagen würden, um für dießmal zu ihrem Heimathsdorfe zurückzukehren. Hätte nicht Beethoven selbst meiner gewartet, ich würde sie gewiß auch dahin begleitet haben. So aber trennten wir uns gerührt und schieden. Später fiel mir auf, daß Niemand das Goldstück des Engländers aufgehoben hatte. –
Im nächsten Gasthof, wo ich einkehrte, um meine Glieder zu stärken, saß der Engländer bei einem guten Mahle. Er betrachtete mich lange; endlich sprach er mich in einem passabeln Deutsch an.
»Wo sind Ihre Kollegen?« frug er.
»Nach ihrer Heimath«, sagte ich.
»Nehmen Sie Ihre Violine, und spielen Sie noch etwas« – fuhr er fort – »hier ist Geld!«
Das verdroß mich; ich erklärte, daß ich nicht für Geld spielte, außerdem auch keine Violine hätte, und setzte ihm kurz auseinander, wie ich mit jenen Musikanten zusammengetroffen war.
»Das waren gute Musikanten« – versetzte der Engländer – »und die Symphonie von Beethoven war auch sehr gut.«
Diese Äußerung frappirte mich; ich frug ihn, ob er Musik treibe?
»Yes« – antwortete er – »ich spiele zweimal in der Woche die Flöte, Donnerstags blase ich Waldhorn, und Sonntags komponire ich.«
Das war viel; ich erstaunte. – In meinem Leben hatte ich nichts von reisenden englischen Musikern gehört; ich fand daher, daß sie sich sehr gut stehen müßten, wenn sie in so schönen Equipagen ihre Wanderungen ausführen könnten. – Ich frug, ob er Musiker von Profession sei?
Lange erhielt ich gar keine Antwort; endlich brachte er sehr langsam hervor, daß er viel Geld habe.
Mein Irrthum wurde mir einleuchtend, denn ich hatte ihn jedenfalls mit meiner Frage beleidigt. Verlegen schwieg ich, und verzehrte mein einfaches Mahl. 
Der Engländer, der mich abermals lange betrachtet hatte, begann aber wieder. »Kennen Sie Beethoven?« – frug er mich.
Ich entgegnete, daß ich noch nie in Wien gewesen sei, und jetzt eben im Begriff stehe, dahin zu wandern, um die heißeste Sehnsucht zu befriedigen, die ich hege, den angebeteten Meister zu sehen.
»Woher kommen Sie?« – frug er. – »Von L....«– »Das ist nicht weit! Ich komme von England, und will auch Beethoven kennen lernen. Wir werden Beide ihn kennen lernen; er ist ein sehr berühmter Komponist.« –
Welch' wunderliches Zusammentreffen! dachte ich bei mir. Hoher Meister, wie Verschiedene ziehst du nicht an! Zu Fuß und zu Wagen wandert man zu dir! – Mein Engländer interessirte mich; ich gestehe aber, daß ich ihn seiner Equipage wegen wenig beneidete. Es war mir, als wäre meine mühselige Pilgerfahrt zu Fuße heiliger und frömmer, und ihr Ziel müßte mich mehr beglücken, als Jenen, der in Stolz und Hoffahrt dahin zag.
Da blies der Postillon; der Engländer fuhr fort, nachdem er mir zugerufen, er würde Beethoven eher sehen als ich.
Ich war kaum einige Stunden zu Fuße gefolgt, als ich ihn unerwartet wieder antraf. Es war auf der Landstraße. Ein Rad seines Wagens war gebrochen; mit majestätischer Ruhe saß er aber noch darin, sein Bedienter hinten auf, trotzdem daß der Wagen ganz auf der Seite hing. Ich erfuhr, daß man den Postillon zurückerwartete, der nach einem ziemlich entfernten Dorf gelaufen sei, um einen Schmied herbeizuschaffen. Man hatte schon lange gewartet; da der Bediente nur englisch sprach, entschloß ich mich, selbst nach dem Dorfe zu gehen, um Postillon und Schmied anzutreiben. Wirklich traf ich den erstern in einer Schenke, wo er beim Branntwein sich nicht sonderlich um den Engländer kümmerte; doch brachte ich ihn mit dem Schmied bald zu dem zerbrochenen Wagen zurück. Der Schade war geheilt; der Engländer versprach mir, mich bei Beethoven anzumelden, und – fuhr davon.
Wie sehr war ich verwundert, als ich am folgenden Tage ihn wiederum auf der Landstraße antraf! Dießmal aber ohne zerbrochenem Rad, hielt er ganz ruhig mitten auf dem Wege, las in einem Buche, und schien zufrieden zu sein, als er mich meines Weges daher kommen sah. »Ich habe hier schon sehr viele Stunden gewartet,« sagte er, »weil mir hier eingefallen ist, daß ich Unrecht gethan habe, Sie nicht einzuladen, mit mir zu Beethoven zu fahren. Das Fahren ist viel besser als das Gehen. Kommen Sie in den Wagen.«
Ich war abermals erstaunt. Eine kurze Zeit schwankte ich wirklich, ob ich sein Anerbieten nicht annehmen sollte; bald aber erinnerte ich mich des Gelübdes, das ich gestern gethan hatte, als ich den Engländer dahin rollen sah: ich hatte mir gelobt, unter allen Umständen meine Pilgerschaft zu Fuß zu wallen. Ich erklärte das laut. Jetzt erstaunte der Engländer; er konnte mich nicht begreifen. Er wiederholte sein Anerbieten, und daß er schon viele Stunden auf mich gewartet habe, obgleich er im Nachtquartier durch die gründliche Reparatur des zerbrochenen Rades sehr lange aufgehalten worden sei. Ich blieb fest, und er fuhr verwundert davon.
Eigentlich hatte ich eine geheime Abneigung gegen ihn, denn es drang sich mir wie eine düstere Ahnung auf, daß mir dieser Engländer großen Verdruß anrichten würde. Zudem kam mir seine Verehrung Beethoven's, sowie sein Vorhaben, ihn kennen zu lernen, mehr wie die geckenhafte Grille eines reichen Gentleman's als das tiefe, innige Bedürfniß einer enthusiastischen Seele vor. Deshalb wollte ich ihn lieber fliehen, um durch eine Gemeinschaft mit ihm meine fromme Sehnsucht nicht zu entweihen.

