07 Juni 2013

Jürg Jenatsch II

Jürg Jenatsch und der Adjutant des Herzogs Rohan im Gespräch

Nach einem letzten Universitätsjahre in Basel, erzählte Jürg, sei er ins Domleschg zurückgekehrt. Dort habe er seinen Vater auf dem Sterbelager gefunden und sei nach dessen Ableben von den Scharansern trotz seiner grünen achtzehn Jahre einstimmig zu ihrem Pfarrer gewählt worden. Auf Riedberg habe er einen einzigen Besuch gemacht, wobei er allerdings mit Herrn Pompejus über politische Dinge in Wortwechsel geraten sei. Persönliches habe sich nicht eingemischt; aber der Eindruck auf beide sei der gewesen, daß sie sich besser mieden. Als der erste Volkssturm gegen die Planta sich erhoben, habe er von der Kanzel abgewarnt, denn er sei damals noch der Meinung gewesen, ein Geistlicher müsse seine Hände von der Politik rein halten; als aber das Staatsruder bei wachsender Gefahr keinen mutigen Steuermann gefunden, habe ihn das Mitleid mit seinem Volke überwältigt. Das Strafgericht von Thusis, das er für eine blutige Notwendigkeit gehalten, habe er allerdings mit einsetzen helfen und ihm sein Tagewerk angewiesen. Die Verurteilung der Planta dagegen, deren Praktiken übrigens landeskundig gewesen, habe er weder begünstigt noch verhindert, sie sei wie ein einstimmiger Schrei aus dem Volke hervorgegangen. [...]
»Ihr fochtet in Deutschland, Hauptmann, bevor Ihr der Republik von San Marco Eure Dienste angeboten habt?« begann der ungeduldige Wertmüller das Gespräch, da sein Gefährte eigenen Gedanken nachzuhängen schien. »Unter Mansfeld. Dann folgte ich der schwedischen Fahne bis zu dem unseligen Tage von Lützen«, war die zerstreute Antwort. »Unselig? Es war eine entschiedene Viktorie!« meinte der junge Offizier. »Wäre es doch lieber eine Niederlage gewesen und hätten zwei strahlende Augen sich nicht geschlossen!« sagte der Bündner. »Durch den Tod eines Mannes ward die Weltlage eine andere. Unter Gustav Adolf war der Krieg kein mutwilliges Blutvergießen: er führte ihn für seinen großen Gedanken, zum Schutze der evangelischen Freiheit ein starkes nordisches Reich zu gründen, und ein solches Reich wäre der Halt und Hort aller kleinen protestantischen Gemeinwesen, auch meines Bündens, geworden. Dies ersehnte Ziel ist uns mit dem großen Toten entrückt und der seiner Seele beraubte Krieg entartet zur reißenden Bestie. Was bleibt übrig? Zweckloses Morden und habgierige Teilung der Beute. Unter Gustav Adolfs Fahne konnte ein Bündner freudig fechten; Blut und Leben für die protestantische Sache verströmend, war er sicher, daß es in Segensbächen zurückrinne in sein kleines Vaterland. – Jetzt sehe jeder zu, daß er heimkehre und für das Seine sorge.« »Glaubt Ihr denn, daß ein einzelner Mann, und wäre er Gustav Adolf, so schwer in der Schicksalswaage der Welt wiege?« fragte rasch der widerspruchslustige Wertmüller. »Die Eifersucht der deutschen Fürsten hätte wie ein Geschling von Sumpfpflanzen seinen Fuß gehemmt, sein neidischer Bundesgenosse Richelieu hätte ihn, alsbald er die Hand nach der deutschen Krone ausstreckte, arglistig zu Falle gebracht und erreicht hätte er nichts als das Zusammenkrachen der alten verrosteten Maschine des heiligen römischen Reichs. – Im Grunde erscheint mir der Schwedenkönig als ein frommes Gegenstück zum Wallenstein. Dieser wird als gottloser Empörer schwarz wie der Teufel an die Wand gemalt und jener ist im Geruche der Heiligkeit gestorben; meines Erachtens aber haben beide unberechtigter Weise der Welt ihre willkürlichen Pläne aufgedrängt und beide sind wie feurige Meteore nach kurzem Glanze erloschen. [...]
»Ihr mißversteht mich kläglich«, sagte er, »wenn Ihr meint, ich denke an die vom Boden abgelöste Persönlichkeit des einzelnen Mannes, wie sie entwurzelt und eigensüchtig sich umhertreibt, sondern ich rede von der Menschwerdung eines ganzen Volkes, das sich mit seinem Geiste und seiner Leidenschaft, mit seinem Elende und seiner Schmach, mit seinen Seufzern, mit seinem Zorn und seiner Rache in mehrern oder meinetwegen in einem seiner Söhne verkörpert und den welchen es besitzt und beseelt zu den notwendigen Taten bevollmächtigt, daß er Wunder tun muß, auch wenn er nicht wollte!... Blickt umher! Seht Euer und mein kleines Vaterland, wie es zusammengedrückt wird von der Wucht ringsum sich bildender großer Monarchien, und sprecht! Genügt da, wenn wir ein selbständiges Leben behaupten wollen, eine gewöhnliche Vaterlandsliebe und ein haushälterisches Maß von Opferlust?«... [...]

Der Adjutant Wertmüller  des protestantischen Herzogs Rohan lobt die Jesuiten

Ich aber meine, das Auftauchen außerordentlicher Menschen und das Aufflackern großer Leidenschaften, das bei der mißlichen Beschaffenheit der menschlichen Natur doch einmal nicht von Dauer ist, reiche nirgends aus. Um aus den durcheinandergewürfelten Elementen der Welt etwas Planvolles zusammenzubauen, braucht es meines Bedünkens kältere Eigenschaften: Menschenkenntnis, will sagen Kenntnis der Drähte, an welchen sie tanzen, eiserne Disziplin und im Wechsel der Personen und Dinge festgehaltene Interessen. – Aus diesem Gesichtspunkte muß ich jene dort als Meister loben!« und er wies mit einer komischen, zwischen Ernst und Spott schillernden Miene hinüber nach dem Prachtgiebel der Jesuiten. Und der Locotenent ließ sich von der Muße und Laune des Augenblickes verlocken, eine Lobrede auf den berühmten Orden zu halten, welche aus dem Munde des Zürchers und eines Adjutanten des calvinistischen Herzogs den gelassensten Zuhörer befremden mußte. [...]

Lucretia
»Ich bin des Pompejus Planta Tochter, Lucretia«, beantwortete jetzt die Fremde seine stumme Frage. »Als mein Vater in Bünden geächtet ward, brachte er mich, die Fünfzehnjährige, zu den Klosterfrauen nach Monza und dort traf mich die Kunde seiner Ermordung. Erlaßt mir, Euch zu sagen, wie sie mein Leben zerstörte und wie völlig ich seither verwaist bin. Heim in mein Bünden konnte ich nicht kehren und kann es auch jetzt nicht ohne Eure Hilfe. Es ist geschlagen von Krieg und schwerer innerer Zwietracht, denn der Fluch ungerochener Mordtat ruht auf ihm und das Blut meines Vaters schreit gen Himmel. – Wohl lebt mir noch ein Ohm in Mailand, der geachtete Rudolf Planta, der bis heute mit mir das Brot der Verbannung teilte; denn in das Stift zu Monza trat ich nicht, weil ich zu arm war und meine Berge nicht auf ewig missen wollte. Warum ich jetzt den Ohm verlasse, gestattet mir zu verschweigen. – Ich bin ein vom Stamme gerissener, auf dem Strome treibender Zweig und kann nicht Wurzel schlagen, bis ich den Boden der Heimat erreiche und getränkt werde mit dem Blute gerechter Sühne. [...]

Herzog Rohan
Unser ganzes Leben, ja das Leben der Menschheit seit ihrem Anfange ist eine Verkettung von Schuld und Sühne. Schwer aber ist es dem menschlichen Kurzblicke die richtige Vergeltung zu wählen, und sicherer in jedem Falle, Frevel durch Opfer der Liebe zu tilgen als Gewalttat durch Gewalttat zu rächen und so Fluch auf Fluch zu häufen. – Besonders die unsichere Frauenhand berühre niemals in den Leidenschaften des Bürgerkriegs die zweischneidige Waffe persönlicher Rache. Mehr als einmal in unsern heimischen Kämpfen war auch ich von Mörderhand bedroht, aber, hätte sie mich getroffen, mit dem letzten Atemzuge hätte ich Frau und Kind angefleht, sich mit keinem Rachegedanken, geschweige mit einer Rachetat zu beflecken. Denn: Ich will vergelten, spricht der Herr.« [...]