22 Juni 2013

Richard Wagner über sein Leben

Ich heiße Wilhelm Richard Wagner und bin den 22. Mai 1813 in Leipzig geboren. Mein Vater war Polizeiaktuarius und starb ein halbes Jahr nach meiner Geburt. Mein Stiefvater, Ludwig Geyer, war Schauspieler und Maler; er hat auch einige Lustspiele geschrieben, worunter das Eine: »Der bethlehemitische Kindermord« Glück machte; mit ihm zog meine Familie nach Dresden. Er wollte, ich sollte Maler werden; ich war aber sehr ungeschickt im Zeichnen. Auch mein Stiefvater starb zeitig, – ich war erst sieben Jahr. Kurz vor seinem Tode hatte ich: »Üb' immer Treu und Redlichkeit« und den damals ganz neuen »Jungfernkranz« auf dem Klavier spielen gelernt: einen Tag vor seinem Tode mußte ich ihm Beides im Nebenzimmer vorspielen; ich hörte ihn da mit schwacher Stimme zu meiner Mutter sagen: »Sollte er vielleicht Talent zur Musik haben?« Am frühen Morgen, als er gestorben war, trat die Mutter in die Kinderstube, sagte jedem der Kinder etwas, und mir sagte sie: »Aus Dir hat er etwas machen wollen.« Ich entsinne mich, daß ich mir lange Zeit eingebildet habe, es würde etwas aus mir werden. – Ich kam mit meinem neunten Jahre auf die Dresdner Kreuzschule: ich wollte studiren, an Musik wurde nicht gedacht; zwei meiner Schwestern lernten gut Klavier spielen, ich hörte ihnen zu, ohne selbst Klavierunterricht zu erhalten. Nichts gefiel mir so wie der »Freischütz«: ich sah Weber oft vor unserm Hause vorbeigehen, wenn er aus den Proben kam; stets betrachtete ich ihn mit heiliger Scheu. Ein Hauslehrer, der mir den Cornelius Nepos explizirte, mußte mir endlich auch Klavierstunden geben; kaum war ich über die ersten Fingerübungen hinaus, so studirte ich mir heimlich, zuerst ohne Noten, die Ouvertüre zum Freischütz ein; mein Lehrer hörte das einmal und sagte: aus mir würde nichts. Er hatte recht, ich habe in meinem Leben nicht Klavierspielen gelernt. Nun spielte ich nur noch für mich, nichts wie Ouvertüren, und mit dem greulichsten Fingersatze. Es war mir unmöglich, eine Passage rein zu spielen, und ich bekam deshalb einen großen Abscheu vor allen Läufen. Von Mozart liebte ich nur die Ouvertüre zur »Zauberflöte«; »Don Juan« war mir zuwider, weil da italienischer Text darunter stand; er kam mir so läppisch vor. – Diese Beschäftigung mit Musik war aber nur große Nebensache: Griechisch, Lateinisch, Mythologie und alte Geschichte waren die Hauptsache. Ich machte auch Gedichte. Einmal starb einer unsrer Mitschüler, und von den Lehrern wurde an uns die Aufgabe gestellt, auf seinen Tod ein Gedicht zu machen; das beste sollte gedruckt werden: – das meine wurde gedruckt, jedoch erst, nachdem ich vielen Schwulst daraus entfernt hatte. Ich war damals elf Jahre alt. Nun wollte ich Dichter werden; ich entwarf Trauerspiele nach dem Vorbild der Griechen, wozu mich das Bekanntwerden mit Apel's Tragödien: Polyidos, die Ätolier u.s.w. antrieb; dabei galt ich in der Schule für einen guten Kopf in litteris: schon in Tertia hatte ich die ersten zwölf Bücher der Odyssee übersetzt. Einmal lernte ich auch Englisch, und zwar bloß um Shakespeare ganz genau kennen zu lernen: ich übersetzte Romeos Monolog metrisch. Das Englische ließ ich bald wieder liegen, Shakespeare aber blieb mein Vorbild; ich entwarf ein großes Trauerspiel, welches ungefähr aus Hamlet und Lear zusammengesetzt war; der Plan war äußerst großartig; zweiundvierzig Menschen starben im Verlaufe des Stückes, und ich sah mich bei der Ausführung genöthigt, die Meisten als Geister wiederkommen zu lassen, weil mir sonst in den letzten Akten die Personen ausgegangen wären. Dieses Stück beschäftigte mich zwei Jahre lang. Ich verließ darüber Dresden und die Kreuzschule, und kam nach Leipzig. Auf der dortigen Nikolaischule setzte man mich nach Tertia, nachdem ich auf der Dresdner Kreuzschule schon in Sekunda gesessen; dieser Umstand erbitterte mich so sehr, daß ich von da an alle Liebe zu den philologischen Studien fahren ließ. Ich ward faul und lüderlich, bloß mein großes Trauerspiel lag mir noch am Herzen. Während ich dieses vollendete, lernte ich in den Leipziger Gewandhauskonzerten zuerst Beethoven'sche Musik kennen; ihr Eindruck auf mich war allgewaltig. Auch mit Mozart befreundete ich mich, zumal durch sein Requiem. Beethovens Musik zu »Egmont« begeisterte mich so, daß ich um Alles in der Welt mein fertig gewordenes Trauerspiel nicht anders vom Stapel laufen lassen wollte, als mit einer ähnlichen Musik versehen. Ich traute mir ohne alles Bedenken zu, diese so nöthige Musik selbst schreiben zu können, hielt es aber doch für gut, mich zuvor über einige Hauptregeln des Generalbasses aufzuklären. Um dies im Fluge zu thun, lieh ich mir auf acht Tage Logier's Methode des Generalbasses und studirte mit Eifer darin. Das Studium trug aber nicht so schnelle Früchte, als ich glaubte; die Schwierigkeiten desselben reizten und fesselten mich; ich beschloß Musiker zu werden.
Richard Wagner: Autobiographische Skizze

Ob Hitler diesen Satz als bewusstes oder unbewusstes Vorbild hatte, als er in "Mein Kampf" formulierte: „Ich aber beschloß nun, Politiker zu werden.“?
Freilich, der Text Wagners atmet doch wohl zu viel Selbstironie, als dass er Hitler als Vorbild bei der Abfassung von "Mein Kampf" hätte dienen können.