Jürg Jenatsch
Stolz und gefaßt, wie ein verurteilter König sein Blutgerüst besteigt, schritt Jürg Jenatsch der Erstarrenden mit entblößtem Haupte entgegen. Nach einer stummen Begrüßung des herzoglichen Paares trat er vor die Tochter des Herrn Pompejus hin, heftete seinen Blick auf die lange nicht Gesehene und sprach in abgebrochenen Sätzen: »Dein Recht soll dir werden, Lucretia. Der Mann, der den Planta erschlug, ist dir von Rechtswegen verfallen. Er stellt sich dir und erwartet hier deinen Spruch. Nimm sein Leben. Es ist dein – zwiefach dein. Schon der Knabe hätte es für dich geopfert. Seit ich die Hand an deinen Vater legen mußte, ist mir das Dasein verhaßt, wo ich es nicht für das von Tausenden meines Volkes einsetzen kann. Danach dürstet meine Seele und dazu bietet mir dieser edle Herr vielleicht morgen schon Gelegenheit. Das bedenke, Lucretia Planta! Bei dir steht die Entscheidung, wer von euch beiden das größere Recht auf mein Blut habe, ob Bünden oder du.« [...]
»Jürg, Jürg«, rief sie, »warum hast du mir das getan? Gespiele meiner Kindheit, Schutz meiner Jugend! Oft im finstern italienischen Kloster oder in der unheimlichen Behausung meines Ohms, wenn mein Herz nach der Heimat schrie und ich sie doch nicht betreten durfte, ohne die Rache meines Vaters besorgt zu haben, dann im bangen Halbtraume sah ich dich, den treuen Gesellen, zum gewaltigen Kriegsmanne erwachsen und ich rief dich an: Jürg, räche meinen Vater! Ich habe niemand als dich! Du tatest mir ja sonst alles zu liebe, was du mir nur an den Augen absehen konntest. Jetzt hilf mir, Jürg, meine heiligste Pflicht zu erfüllen!... Und ich ergriff deine starke Hand... Aber weh' mir, sie trieft von Blut! Du Entsetzlicher, du bist der Mörder! Mir aus den Augen! Denn meine Augen sind mit dir im Bunde – und sündigen – und sind mitschuldig am Blute des Vaters. Hinweg! Kein Friede, kein Vertrag mit dir.« So klagte Lucretia und rang die Hände in innerm Zwiespalte und trostloser Verzweiflung. [...]

Herzog Rohan zu Jürg Jenatsch
»Euch aber ist die Sühne für das mörderisch von Euch vergossene Blut gezeigt. Was Ihr in wildem Jugendfeuer verbrochen, dafür sollt Ihr mit der Arbeit geläuterter Manneskraft zahlen. In rasender Selbsthilfe, mit willkürlichen Taten des Hasses wolltet Ihr Euer Vaterland befreien und habt es dem Verderben zugeführt; heute sollt Ihr es retten helfen durch selbstverleugnende Taten des Gehorsams und kriegerischer Zucht, durch die Unterordnung unter einen leitenden planvollen Willen. – Wo die Tollkühnheit nützt, da will ich Euch hinstellen; ich weiß nun, warum Ihr die Gefahr sucht und liebt. [...]

Der Venezianer Grimani warnt den Herzog von Jenatsch
»Und nun erlaubt mir, meinerseits Euch auszusprechen«, sagte Grimani, und seine Stimme trübte sich vor innerer Bewegung, »daß ich die Tat für eine vorbedachte, absichtsvolle und diesen Charakter kennzeichnende halte. Georg Jenatsch ist unermeßlich ehrsüchtig und ich glaube, er sei der Mann, jede Schranke, welche diese Ehrsucht eindämmt, rücksichtslos niederzureißen. Jede! Den militärischen Gehorsam, das gegebene Wort, die heiligste Dankespflicht! Ich halte ihn für einen Menschen ohne Treu und Glauben und von grenzenloser Kühnheit.« [...]