Während dem war mein großes Trauerspiel von meiner Familie entdeckt worden: sie gerieth in große Betrübniß, weil am Tage lag, daß ich darüber meine Schulstudien auf das Gründlichste vernachlässigt hatte, und ich ward somit zu fleißiger Fortsetzung derselben streng angehalten. Das heimliche Erkenntniß meines Berufes zur Musik verschwieg ich unter solchen Umständen, komponirte nichtsdestoweniger aber in aller Stille eine Sonate, ein Quartett und eine Arie. Als ich mich in meinem musikalischen Privatstudium hinlänglich herangereift fühlte, trat ich endlich mit der Entdeckung desselben hervor. Natürlich hatte ich nun harte Kämpfe zu bestehen, da die Meinigen auch meine Neigung zur Musik nur für eine flüchtige Leidenschaft halten mußten, um so mehr, da sie durch keine Vorstudien, besonders durch etwa bereits erlangte Fertigkeit auf einem Instrument, gerechtfertigt war. Ich war damals in meinem sechzehnten Jahre, und zumal durch die Lektüre Hoffmann's zum tollsten Mystizismus aufgeregt: am Tage, im Halbschlafe hatte ich Visionen, in denen mir Grundton, Terz und Quinte leibhaft erschienen und mir ihre wichtige Bedeutung offenbarten: was ich aufschrieb, starrte von Unsinn. Endlich wurde mir der Unterricht eines tüchtigen Musikers zugetheilt; der arme Mann hatte große Noth mit mir; er mußte mir erklären, daß, was ich für seltsame Gestalten und Gewalten hielt, Intervalle und Akkorde seien. Was konnte für die Meinigen betrübender sein, als zu erfahren, daß ich auch in diesem Studium mich nachlässig und unordentlich erwies? Mein Lehrer schüttelte den Kopf, und es kam so heraus, als ob auch hier nichts Gescheites aus mir werden würde. Meine Lust zum Studium erlahmte immer mehr, und ich zog vor, Ouvertüren für großes Orchester zu schreiben, von denen eine einmal im Leipziger Theater aufgeführt wurde. Diese Ouvertüre war der Kulminationspunkt meiner Unsinnigkeiten; ich hatte sie eigentlich, zum näheren Verständnis Desjenigen, der die Partitur etwa studiren wollte, mit drei verschiedenen Tinten schreiben wollen, die Streichinstrumente rot, die Holzblasinstrumente grün und die Blechinstrumente schwarz. Beethoven's neunte Symphonie sollte eine Pleyel'sche Sonate gegen diese wunderbar combinirte Ouvertüre sein. Bei der Aufführung schadete mir besonders ein durch die ganze Ouvertüre regelmäßig alle vier Takte wiederkehrender Paukenschlag im Fortissimo: das Publikum ging aus anfänglicher Verwunderung über die Hartnäckigkeit des Paukenschlägers in unverholenen Unwillen, dann aber in eine mich tief betrübende Heiterkeit über. Diese erste Aufführung eines von mir komponirten Stückes hinterließ auf mich einen großen Eindruck.
Nun kam aber die Julirevolution; mit einem Schlage wurde ich Revolutionär und gelangte zu der Überzeugung, jeder halbwegs strebsame Mensch dürfe sich ausschließlich nur mit Politik beschäftigen. Mir war nur noch im Umgang mit politischen Litteraten wohl: ich begann auch eine Ouvertüre, die ein politisches Thema behandelte. So verließ ich die Schule und bezog die Universität, zwar nicht mehr um mich einem Fakultätsstudium zu widmen – denn zur Musik war ich nun dennoch bestimmt –, sondern um Philosophie und Ästhetik zu hören. Von dieser Gelegenheit, mich zu bilden, profitirte ich so gut als gar nicht; wohl aber überließ ich mich allen Studentenausschweifungen, und zwar mit so großem Leichtsinn und solcher Hingebung, daß sie mich bald anwiderten. Die Meinigen hatten um diese Zeit große Noth mit mir; meine Musik hatte ich fast gänzlich liegen lassen. Bald kam ich aber zur Besinnung; ich fühlte die Nothwendigkeit eines neu zu beginnenden, streng geregelten Studiums der Musik, und die Vorsehung* ließ mich den rechten Mann finden, der mir neue Liebe zur Sache einflößen und sie durch den gründlichsten Unterricht läutern sollte. Dieser Mann war Theodor Weinlig, Kantor an der Thomasschule zu Leipzig. Nachdem ich mich wohl schon zuvor in der Fuge versucht hatte, begann ich jedoch erst bei ihm das gründliche Studium des Kontrapunktes, welches er die glückliche Eigenschaft besaß, den Schüler spielend erlernen zu lassen. In dieser Zeit lernte ich erst Mozart innig erkennen und lieben. Ich komponirte eine Sonate, in welcher ich mich von allem Schwulste losmachte und einem natürlichen, ungezwungenen Satze überließ. Diese höchst einfache und bescheidene Arbeit erschien im Druck bei Breitkopf und Härtel. Mein Studium bei Weinlig war in weniger als einem halben Jahre beendet, er selbst entließ mich aus der Lehre, nachdem er mich so weit gebracht, daß ich die schwierigsten Aufgaben des Kontrapunktes mit Leichtigkeit zu lösen im Stande war. »Das, was Sie sich durch dieses trockene Studium angeeignet haben, heißt: Selbstständigkeit«, sagte er mir. 
Richard Wagner: Autobiographische Skizze

*Die Vorsehung war im 19. Jahrhundert eine gängige Redeweise, wenn man es vermeiden wollte, Gott ins Spiel zu bringen. Hitlers Vorstellung eines höheren Auftrags schwang so noch nicht mit.

Sollte "Selbstständigkeit" eine Vorwegnahme heutiger Vorstellungen vom selbstbestimmten Lernen sein?

20 Juni 2013

Marlitts "Amtsmanns Magd" zwischen "Stolz und Vorurteil" und "Irrungen, Wirrungen"

Jane Austen ist es in "Stolz und Vorurteil" gelungen, die Begegnung zwischen einer - relativ - armen Frau und einem reichen Mann zu einem Happyend zu führen, ohne dass dies Ende kitschig wirkt. Denn die Frau gibt nur ihr Vorurteil auf, nicht ihren Stolz. Der Mann gibt nur seinen Familienstolz auf und bleibt bei dem Gefühl, das ihn von Anfang an bestimmte. Die psychologischen Unwahrscheinlichkeiten versteht sie in meisterhafter Weise glaubhaft zu machen.
Natürlich lässt sich Austens Roman als Rührstück lesen und verfilmen, die Charakterzeichnung ist aber so differenziert, der Humor und die unterschiedlichen Sehweisen sind so geschickt eingesetzt, dass am Eindruck künstlerischer Meisterschaft kein Zweifel bleibt.
E. Marlitt dagegen, die in "Amtsmanns Magd" dem reichen Mann das Vorurteil (über Erzieherinnen) und der armen Frau den Stolz (auf Gleichberechtigung und wirtschaftliche Unabhängigkeit)  zuordnet, kann die Entwicklung ihrer Hauptpersonen nicht so überzeugend gestalten. Der Mann gibt nur sein Vorurteil über Erzieherinnen auf, kann aber aufgrund seiner wirtschaftlichen Überlegenheit bis zum Schluss an seiner Überlegenheitsrolle festhalten. Die Frau gibt ihre wirtschaftliche Selbständigkeit und angesichts der Frauenrolle in der Ehe des 19. Jahrhunderts auch ihre Gleichberechtigung auf.

Fontane verzichtet bei seiner Erzählung über die arme Frau und den reichen Mann ("Irrungen, Wirrungen") auf das Happyend und hat es damit leichter, eine realistische Geschichte zu erzählen, ohne dass er die Frau in eine ungleiche Ehe führen muss. Bis zum Schluss bleibt Lene die Person, die die Beziehung realistisch einschätzt und die ihre Haltung nicht zu korrigieren braucht. Und ihre Liebe zum reichen Mann nimmt ihr nichts weg, weil sie ihn nicht wegen seines Reichtums liebt, sondern trotz seiner Schwächen und weil sie trotz aller Einsicht und Selbstbescheidung leiden muss, doch dem Mann, der sie aus Schwäche fallen gelassen hat, das Geständnis abnötigt: "Gideon ist besser als Botho".

(Dass das vor allem heißt "Lene ist besser als Botho", kann man im verlinkten Text nachlesen.) Irgendwann will ich aber auch die literarischen Qualitäten E. Marlitts herausarbeiten.

15 Juni 2013

Friedrich: Wer wir sind - Widerstand gegen das NS-Regime und seine biographischen Hintergründe

Man kann Friedrichs Buch als Ergänzung der Filmreihe "Unsere Mütter, unsere Väter" sehen, weil sie weitere Milieus aus der Zeit der NS-Herrschaft menschlich nahe zu bringen versucht.

Sabine Friedrich selbst hat ihren Roman in einem Interview, wie folgt, charakterisiert:
Wuttke: Diese Lebenserinnerung, die Sie gerade geschildert haben, verstehen Sie deshalb Ihren Roman als einen Wirklichkeitsentwurf, oder als Zeitpanorama?
Friedrich: Ach wissen Sie, das sind Fragen, die sind schwierig zu beantworten. Es ist auf jeden Fall natürlich ein Zeitpanorama, das ist klar. Ich habe versucht, möglichst nahe auch an der Atmosphäre dran zu bleiben. Aber jeder Roman ist ein Wirklichkeitsentwurf, das kann gar nicht anders sein, zumal ein Roman, der ja mit dem Interesse geschrieben worden ist: mein erstes Interesse, daher der Titel, war ja, etwas herauszufinden darüber, wie Menschen sich verhalten in extremen Situationen und was sie dazu bringt, dann so oder so zu handeln, also was sie verkürzt gesagt zu Widerständlern macht. Ist das eine große Entscheidung, ist das eine Summierung vieler kleiner Entscheidungen, die einen plötzlich dort hinträgt, dass man sagt, das ist jetzt die Todeszelle von Plötzensee.    dradio, 11.10.2012
Dazu:
eine lobende Rezension, eine recht kritische, die Lesung eines Textausschnitts durch Sabine Friedrich.

Ich selbst kann nach meiner bisherigen Lektüre nur sagen: Ich freue mich  - ganz unabhängig von einem literarischen Urteil - darüber, dass ich Personen, die ich bisher aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen kenne, in einen  Kontext gestellt sehe, und mag es gar nicht, darüber zu lesen, wenn sie leiden müssen.
So beklage ich mich gar nicht über mangelnde Ausmalung der Unerträglichkeit mancher Situation.
Dass ich besonders über die Familie Bonhoeffer nicht genug lesen kann, hat persönliche Gründe.

John Rittmeister, Mitglied der Roten Kapelle*, entdeckt für sich in der Todeszelle die "Unendlichkeitsperspektve" (S.738)
"Seit ich die Dinge aus dieser Todesperspektive betrachte, denke ich ganz Unerhörtes. Ich fühle mich innerlich reicher als je zuvor. Was einem alles nimmt, macht einen reich. [...] Ich würde natürlich gern leben bleiben. Aber auch wenn ich sterbe, nehme ich nun alle diese Dige, die ich vorher gar nicht besessen habe, mit in den Tod hinein." (S.738)

*"Das von der Gestapo geschaffene Organisationskonstrukt Rote Kapelle hat in dieser Form nie existiert.“(Wikipedia)

In Oxford: Sabine Bonhoeffer-Leibholz' Töchter bitten um Geld für eine Sammelaktion in der Schule. "Und welchem guten Zweck sollen die Einnahmen dienen? Der Bombardierung Berlins." Dort erlebt Sabines Bruder Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis in Tegel die Luftangriffe. (S.860)

Kreisauer Kreis, Helmuth James Graf von Moltke, Löwenberger Arbeitsgemeinschaft, Eugen Rosenstock-Huessy,  Freya von Moltke, geb. Deichmann

Preußenschlag (S.1000)
Hans von Dohnanyi warnte davor, ihn rechtlich anzufechten: "Die Regierung Papen hat sich des verfassungsmäßig korrekten Instruments der Reichsexekution* bedient [...]" (S.1001)

*Die Verfassungsmäßigkeit der jeweiligen Maßnahmen ist bis heute umstritten. Ein Ausnahmezustand nach Art. 48WRV wäre nur durch die Bedrohung der Verfassung selbst zu rechtfertigen – jedoch wurden in Sachsen, Thüringen und Preußen jeweils demokratisch gewählte Regierungen abgesetzt, die sich zu keinem Zeitpunkt in offener Rebellion gegen die Weimarer Reichsverfassung befanden. (Wikipedia)

Julius Leber (S.1003ff), Carlo Mierendorff (S.1012ff), Adolf Reichwein (S.1022ff)
Bund der Köngener, Harald Poelchau  (S.1036)

Helmuth v. Moltkes positive Staatslehre (S.1250ff) Über den Kreisauer Kreis: "Sie sind keine Verschwörer. [...] Ihre Treffen basieren auf alten Freundschaften, gemeinsamer Schulzeit, beruflichen und verwandtschaftlichen Beziehungen." (S.1269)
Einigkeit über den anzustrebenden Staat: "demokratisch und sozialistisch und außenpolitisch auf eine völkerverbindende Friedensordnung ausgerichtet" (S.1276)
Grundsatztexte des Kreisauer Kreises, allgemeine Prizipien (S.1519)
Julius Leber über den Kreisauer Kreis (in Friedrichs Darstellung): "Aber sie sind recht abgehoben, diese Leute. Sie brüten über detaillierten Programmen von solch verworrener Gründlichkeit, dass man sich fragt, wer außer ihnen sich jemals damit beschäftigen soll." (S.1519)
Hans Bernd von Haeften

Fritzi von Schulenburg an der Ostfront. "Fritzi hat alle Furcht überwunden: Todesfurcht, Tötungsfurcht, er ist ganz bei sich, wenn der Angriff beginnt." (S.1288)

Helmuth v. Moltke: "Wir tragen Verantwortung für uns selbst [...] Vor allem anderen müssen wir uns doch fragen, wer wir sind." (S.1315)
Erschießungen (S.1360-1369),
"Die Treue zu den Kameraden steht über jedem anderen Wert." (S.1371)
Moltke ist gegen ein Attentat, weil er eine Dolchstoßlegende fürchtet. Doch: "Es könnte sich ergeben, dass es eine Pflicht würde, das Attentat zu wagen." (S.1409)
"Es gab mehr als drei Dutzend dokumentierte Attentatspläne auf Hitler." (S.1413)
Henning von Tresckow, Fabian von Schlabrendorff,
Russlandfeldzug (S.1447ff)
"Es ist noch nicht Juli, und der Raum ist schon jetzt unkontrollierbar." (S.1459)

4.Teil
Claus von Stauffenberg (S.1525), Bomben auf Berlin (S.1564ff), Axel von dem Bussche (S.1575),


Nach der Kapitulation (S.1969ff)


14 Juni 2013

Kitsch oder nicht? (Begegnung III)