Ich kenne seine Vergangenheit. In Bünden, wo ich vor Jahren die Interessen meiner Republik als Gesandter wahrnahm, habe ich ihn an der Spitze rasender Volkshaufen gesehen und seine Herrschaft über die tobenden Massen hat mich entsetzt. Mein erlauchter Freund erlaube mir, einen Blick auf das Werdende zu richten. Denselben Blick, den ich wider Willen auf die sich vollziehenden Geschicke unsrer Republik wende und der mir in unsern Räten den trübseligen Namen Cassandro zugezogen hat. Und nach Verdienst: denn mir ist wehe dabei, und mir wird nicht geglaubt! – Nicht Apollo aber hat mich zum Seher gemacht, sondern ein enttäuschter Geist und ein erkältetes Gemüt. – Ihr seid im Begriffe Bünden der spanischen Macht zu entreißen und ich zweifle keinen Augenblick am Erfolge Eurer Waffen. Aber was dann? Wie werden sich nach Vertreibung der Spanier die Absichten der französischen Krone, die das strategisch wichtige Land bis zum allgemeinen Frieden unmöglich aus den Händen geben darf, mit dem stürmischen Verlangen seiner wilden Bewohner nach der alten Selbständigkeit vereinigen lassen? Da Richelieu – ich will sagen der allerchristlichste König, Euer Herr, – nur den kleinsten Teil seiner in Deutschland unentbehrlichen Truppen Euch zur Verfügung stellt, werdet Ihr in Bünden selbst werben und dem durch jegliches Elend erschöpften Lande neue Opfer zumuten müssen. Das aber – ich schäme mich zu sagen, was Ihr sicherlich längst bedacht habt, – wird Euch nur durch das Mittel weitgehender Versprechungen gelingen. Ich wenigstens kann mir nichts anderes denken, als daß Ihr mit Euerem persönlichen Werte den Bündnern Euch werdet verbürgen müssen, ihnen, sobald Euer Sieg erfochten ist, ihr ursprüngliches Gebiet und ihre alte Selbständigkeit unvermindert zurückzugeben. – Darum sendet, wie ich vermute, Richelieu gerade Euch, dessen Name von reiner Ehre leuchtet, nach Bünden, weil Eure Gewalt über die protestantischen Herzen ihm dort ein Heer ersetzt. So werdet Ihr mir einräumen, edler Herr, daß Euer eine schwere Stunde und eine peinliche Doppelstellung zwischen dem Kardinal und Bünden wartet. Wohl wird es Eurer Weisheit gelingen, das Interesse der französischen Krone, welcher Ihr dient, und die von Euch verbürgten Ansprüche des Gebirgsvolkes, ohne jenes zu verleugnen oder diese zu täuschen, durch umsichtige Politik und kluge Zögerung in der Schwebe zu halten und endlich auszugleichen; aber nur unter der Bedingung, daß das hingehaltene Bünden in keiner Weise gegen Euch und Frankreich eingenommen und aufgestachelt werde. – Ihr lächelt, gnädiger Herr! – In der Tat, wer in Bünden sollte es wagen gegen das mächtige Frankreich sich zu verschwören oder gar mit offener Gewalttat zu erheben! Gewiß keiner, Ihr habt recht, wenn nicht vielleicht jener Heillose – Euer Schützling, Georg Jenatsch.« [...]
Nur um Eines bitte ich Euch, flehe ich Euch an: Wenn Ihr an meine Ergebenheit glaubt, – hütet Euch vor Georg Jenatsch.« Kaum war das Wort ausgesprochen, so klirrten rasche Tritte im Vorsaal und der Genannte trat mit dem Adjutanten Wertmüller in das Gemach, wo eben noch edelmütige Größe und menschenverachtender Scharfsinn über ihn zu Gerichte gesessen und um ihn gestritten hatten. Jenatsch sah finsterer als je und tief bewegt aus. Den Provveditore, der ihm zunächst stand, bedachte er mit einem untertänigen Gruße und einem Blicke voll tödlichen Hasses, welchem dieser mit vornehmer Ruhe begegnete. Dann trat er raschen Schrittes vor den Herzog. Er schien in leidenschaftlichem Dankgefühle seine Kniee umfassen zu wollen; aber er ergriff nur Rohans Hand und ließ, das gesenkte Auge verbergend, eine heiße Träne auf dieselbe fallen. Der kalte Grimani, dem diese glühende Bewegung einen widerwärtigen Eindruck machte, brach zuerst das Schweigen und bemerkte mit scharfer leiser Stimme: »Vergeßt nie, Signor Jenatsch, daß Ihr nicht der Güte Eurer Sache, sondern nur und allein der Fürsprache dieses hohen Herrn Euer verwirktes Leben verdankt.« [...]