Das Mädchen ließ die Rechte mit der Sichel sinken; es fiel ihr aber nicht ein, das Gerät auf die Erde zu werfen. »Ich werde so lange arbeiten und auf meinem Posten bleiben, bis ein Ersatz für mich da ist,« entgegnete sie ernst gelassen. »Und weshalb ›meine Dame‹ auf eine Kunst verzichten soll, die sie liebt, das verstehe ich nicht.« »Ei, sagten Sie denn nicht, daß sie über das Meer gehen würde? Nun sehen Sie, das ist der direkte Weg ins Schlaraffenland, zu dem erträumten Diamantenprinzen!« Sie verzog geringschätzend die Lippen. »Was doch solch ein reicher Mann für eine hohe Meinung von der Macht des Besitzes hat,« sagte sie bitter. Er lachte. »Wäre sie etwa falsch, diese Meinung? Gott bewahre! Sie bestätigt sich alle Tage! – Geben Sie einen Diamantenregen über Kopf und Schultern, einen Palast in volkreicher Großstadt und ein märchenhaftes Sommerhaus inmitten reicher Pflanzungen, und solch ein begehrliches Erzieherinnenpersönchen wird den Spender all dieser Herrlichkeiten hinreißend finden, und wäre er schwarz und roh wie der Teufel selbst ... Glauben Sie das nicht?« »Mein Gott, ja – wenn Sie es sagen!« antwortete sie ebenso leichthin, wie er gesprochen. »Die eine, die ich meine, hat ja auch ihren Sparren. Ist es nicht grenzenlos vermessen, daß sie sich auch erlaubt, Neigungen und Vorurteile zu haben, ganz wie Sie? Ich weiß, daß sie den Vorzug des Reichtums genau auf dieselbe Stufe stellt, wohin Sie die verhaßten Erzieherinnen verweisen – tief unter ihre Wünsche.« [...]
Glauben Sie, ich könnte auch nur einen Bissen Brot von dem Tische eines Mannes essen, der in seinem Innern fortwährend mit dem Verdacht kämpfte, nicht die Liebe, sondern das Verlangen nach einer begehrenswerten äußeren Lebensstellung habe mich in seine Arme getrieben? – Nein, dagegen ist das selbstverdiente Brot der Erzieherin ein süßes, ein hoch ehrenhaftes! Und ich werde es essen, solange mir Leben und Schaffenskraft verbleiben!« »Agnes!« ... Er hatte ihre beiden Hände ergriffen; er hielt sie, trotz alles Sträubens, fest und zog sie an sich. »Wollen Sie wirklich den übermütigen Burschen so grausam züchtigen, der, von einem Wahn, einem oberflächlichen Vorurteil ausgehend, selbst nicht gewußt hat, was er verübt?« ... Ein schelmisches Lächeln zuckte um seinen Mund. – »Soll ich hier, in diesem verregneten Garten, Ihnen zu Füßen sinken und um Verzeihung bitten? Soll ich das bißchen Geld, um deswillen Sie den bösen, eingebildeten Menschen nicht wollen, in die Spree werfen? (Amtsmanns Magd)

Gibt es Parallelen zu Pride and Prejudice?
Wenn Jane Austens Roman kein Kitsch ist, wieso sollte dieser Text es sein?
Was unterscheidet die Texte?



08 Juni 2013

Jürg Jenatsch III

Dieser Weg der Gefahr und Schande war das Bündnis mit Spanien. Jene Macht, die er von Kindheit an mit der ganzen Kraft seines jungen Herzens gehaßt, die er dann in vermessenem Jugendmute mit fast wahnsinniger, vor keinem Greuel zurückbebender Leidenschaft bekämpft, welcher er sein ganzes Leben hindurch als Todfeind gegenüber gestanden und deren eigennützige und wortbrüchige Politik er auch heute noch tief verachtete – sie bot ihm die Hand. Er konnte diese Hand ergreifen – nicht in Treu und Glauben – wohl aber um von ihr die französische Schlinge lösen zu lassen und sie dann zurückzustoßen. [...]
Jetzt entschloß er sich dazu. Langsam wandelte er auf der dunkeln Heerstraße nach Thusis zurück. Es ward ihm schwer zu brechen mit der ganzen Vergangenheit. Er wußte, daß er sich selbst in seinen Lebenstiefen damit zerbrach. Dort jenseits des Rheines im Domleschg lag das Dörfchen Scharans, dessen armer Pfarrer, sein gottesfürchtiger Vater, in Geradheit und Einfalt ihn aufgezogen und ihn zur Treue im protestantischen Glauben und zum Hasse der spanischen Verführung ermahnt hatte. Dort unfern davon stand der Turm von Riedberg, wo er den Vater Lucretias, der seiner Kindheit wohlgewollt, als willkürlicher Blutrichter nächtlicher Weile überfallen und grausam erschlagen hatte, das »Giorgio guardati« des treuen Mädchens schlecht vergeltend. [...]
Meyer: Jürg Jenatsch, 3.Buch, Kapitel 5
Ich weiß es jetzt, – gestand sie sich – dieser Freund von jedermann ist nicht der Jürg mehr, den ich liebte, – nicht der scheu verwegene Knabe mit den dunkeln verschwiegenen Augen, der mein Beschützer war, – nicht der zornig Dahinbrausende, der mein Glück wie ein die Ufer zerreißender Wildbach in Trümmer warf, – nicht der Mann, gegen den ich in meinen Racheträumen die Hand erhob, – nicht der Traute, den ich nach Jahren des Jammers auf dem Bernhardin wieder zu erkennen glaubte und in die Arme schloß, – nein! es ist ein weltgewandter Höfling, ein berechnender Staatsmann aus ihm geworden... Er will sich von mir scheiden und loskaufen, darum gab er mir mein Riedberg wieder. Er scheut mich wie einen Vorwurf, er flieht mein Antlitz wie das einer Toten! – Und sie vergaß, daß sie selbst ihn drohend beschworen, die Schwelle ihres Hauses nimmermehr zu überschreiten.  [...] 6. Kapitel
Der Oberst Jenatsch, hinter dessen entschlossenen Schritten die andern nicht ungern zurückblieben, näherte sich barhaupt mit starren blassen Zügen dem Herzog, der stolz und fragend vor ihm stand. Seine Stimme klang ruhig und seltsam kalt, als er zu reden anhob: »Erlauchter Herr, Ihr seid in unserer Gewalt. Unser Aufstand ist Gegenwehr und gilt nicht Euch, sondern der Krone Frankreich. Was Euch dunkel blieb, ist uns klar geworden: Der Kardinal will den von Euch mit uns vereinbarten Vertrag nicht unterzeichnen. Er will uns festhalten und im Tauschhandel des in Aussicht stehenden allgemeinen Friedensschlusses als französische Ware verschachern. Das Pfand Eurer reinen Ehre, das er uns in die Hände gab, würde er leicht verscherzen. So hat uns der König von Frankreich und sein Kardinal dazu getrieben, bei unserm Erbfeinde billigere Hilfe zu suchen, die uns auch gewährt wurde. Gott weiß, was es uns gekostet hat unsere Freiheit unter Spaniens Schild zu stellen. – Was wir von Euch verlangen und warum Ihr es uns gewähren werdet, das kann ich Euch mit wenigen Worten darlegen. Vor Eurer Rheinschanze strömt Bündens ganzer Landsturm zusammen. Die Regimenter rücken in Chur ein. Ich habe sie ihres Gehorsams gegen Euch entbunden und den Eid ihrer Treue den Häuptern unserer drei Bünde schwören lassen. Die Österreicher stehen am Luziensteig, die Spanier bei der Festung Fuentes, beide mit Übermacht. Auf ein Wort von mir überschreiten sie die Grenze. – Seht hier meine spanisch-österreichischen vom Kaiser selbst und vom Gubernatore Serbelloni unterzeichneten Vollmachten!« – und er entfaltete zwei Papiere. »Lecques kann Euch nicht befreien, denn bei seiner ersten Bewegung gegen die Alpenpässe rücken die Spanier von Fuentes her ins Veltlin. – Ihr seht, Euer Heer ist von allen Seiten eingeklemmt; nur Ihr könnt es Euerm Könige retten, und Ihr tut es, wenn Ihr dieses Übereinkommen unterzeichnet.« – Jenatsch nahm ein drittes Papier aus der Hand des Bürgermeisters von Chur und las: 
»Die Rheinschanze und das Veltlin werden von den Franzosen geräumt. 
Sie verlassen Bünden als Freunde und in kürzester Frist. 
Der Herzog Heinrich Rohan, Pair von Frankreich und Generallieutenant der französischen Armee, bleibt als unser Bürger in Chur bis zur Vollziehung dieses seines mit uns geschlossenen Übereinkommens. 
Und dies Übereinkommen verspricht der erlauchte Herzog bei seiner Ehre auch dann in Treuen zu vollziehen, wenn Gegenbefehl vom französischen Hofe einträfe.  [...] 