Lucretia trifft Jenatsch als Gefangenen an
Lucretia hatte im Hintergrunde der Laube den Auftritt mit laut klopfendem Herzen angesehen. Konnte sie Georg retten? Wollte, durfte sie es?... Hinter ihr stand Wertmüller, dessen angriffslustige Ungeduld sie fühlte und den sie leise den Hahn seines Pistols spannen hörte. Lucretia erhob sich und schritt, von einer unwiderstehlichen Macht gezogen, langsam vor. Bei des Spaniers letzten Worten stand sie zwischen ihm und dem an einen steinernen Stützpfeiler der Laube geschnürten Gefangenen. In diesem Augenblicke flog eine Handvoll Kot und Steine von einer lachenden Kropfgestalt geworfen an die blutende Stirne des Gefesselten, aber seine Miene blieb stolz und ruhig, nur seine Lippen bewegten sich flüsternd:»Lucretia, deine Rache vollzieht sich!« klang es in romanischen Lauten, ohne daß sein Blick sich nach ihr gewendet hätte. »Sennor«, redete die Bündnerin den spanischen Hauptmann mit fester Stimme an, »ich bin Lucretia, die Tochter jenes Planta, den Georg Jenatsch erschlagen hat. Ich habe seit dem Tode meines Vaters keinen liebern Gedanken gehabt als den der Rache; aber in diesem Manne hier erkenne ich den Mörder meines Vaters nicht.« Der Spanier richtete seinen bösen Blick erst fragend und dann höhnisch auf sie, aber Lucretia beachtete ihn nicht. Schon hielt sie ihren kleinen Reisedolch in der Hand und begann ohne Zögern die Bande des Gefangenen zu durchschneiden. Was jetzt um sie vorging, traf ihre Sinne kaum. Sie vernahm noch den raschen Befehl Wertmüllers an Lucas: »Pferde vor!« gewahrte noch, wie der Locotenent dem Spanier mit dem Pistol in der Hand entgegentrat und dieser den Degen aus der Scheide riß. Dann wurde sie rasch aufs Pferd gehoben, das, Musketenschüsse hinter sich hörend, in wilden Sprüngen sie von dannen trug und in jagendem Laufe an der Festung Fuentes vorüber der Straße nach Chiavenna folgte. Auf dem staubigen Heerwege sprengte sie vorwärts, mit Mühe sich auf dem erschreckten Pferde haltend und doch angstvoll zurücklauschend, ob ihr Freund oder Feind nacheile. Noch fielen, schon aus der Ferne, vereinzelte Schüsse, sonst hörte sie nichts als das Schnauben und den Hufschlag ihres eigenen Tieres. Endlich brauste Galopp hinter ihr und schon ritt an ihrer rechten Seite, zerrissen und blutig, aber in hellem Übermute Georg Jenatsch, hinter welchem, ihn mit grimmer Miene umfassend, der alte Lucas zu Rosse saß. Zu des Fräuleins Linken schnaubte einen Augenblick später ein zweites Roßhaupt und über demselben grüßte das aufgeregte Gesicht des kleinen Locotenenten, der den Rückzug gedeckt hatte und von der Rolle, die er gespielt, höchlich befriedigt schien. [...]

Lucretia wieder in der Heimat
Sie lebte in einem traumartigen Glücke unter dem Zauber ihrer Berge und ihrer Jugendliebe, den sie furchtsam sich hütete, mit einem an die grausame Gegenwart erinnernden Worte zu zerstören. [...]
Lucretia kniete nieder und bemühte sich mit der hohlen Hand einen Trunk daraus zu schöpfen. »Ich muß doch sehen«, sagte sie, »ob das bündnerische Bergwasser noch so gut schmeckt wie in meiner Jugend!« »Nicht!« warnte Jenatsch. »Ihr seid der eiskalten Quellen entwöhnt! Hätt' ich ein Becherlein, so mischt' ich Euch einen gesunden Trunk mit ein paar feurigen Weintropfen aus meiner Feldflasche.« Da blickte ihn Lucretia liebevoll an, holte aus ihrem Gewande einen kleinen Silberbecher hervor und ließ ihn in seine Hand gleiten. – Es war das Becherlein, das ihr einst der Knabe zum Gegengeschenk für ihre kecke kindliche Wanderfahrt nach seiner Schule in Zürich gemacht und das sie nie von sich gelassen hatte. Jürg erkannte es sogleich, umfing die Knieende und zog sie mit einem innigen Kusse an seine Brust empor. Sie sah ihn an, als wäre dieser einzige Augenblick ihr ganzes Leben. Dann brachen ihr die Tränen mit Macht hervor. »Das war zum letzten Male, Jürg«, sagte sie mit gebrochener Stimme. »Jetzt mische mir den Becher, daß wir beide daraus trinken! Zum Abschiede! Dann laß meine Seele in Frieden!« [...]
Hüte dich vor mir, Geliebter! Kreuze nie meinen Weg! Störe nie meine Ruhe!« [...]
Seit Jenatsch die Tochter des Herrn Pompejus bei der Herzogin wieder gesehen, war die in den Wagnissen und Verwilderungen eines stürmischen Kriegslebens nie ganz vergessene Liebe seiner Kindheit flammend aus der Asche erstanden, und mit ihr ein trotziger Geist der Empörung gegen sein Schicksal. Mit einer Bluttat, die dem Jüngling als Vollstreckung eines gerechten Volksurteils erschienen war und die der jetzt Gereifte und Welterfahrne als eine unnütze Befleckung seiner Hände verwünschte, hatte es ihn für immer geschieden von einem großen und hilfreichen Herzen, das von jeher sein eigen war. [...]