»Ihr reizt mich nicht«, sagte der andere finster. »Ich bin des Blutes satt und an Eurer persönlichen Achtung liegt mir nicht das mindeste. – Was ich für mein Land tue, versteht ihr nicht. – Geht und sagt dem Herzog Bernhard«, schloß Jenatsch und schritt, das Haupt übermütig zurückwerfend, dem Eingange zu, »er möge sich vorsehn, daß er sein Elsaß so glücklich den Krallen Frankreichs entwinde wie ich mein Bünden [...] Kapitel 8
Während die Ereignisse des Frühjahrs die Stadt Chur und das ganze Land in aufgeregte Spannung versetzten, blieb Lucretia Planta von denselben scheinbar unberührt. [...] Lucretias Fahrt nach Mailand im vergangenen Jahre war ihr schwer geworden, aber sie hatte das von Jenatsch ihr vorgehaltene Ziel standhaft verfolgt und durch die Festigkeit ihres Willens auch erreicht. [...]
er ahnte nicht, daß dabei eine steigende Verachtung der niedern Schliche und geheimen Mittel der Politik sich Lucretias bemächtigte. Auch Georg Jenatsch erschien ihr in einem andern Lichte; ihr Vertrauen auf seine reine Vaterlandsliebe wurde von dem allgemeinen Ekel, den sie empfand, angefressen und ihr Glaube an die Einheit seines Wesens erschüttert, ohne daß sie augenblicklich sich ganz bewußt wurde, wie durch diese Zweifel ihr Verhältnis zu ihm sich innerlich trübe. Was sie aufrecht hielt, war ihre Treue an sich selbst. Sie hatte versprochen, von den ihr übergebenen fünf Bedingungen in keiner Weise abzuweichen und sich keinen Punkt davon abmarkten zu lassen. Dabei blieb sie unerschütterlich. Das Andenken ihres Vaters verließ sie niemals. Sie stärkte sich in Momenten der Erschöpfung an seinem geistigen Anblicke, und je ausschließender sie in der Erinnerung mit ihm verkehrte, desto lebendiger ward sie sich bewußt, daß sie in seinem Geiste handle, wenn sie zum Abschlusse des von Jenatsch entworfenen Vertrages mitwirke. Nachdem sie als williges und treues Werkzeug ihre Aufgabe erfüllt und mit den von Spanien gewährten und unterzeichneten Bedingungen das Gebirge wieder überschritten hatte, kehrte sie in die Stille von Riedberg zurück und wartete dort, bis ihr die Schriften, die sie verwahrte, – durch die Vermittelung des Klosters Cazis, vermutete sie – abverlangt würden. [...]
So war der März gekommen. Da erschien eines Abends bei einbrechender Nacht Jenatsch selbst wieder auf Riedberg. Ein Brief des Paters Pancraz hatte ihm aus Mailand gemeldet, daß Lucretia abgereist sei und die ihr gewährten spanischen Vollmachten auf ihrem Schlosse bewahre und hüte. Nun kam er, um die von Serbelloni unterzeichneten Papiere aus ihrer Hand zu empfangen. Als er eintrat, pochte Lucretias Herz mit schweren Schlägen, aber vor jähem Schrecken mehr als vor Freude. Noch einmal war eine Verwandlung mit ihm vorgegangen! Was heute aus seinen Augen blitzte, war nicht mehr der jugendliche Übermut von früher, war nicht die vor keinem Hindernisse zurückweichende Sicherheit, mit welcher er, seit sie ihn wieder kannte, ihr entgegen getreten, es war etwas Maßloses in seinem Wesen, eine gereizte Gewaltsamkeit in seiner Stimme und Haltung, als hätte eine übermenschliche Kraftanstrengung ihn aus dem Geleise und über die letzten seiner Natur gesetzten Marksteine hinausgeworfen. Eine wilde Freude flammte über sein Antlitz, als er endlich die Schriften hielt und durchflog. Er wollte in seinem Triumphe die Kniee seiner Botin umfassen; aber Lucretia trat stolz und zitternd zurück. Da streckte er die Hand gen Himmel und rief in herausforderndem Jubel: »Ich schwöre es, Lucretia, wenn das gelingt, soll mir fortan nichts unmöglich sein!... Müßt' ich auch das Blut deines Vaters durchschreiten – müßt' ich dem Racheengel das Schwert aus den Händen reißen, um dich zu besitzen, du längst – du immer Begehrte!« Lucretia faßte seine Hand und trat mit ihm durch eine schmale Pforte in einen gewölbten Nebenraum, ein enges Gelaß, dessen Rückwand durch einen ungebrauchten altertümlichen Kamin ganz gefüllt und durch ein grob darauf gezeichnetes Kreuz verunziert war. »Auf Riedberg wird keine Hochzeit gefeiert!« sagte sie und flüchtete sich dann, das Antlitz mit den Händen bedeckend, in ihr innerstes Gemach. [...]
Als wenige Wochen später der Verrat an Herzog Rohan und die Befreiung Bündens eine Tatsache wurde, von der das ganze Land erscholl, beschlich Lucretia in ihrer Einsamkeit das bange Gefühl, als sei sie durch ihre verborgene Mithilfe mit Georg Jenatsch auf immer und ewig verbunden, teilhaftig seiner rettenden Tat, teilhaftig auch seiner Schuld. Unauflöslich war sie mit ihm vereinigt im Augenblicke, da ihr Herz vor ihm zu erschrecken begann und sie, um in ihrem Gemüte eine Schutzwehr gegen ihn aufzurichten, sich täglich zurückrief, daß die Pflicht ihres Lebens noch nicht erfüllt und der Geist ihres Vaters durch die ihm gebührende Blutsühne noch nicht geehrt sei. [...]
Kapitel 11
»Will Eure Gnade mir die Hand zwingen? Ich bin kein Herzog Rohan! Und nicht in Chur sind wir, sondern in Mailand.« Das war ein unzeitiges Wort. Der unvermutet ausgesprochene, dem Bündner einst so teure Name des von ihm Verratenen verwundete ihn wie eine persönliche Beleidigung, oder es starrte ihn das Medusenhaupt seiner unblutigen, aber schlimmsten Tat an. Er erbleichte und verlor die Fassung. »Der Paß ist eine Unmöglichkeit!« schrie er den Herzog an. »Macht ein Ende und unterzeichnet!« »Sennor«, sagte dieser kalt, »ich muß mich fragen, wen ich vor mir habe. Eure Gnade unterscheidet sich von ihren Landsleuten nicht zu ihrem Vorteil. Ich habe oft mit Bündnern, auch von der protestantischen Partei, unterhandelt und erfand sie stets als weise, mäßige, tugendhafte Männer, die sich und die Stellung ihres kleinen Landes niemals mißkannten. – Wie Eure Gnade sich eben ausdrückte, spricht nur ein Welteroberer wie Alexander, oder – ein Rasender.