Rohan und Jenatsch
Noch nie hatte Rohan einen so genialen Feldherrnblick bewiesen wie jetzt auf diesem von tiefen Talschluchten zerrissenen und von Gletscherbergen eingeengten, schwer zu übersehenden Kriegsfelde. Seinem raschen unfehlbaren Eingreifen kam seine bewundernswerte Ausdauer gleich und eine ascetische Natur von seltener Bedürfnislosigkeit zu Hilfe. Er war im Stande vierzig Stunden lang angespannt tätig zu sein, ohne der Erfrischung des Schlafes zu bedürfen. So eilte er in der Mitte zwischen zwei gegen ihn vordringenden Heeren, deren jedes dem seinen fast doppelt überlegen war, talauf-, talabwärts und warf sich jetzt dem einen, dann, die Stirne wendend, dem andern entgegen, immer siegreich, bis er sie beide, Spanier und Österreicher, vom Bündnerboden verdrängt hatte und das ganze langgestreckte Tal der Adda, das seit Jahrzehnten herrenlose und streitige Veltlin, in der Gewalt seiner Waffen war. Bei dem dritten dieser Siege, der Schlacht in Val Fraele, grenzte die Ungleichheit des Verlustes an das Unglaubliche. Der Herzog büßte nach seinem eigenen Zeugnisse nicht sechs Mann ein, während zwölfhundert Feinde auf der Walstatt blieben. Es gibt nur eine Erklärung für eine so ungleiche Verteilung der Todeslose: der französische Feldherr hatte vor den Österreichern die vollkommene Kenntnis dieser verlorenen Hochtäler voraus. Rohan hatte Bündner neben sich, die das Bergland wie die mit Arvholz getäfelte Stube ihres Vaters und das Stammwappen über dem Haustore kannten, und keiner war mit Bündens Bergen vertrauter als Georg Jenatsch. In dem Schreiben, das der Herzog über diesen Sieg an die bündnerischen Behörden richtete, hebt er die Tapferkeit des Obersten Jenatsch und des von ihm geführten heimischen Regimentes mit dem wärmsten Lobe hervor. Diese schrankenlos erscheinende und doch besonnene Tollkühnheit, die schwer glaubliche Sage der frühern Volkskämpfe im Prätigau, wurde jetzt von dem geschulten französischen Heere und besonders von dem respektlosen Locotenenten mit kritischen Augen gemessen und aufrichtig bewundert. Überhaupt stieg Georg Jenatsch unaufhaltsam in der Achtung und im Vertrauen des Herzogs und wurde, ohne daß Rohan selbst sich dessen bewußt war, sein am liebsten gehörter Ratgeber. Versammelte der Feldherr in Fällen, wo sich Kühnheit und Vorsicht bestreiten mochten, einen Kriegsrat, so trieb Jenatsch immer zu den gewagtesten Angriffen und beanspruchte für sich selbst den gefährlichsten Posten; aber seine Ratschläge bewährten sich und seine Verwegenheiten mißglückten nie, denn die Gunst des Schicksals war mit ihm. [...]
So trat er dem Herzog immer näher, der sich freudig bewußt war, diesen bedeutenden Geist aus schmählichem Dunkel gezogen und durch seinen Einfluß entwickelt zu haben. Oft mußte Rohan sich wundern, wie willig und streng der unbändige Grisone der Kriegszucht sich unterwarf und, was er ihm ebenso hoch anrechnete, mit welch unbedingtem Vertrauen der vormalige bündnerische Volksführer jede besorgnisvolle Äußerung über das letzte Ergebnis des Krieges und die Zukunft Bündens unterließ, ja vermied. [...]
Der ungeheure Summen verschlingende Krieg in Deutschland hatte den französischen Schatz erschöpft. Die Sendungen des Schatzmeisters an Herzog Rohan flossen schon lange spärlich und blieben jetzt aus, es war diesem seit einiger Zeit nicht mehr möglich, seine Bündnertruppen zu besolden. Freilich teilten die französischen Regimenter dasselbe Los. Man schien am Hofe zu St. Germain des Glaubens zu leben, die Ehre unter dem ruhmreichen Feldherrn zu dienen ersetze dem Soldaten Nahrung und Kleidung. Rohan sandte Schreiben auf Schreiben und erhielt als Antwort Versprechen auf Versprechen. Die Erhebung einer neuen Kriegssteuer in Frankreich, so schrieb man dem Herzog aus St. Germain, sollte dem Mißstande nächstens ein Ende machen. Welche Hemmungen und Säumnisse also das Werk des Herzogs erfuhr durch den Menschen und Dingen inwohnenden Widerstand gegen gerechte, einen selbstsüchtigen Interessenkreis durchbrechende Lösungen, – nun stand er hart vor seinem Ziele und die Bündner erreichten, dank der ihnen von Rohan auferlegten Mäßigung, die Befreiung ihres Landes. Da plötzlich verbreitete sich zur Zeit der fallenden Blätter eine unheimliche Botschaft durch die bündnerischen Täler. Der gute Herzog, hieß es, weile nicht mehr unter den Lebenden. Er sei in seinem Palaste zu Sondrio einem Sumpffieber zum Opfer gefallen. Schon habe ein Bote das Stilfserjoch überschritten und sei nach Brixen geeilt, um die Spezerei zur Einbalsamierung seines Leichnams zu holen. Dieses Gerücht erschreckte die Gemüter, wo es hingelangte. Man ward sich plötzlich sorgenvoll bewußt, was alles an diesem edeln Leben hing. Wie in den Bergen, wenn eine Wolke vor die Sonne gleitet, die Landschaft mit einem Schlage dunkel wird und zugleich in ihren einzelnen schroffen Zügen schärfer hervortritt, so erschien den Bündnern, als sie den Herzog sich hinwegdachten, die unsichere Abhängigkeit und die Gefahr ihrer Lage mit drohender Deutlichkeit. [...]
Ich verbürge mich euch mit schriftlichem Kontrakt für die ganze Summe, die euch der Herzog schuldet. Ihn sollt ihr mir heute nicht belästigen, denn er ist müde und krank. Zur gelegenen Stunde werde ich beim Herzog für euch reden und auch für mich, denn eure Sache ist die meinige und ich werde zum Bettler, wenn sie scheitert.« [...]
Jenatsch brannte vor Begierde zu erfahren, ob der von ihm mit rastloser Anstrengung in Bünden durchgesetzte Vertrag in St. Germain durch die Unterschrift des Königs endgültig geworden sei; aber diesem Antlitze gegenüber hatte der sonst vor nichts Zurückschreckende keinen Mut zur Frage. Er begnügte sich auf des Herzogs Erkundigung zu antworten und ihm einen genauen Bericht über die Feststellungen der Grenze zwischen Tirol und Unterengadin zu geben, wie sie während des Waffenstillstandes gelten sollten. »Die Österreicher sind langsam und umständlich; ich wurde hingehalten und bis nach Innsbruck gezogen«, sagte er. »Wär' ich im Lande gewesen, niemals hätten mir meine störrischen Kameraden ohne Euren Befehl, erlauchter Herr, ihre Posten verlassen, niemals Euch in Thusis als erste Begrüßung den widerwärtigen Anblick ihres Ungehorsams entgegengebracht. Einen schlimmern Ausbruch vor Euern Augen«, schloß der zögernd, »habe ich nur mit Mühe verhütet und indem ich mich, da mir kein anderes wirksames Mittel mehr zu Gebote stand, meinen Kameraden mit Hab' und Gut für den rückständigen französischen Sold verbürgte. Ich hoffe, daß Ihr mir meine ungemessene Ergebenheit nicht verargen werdet!« fügte er schmeichelnd hinzu. Der Herzog lehnte, zusammenzuckend, tiefer in die Kissen zurück und der schmerzliche Zug in seinem Angesichte trat schärfer hervor. Es durchblitzte ihn der Gedanke, welche gefährliche Gewalt in die Hand des Menschen falle, dem er einen so unerhörten, von ihm nie begehrten Dienst schulde. Aber er hielt an sich. »Ich danke Euch, mein Freund«, sagte er, »Ihr sollt nicht zu Schaden kommen, so lange ich selber noch etwas besitze. Ich fürchte, Lasnier, den ich zur Beruhigung der Obersten mit Geldern an sie voraussandte, hat im Verkehr mit ihnen nicht den rechten Ton getroffen.« [...]
Der Vertrag von Chiavenna ist von Paris zurückgekommen ohne Unterschrift und mit Änderungen, die ich nicht billige, die ich Eurem Volke nicht zumuten und nicht vorschlagen will.« Bei diesen traurig und leise gesprochenen Worten sah der Herzog dem Bündner in das ausdrucksvolle Gesicht, wie nach der Wirkung des ungern gemachten Geständnisses forschend. Es blieb unbewegt, aber überzog sich langsam mit fahler Blässe. »Und welches sind diese Änderungen, gnädiger Herr?« fragte Jenatsch nach kurzem Schweigen. »Zwei Hauptpunkte: Französische Besatzungen in der Rheinschanze und im Veltlin bis zum allgemeinen Frieden und für die in diesem katholischen Landesteile begüterten protestantischen Bündner Beschränkungen ihres dortigen Aufenthalts auf jährlich zwei Monate.« Ein unheimliches Wetterleuchten flog durch die Züge des Bündners, dann sagte er fast gelassen: »Das eine ist unsre politische Auslieferung an Frankreich, das andere ein unerträglicher Eingriff in die Verwaltung unseres Eigentums. Beides sind unmögliche Bedingungen.« [...]