« Georg Jenatsch war von seinem Sitze aufgesprungen. Mit brennenden Augen und geisterhaft verfärbtem Haupte stand er vor dem Herzog. »Wen Eure Herrlichkeit vor sich hat?... Keinen weisen tugendhaften Mann, nein, wahrhaftig nicht!... Sondern einen Menschen, der sein Vaterland ganz und völlig retten wird – koste es, was es wolle! Das ist mein Schicksal und ich will es erfüllen. Hört mich, Herzog: Als ich Bünden hieherkommend verließ, strömte im Dorfe Splügen das Volk zusammen und flehte mich unter Tränen an, ihm den Frieden heimzubringen. Und ›mich jammerte des Volkes‹, wie geschrieben steht. Da kam ein alter Prädikant mit langem weißen Haar und Barte hergewankt – er glich meinem Vater, Herzog, – und warnte mich mit beweglichen Worten vor der spanischen Hinterlist. Ich aber hob mich in den Bügeln, reckte vor allem Volke die drei Eidfinger aus und schwur, daß es durch das Gebirge tönte: ›Ich rette Bünden, so wahr mir Gott helfe! Und müßte ich Spanien und Frankreich wie zwei Rüden aneinander hetzen, bis sie sich zerfleischt haben!‹... Und... Herrlichkeit...«, sagte er sich besinnend, »so werde ich tun, wenn Ihr nicht heute, nicht in dieser Stunde meinen Vertrag unterzeichnet!« [...]
Und wieder erhob Georg Jenatsch die drei Schwurfinger. »So wahr diese Hand«, rief er, und sein Dämon trieb ihn, »den Pompejus Planta erschlagen und dieser Mund den guten Herzog betrogen hat!« Serbelloni [der spanische General Giovanni Serbellonibetrachtete den Maßlosen aufmerksam. Dieser Ausbruch ungezähmter Wildheit hätte den Bündner in seinen Augen auf die Stufe eines Ungefürchteten hinuntergesetzt, wenn ihm Georg Jenatsch im Laufe der Unterhandlung nicht tägliche Proben eines durchdringenden Verstandes und einer wildgewachsenen, aber der seinigen mindestens ebenbürtigen Staatskunst gegeben hätte. So erregte diese überreizte Tatkraft eher seine Besorgnis und im Interesse seiner eigenen Stellung fing er an zu wünschen, diesen auf eine gefährliche Weise außerhalb aller Regeln Fechtenden ohne Schaden loszuwerden. [...]
»Die französische Eminenz [Richelieu] ist ein großer Geist«, sagte er [Jenatsch], »und wird, was sie Persönliches gegen mich hat, um der Dinge willen verwinden. Sie wird mir bereitwillig den Rücken decken, wenn ich mein Bünden wieder in den französischen Interessenkreis ziehe. Anderseits soll es an mir nicht fehlen. Die Festungen des Veltlins sind schon in meiner Hand. In wenig Tagen ist unser ganzes, noch nicht abgerüstetes Heer hinübergeworfen und ich lasse die stets bereitwilligen Veltliner ihren bündnerischen Patronen schwören, ohne mich um irgend einen Einspruch so viel zu kümmern!« Und er blies leicht über die Fläche seiner Hand hin. [...]
»Dieser Mensch ist mir zu nahe getreten«, sprach er [Serbelloni] zu sich. »Er darf nicht leben bleiben.« [...] 
3. Buch, Kapitel 12
Lucretia gab den Zweck ihrer Reise nach Mailand ruhig und stolz zu. Da warf der Freche jede Scheu von sich und bezichtigte sie vertraulicher Abhängigkeit von dem Obersten. »Es ist Zeit mit ihm ein Ende zu machen«, schrie er ihr zu. »An Betrogenen und Beschimpften, die wie ich nach diesem gemeinen Blute dürsten, ist heute Überfluß, seiner Feinde sind in Spanien so viel wie in Frankreich! Du aber, Lucretia, hast die heilige Pflicht der Rache schmählich vergessen und bist deines Vaters ganz unwürdig geworden! – Weg mit ihm, lieber heute als morgen! Der Mörder des Pompejus Planta soll sich der Gunst seiner Tochter nicht berühmen! Mir fällt es zu, die Ehre des Hauses wieder herzustellen. Sobald der Verräter auf dem Rücken liegt, werde ich dich als mein Weib heimführen. Ich lasse die Güter der Planta nicht von unberechtigten Händen verzetteln.« [...]
Aber sie erschrak vor dem Zwiespalte ihrer eigenen Seele, vor ihrer Ohnmacht, die alte Rache zu hegen, und vor ihrer verzehrenden Eifersucht auf jeden, der in ihr Amt eintreten konnte. So beschloß sie ein Ende zu machen und der Welt abzusagen. Jenseits der Klosterschwelle war sie sicher. Sie verzichtete ja dort auf all ihren Besitz, opferte ihre stolze, immer bekämpfte Liebe, verzichtete auf die zu lange wie ein Heiligtum bewahrte Rache. – Jenseits der Klosterschwelle konnte weder Jürgs frevelhafte Werbung noch Rudolfs ekler Eigennutz sie mehr erreichen. [...]
Im Hofe hörte sie Pferdegetrappel und das Knarren des sich öffnenden Tors. Sie eilte ans Fenster und sah in der stürmischen Morgendämmerung zwei Pferde wegtraben. Das eine war der Schimmel ihres Vetters. Erstaunt ließ sie Lucas rufen. Er war nicht mehr auf dem Schlosse, sondern mit Herrn Rudolf nach Chur verritten, dessen Gefolge, wie ihr gesagt wurde, Befehl erhalten hatte, später aufzubrechen, um zur Mittagszeit mit dem Herrn in der Schenke zum staubigen Hüttlein bei Chur zusammenzutreffen. Daß der treue Lucas nach dem Auftritte von gestern mit Rudolf Planta weggeritten, daß er sie ohne Urlaub verlassen, was er noch nie getan, das war Lucretia unbegreiflich und erfüllte sie mit schlimmen Ahnungen. Sie betrat die Kammer des Alten und öffnete eine hölzerne Truhe, worin er mit eigensinniger Verehrung das Beil aufbewahrte, das ihren Vater erschlagen hatte und das sie zum schmerzlichen Ärger des greisen Knechtes nie hatte sehen wollen. Die Truhe war leer. Lucretia erbleichte. Die mit dem Blute ihres Vaters benetzte Waffe also war ihr entrissen; die ihr allein zustehende Rache sollte heute schon von den Händen eines Feiglings oder von denen ihres Knechtes vollzogen werden! Das Blut der Planta stürzte ihr wild zum Herzen und empörte sich gegen solch unwürdigen Eingriff. Die Entsagung der verwichenen Nacht entschwand ihrem Gemüte. Heute war sie noch die Herrin auf Riedberg, – heute war sie noch die Erbin ihres Vaters und waltete zum letzten Male ihres Amts. Was morgen komme, war ihr gleichgültig, lag doch wie ein stiller Friedhof das Kloster Cazis dort über dem Rhein. [...]

Sie wollte zu Georg, ihn warnen und retten, oder ihn mit reinen, gerechten Händen töten. »Jürg ist mein!« sagte sie zu ihrem Herzen. [...]
Kapitel 13
[Herr Waser] »In einem Stücke wenigstens überragt Georg Jenatsch unsere größten Zeitgenossen – in seiner übermächtigen Vaterlandsliebe. [...]
»Und was fängt unser kleines Land mit diesem jetzt müßig gewordenen und an Taten noch ungesättigten Menschen an«, fuhr Sprecher fort, »der unsern engen Verhältnissen entwachsen und von seinen beispiellosen Erfolgen trunken ist bis zum Wahnsinn? – In den Pausen seiner Unterhandlungen zu Mailand hat er in unserer Grafschaft Chiavenna, wo er sich von den drei Bünden zum Lohne seines Verrats an Herzog Heinrich die ganze Zivil- und Militärgewalt unumschränkt übertragen ließ, gewirtschaftet wie ein ausschweifender Nero und einen mehr als fürstlichen Hofhalt geführt. [...]

Über Herzog Rohan:
Wenn einst, wie wir alle unverrücket hoffen, das deutsche Reich erneuert wird in evangelischer Freiheit und großer Gloria, so wird man auch dieses gottesfürchtigen welschen Herzogs gedenken, dieweil er glaubenshalber aus seinem Vaterlande gewichen und, nachdem er sich seiner hohen Ehren demütiglich abgetan, im evangelischen deutschen Heere einen frommen Reiterstod gestorben ist. Amen.« [...]
»Hüte dich, hüte dich, Jürg!« flüsterte sie [Lucretia], seiner Umschlingung widerstrebend, und erhob zu ihm Augen voll unendlicher Angst und Liebe. [...]
[Jenatsch:] Selig lebt und freudig stirbt, Wen die Lieb' umfangen!... Das laß mir singen.«  [...]
Lucretia drängte sich fest an die linke Seite des Umstellten, wie um ihn zu decken. Sie hatte ihm keine Waffe zu bieten. Wieder traf die Stimme Rudolfs ihr Ohr. »Dies, Lucretia, für die Ehre der Planta«, flüsterte er dicht hinter ihr und sie sah, mit halbgewandtem Haupte, wie seine feine spanische Klinge vorsichtig eine gefährliche Stelle zwischen den Schulterblättern Georgs suchte. Sie hatte sich von Jenatsch vorwärts ziehen lassen, denn dieser streckte sich, den ihn umschließenden Kreis seiner Mörder mitreißend, nach dem nahen Kredenztische aus und erreichte dort mit der freien Linken einen schweren ehernen Leuchter, dessen gewichtigen Fuß er gegen seine Angreifer schwang, die von vorn fallenden Hiebe parierend. [...]
Dann warf er den Sterbenden auf die Seite, drückte Lucretia weg und stand mit erhobener Axt vor Jenatsch. Der Starke, der schon aus vielen Wunden blutete, schlug mit wuchtiger Faust seinen Leuchter blindlings auf das graue Haupt. Lautlos sank der alte Knecht auf Lucretias Füße. Sie neigte sich zu ihm nieder und er gab ihr mit brechendem Blicke das blutige Beil in die Hand. Es war die Axt, die einst den Herrn Pompejus erschlagen hatte. In Verzweiflung richtete sie sich auf, sah Jürg schwanken, von gedungenen Mördern umstellt, von meuchlerischen Waffen umzuckt und verwundet, rings und rettungslos umstellt. Jetzt, in traumhaftem Entschlusse, hob sie mit beiden Händen die ihr vererbte Waffe und traf mit ganzer Kraft das teure Haupt. Jürgs Arme sanken, er blickte die hoch vor ihm Stehende mit voller Liebe an, ein düsterer Triumph flog über seine Züge, dann stürzte er schwer zusammen. Als Lucretia ihrer Sinne wieder mächtig wurde, kniete sie neben der Leiche, das Haupt des Erschlagenen lag in ihrem Schoße. Das Gemach war leer. Um die über ihr schwebende Gestalt der Justitia waren die Lichter heruntergebrannt und das Wachs fiel ihr in glühenden Tropfen auf Hals und Stirn. Neben ihr stand Pancraz und legte die Hand auf ihre Schulter, während unter der Türe Fausch dem Bürgermeister Waser das Ereignis jammernd erzählte. Willig wie ein Kind folgte sie dem Mönch, der sie von der Unglücksstätte wegführte. Waser aber übernahm die Leichenwache. [...]
Nicht lange blieb er allein. Als das erste Entsetzen vorüber war und die Verwirrung der Gemüter sich löste, kamen die Häupter der Stadt eines nach dem anderen in die Totenkammer und klagten um Bündens größten Mann, seinen Befreier und Wiederhersteller.
Sie verzichteten darauf, die Urheber seines Todes, die ihnen als die Werkzeuge eines notwendigen Schicksals erschienen, vor Gericht zu ziehen. Keine neue Parteiung und Rache sollte aus seinem Blute entstehen, – er hätte es selbst nicht gewollt. Aber sie beschlossen, ihn mit ungewöhnlichen, seinen Verdiensten um das Land angemessenen Ehren zu bestatten.
C.F. Meyer: Jürg Jenatsch, 3. Buch, Kapitel 15

Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die ehemaligen Untertanengebiete Veltlin, Bormio und Chiavenna längst verlorengegangen waren und aus dem Freystaat mit Nachhilfe der Franzosen ein Kanton der Eidgenossenschaft geworden war, begannen sich in Graubünden die Menschen nach einer Identifikationsfigur zu sehnen, die sie – nach Erscheinen einer systematischen Untersuchung der Schweizergeschichte durch Louis Vulliemin im Jahre 1844,[11][12] in der Georg Jenatsch als massgeblicher Protagonist der diplomatischen Manöver der 1630er Jahre eingehend gewürdigt wurde – in Jenatsch fanden. Es begann sich der Mythos eines Freiheitshelden um seine Person zu bilden, der sich, losgelöst von historischen Fakten, in literarischen Werken und patriotischen Bühnenstücken entwickelte.[13] Der Hauptgrund, weshalb Jenatsch im 19. Jahrhundert wieder Eingang ins historische Gedächtnis des Volkes fand, war der Erfolg des 1874 erschienenen Romans von Conrad Ferdinand Meyer Jürg Jenatsch. Dieser war während der folgenden Jahrzehnte sogar Teil des Lehrplans für höhere Schulen, wodurch sich das Bild von Jenatsch als unerschrockenem Freiheitshelden und seiner tragisch endenden, verbotenen Liebe zur Tochter seines Todfeindes Pompejus Planta bei Generationen von Schülern prägte.[14]
Jenatsch in den Augen der Nachwelt (Permanentlink: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=J%C3%B6rg_Jenatsch&oldid=118894510)