Beruhigt Eure Landsleute. Ich sehe, welche außerordentliche, ja wunderbare Macht Ihr auf die Gemüter ausübt. Schaffet Frist! Haltet den Glauben an Frankreich aufrecht! Versichert Eure Bündner, daß der Vertrag von Chiavenna, wenn auch heute noch nicht verkündet, doch in Bälde in Kraft treten muß, und Ihr werdet bei der Wahrheit bleiben, denn mit Gottes Hilfe überwinden wir die Widerwärtigen. – Heute nacht noch zieh' ich weiter nach Chur. Bringt mir dorthin bald über die Stimmung des Landes Bericht.« Jenatsch bückte sich tief über die Hand des Herzogs und suchte dann noch einmal sein Auge mit einem Ausdruck sprachlosen Schmerzes. Rohan sah in diesem langen seltsamen Blicke die Teilnahme eines Getreuen an seinem ausnahmsweise herben Lose, er ahnte nicht, welche Wandlung sich im Geiste des Bündners zu dieser Stunde vollzog und daß Georg Jenatsch nach innerm schweren Kampfe sich von ihm lossagte. [...]
Der Herzog war blöde genug zu meinen, der Kardinal anerkenne die Gültigkeit des von dem Mächtigen einem Schwachen gegebenen Wortes! Er war töricht genug zu wähnen, ein zu Gunsten der Hugenotten im Bürgerkriege gezogenes Schwert könne jemals von Richelieu vergeben und vergessen werden, sei möglich durch ruhmreiche Dienste den Haß des mächtigen Ministers auszulöschen!... Er war so blind, nicht einzusehen, daß gerade seine zu Frankreichs Ehre verrichteten Heldentaten für den Eifersüchtigen ein Grund mehr waren, ihn zu beargwöhnen und ihn aufzuopfern! Wohin aber war es gekommen mit diesem christlichen Ritter? Er stand am Rande des Abgrundes, ein verlorener Mann!... Und Jenatsch haßte ihn zu dieser Stunde darum, daß er ein Betrogener und Besiegter war. [...]
Vielleicht war noch Rettung möglich! Weg jetzt mit jedem hemmenden Bedenken, mit allen Banden der Dankbarkeit, mit allen Berückungen der Liebe, mit jeder Eigensucht eines rein gehaltenen Charakters! Hinunter mit der Vergangenheit! Weg die Fesseln ihrer liebgewordenen Überzeugungen und Vorurteile! Gelöst werde jeder Zusammenhang des Dankes und der Treue! – Jetzt vertiefte sich Jenatsch mit einem durch das Gefühl der Gefahr geschärften Geiste in die Schlangenwege und Berechnungen der französischen Politik. – Eine Befürchtung, die Rohan ihm preisgegeben, ließ ihn einen Schlüssel finden zu den Gedanken des Kardinals. »Es ist nicht anders«, sagte er zu sich, »Richelieu überläßt uns seinen protestantischen Feldherrn, so lange der selbst Getäuschte auch uns aufrichtig zu täuschen vermag. – Stirbt des Herzogs Glaube oder unser Glaube, so ruft er ihn plötzlich ab und ersetzt den christlichen Worthalter durch einen Soldaten, der seine Kreatur ist... Ich aber will Fuß fassen auf dieser hugenottischen Ehre! Ich stelle mich auf diesen Felsen. Ich halte es fest dieses gute französische Pfand!«... und er schloß die eiserne Faust. Er sann nach, wie das möglich wäre, – und es trat ein Judasgedanke aus seiner Seele und stand plötzlich in so naher Häßlichkeit vor seinem Angesichte, daß ihn schauderte. Aber er sagte sich mit einem sichern Lächeln: »Der gute Herzog wird mich nicht durchschauen wie sein Gott den Judas.« Rasch wandte er den Blick weg von dem Verrate an diesem Reinen; er konnte ihn vollbringen, aber nicht betrachten. Hinüber richtete er das Auge nach dem fernen Frankreich und er forderte den großen Kardinal zum Zweikampf in die Schranken seines Berglandes, Mann gegen Mann, List gegen List, Frevel gegen Frevel.
C.F.Meyer: Jürg Jenatsch

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