25 Juli 2013

George, der Film, oder die Gnade der späten Geburt

Man mag gegen das Wort von der Gnade der späten Geburt so viel sagen, wie man will: Götz George ist es gelungen, sie einem mit dem Film "George" vor Augen zu führen.
Es ist immer ein schweres Schicksal, der Sohn eines großen Mannes zu sein und seine Begabung gerade auf dem Feld zu sehen, auf dem er unübertrefflich scheint.
Aber schwer bestraft zu werden für eine Schuld, die man einsieht, ohne die Strafe als verhältnismäßig anerkennen zu können? Und das im Vergleich dazu, dass man nach einem großen Lebenswerk noch mit 75 Jahren die Gelegenheit nutzen kann, die Ungerechtigkeit posthum etwas aufzuheben, obwohl doch einmal galt: "Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze."?

Mehr zum Film im obigen Link.

23 Juli 2013

Klassikerjahr 1867, Urheberrecht und OER

Als Klassikerjahr bezeichnet man 1867, weil am 9.11.1867 die Urheber- und Verlagsrechte der vor dem 9. 11. 1837 verstorbenen Autoren in den meisten deutschsprachigen Ländern ausliefen.
Dabei war ein allgemeines Urheberrecht im Deutschen Bund erst 1837 beschlossen worden und galt zunächst nur bis 10 Jahre nach Erscheinen des Werkes, 1848 wurde es auf 30 Jahre nach dem Tod des Verfassers ausgedehnt. (Die heutige Regelung in Deutschland - 70 Jahre nach dem Tod des Verfassers - ist verhältnismäßig neu.)

Meine Informationen beziehe ich aus der Verlagsgeschichte des Reclam-Verlages (genauer: der 125 Jahre der Reclam Universal-Bibliothek*) von 1992 und verschiedenen Wikipediaartikeln, besonders dem zur Geschichte des Urheberrechts.
*(eine Besonderheit: In Japan wurde 1927 der Gedanke einer Universal-Bibliothek in Reclams Sinne aufgegriffen.)

Er wird baldmöglichst fortgesetzt. Bis dahin kann man sich mit der Wikipedia behelfen.

Was dort fehlt, ist der Hinweis darauf, dass der 9.11. schon vor der Revolution von 1918, dem Hitlerputsch,  der Reichpogromnacht 1938 und der Öffnung der Mauer 1989 ... ein deutscher Schicksalstag war, außerdem die Bezeichnung Klassikerjahr und der ausdrückliche Bezug auf den Norddeutschen Bund, der am 16.4.1867 begründet wurde, seinerseits freilich erst 1870 ein Urheberrechtsgesetz beschloss. Aber ohne ihn wäre es dem Börsenverein der Deutschen Buchhändler gewiss nicht gelungen, ein einheitliches Auslaufen der Urheberrechte der Klassiker zu organisieren.
Bisher ist mir noch ein Rätsel, warum man auf den Stichtag 9.11.1837 kam, denn kein Klassiker ist zu diesem Zeitpunkt oder kurz davor gestorben. Georg Büchner, der vom Rang her gewiss, vom Selbstverständnis und aus der Sicht seiner Zeitgenossen aber gar kein Klassiker war, starb schon am 19.2.1837.

Merkwürdiges: Dampfmaschine und Buchautomaten bei Reclam
Der Verlag zog 1905 in das neue Verlagsgebäude im Graphischen Viertel in Leipzig. Die hauseigene Dampfmaschine erzeugte dabei unter anderem die Energie für die über 40 Schnellpressen der Druckerei. 1908 erschien die 5000. Nummer der Universal-Bibliothek.
1912 setzte der Verlag erstmals Buchautomaten für den Verkauf ein. Die Automaten stellten sich als Verkaufserfolg heraus, und bald waren über 2000 von ihnen in Bahnhöfen, auf Schiffen, in Krankenhäusern und in Kasernen zu finden. (Reclam-Verlag, Wikipedia)

12 Juli 2013

Die Prinzessin trifft Viktor - ein prosaisches Schauspiel im "Hesperus"

Ich bin aber zum Glück darauf gekommen, die Übergabe unter der poetischen Einkleidung einer historischen Benefizkomödie mit derjenigen Würde abzumalen, die Theater geben. Ich habe dazu soviel und mehr Einheit des Orts – (drei Zimmer) –, der Zeit – (den Vormittag) – und des Interesse – (den ganzen Spaß) – in Händen, als ich brauche. Und wenn ein Autor noch dazu – das tu' ich – vorher die betrübtesten ernsten Werke durchlieset, Youngs Nachtgedanken – die akatholischen gravamina der Lutheraner – den dritten Band von Siegwart – seine eignen Liebebriefe; ferner wenn er sichs noch immer nicht getrauet, sondern gar vorher Homes und Beatties treffliche Beobachtungen über die Quellen des Komischen vor sich legt und durchgeht, um sogleich zu wissen, welchen komischen Quellen er auszuweichen habe: so kann ein solcher Autor schon ohne Besorgnis der Prahlerei seinen Lesern die Hoffnung machen und erfüllen, daß er, des Komischen sich so komisch erwehrend, vielleicht nicht ohne alle Züge des Erhabnen liefern und malen werde folgende historische Benefizkomödie von der Übergabe der Prinzessin, in fünf Akten (Das halbe Wort Benefiz bedeutet bloß den Nutzen, den ich selber davon habe.) Erster Akt. Unter drei Zimmern ist das mittlere der Schauplatz, wo man spielt, der Handelsplatz, wo man auslegt, der Korrelationsaal (regensburgisch zu reden), wo alles Wichtige zeitigt und reift – hingegen in dem ersten Nachbar-Zimmer steckt der italienische, im zweiten der flachsenfingische Hofstaat, und jeder erwartet ruhig den Anfang einer Rolle, für die ihn die Natur geschaffen. Diese zwei Zimmer halt' ich nur für die Sakristeien des größten. Das Mittelzimmer, d. h. sein Vorhang, der aus zwei Flügeltüren gemacht ist, geht endlich auf und zeigt dem Associé Sebastian, der aus seinem Laden neben der katarrhalischen Firma hereinguckt, viel. Es tritt auf an der Türe der Kulisse No. 1 ein rotsamtner Stuhl; an der Türe der Kulisse No. 2 wieder einer, ein Bruder und Anverwandter von jenem; es sind diese Duplikate die Sessel, worin sich die Prinzessin setzt im Verfolge der Handlung, nicht weil die Müdigkeit, sondern weil ihr Stand es ausdrücklich begehrt. Mitten im Handeln ist schon ein langer befranster Tisch begriffen, der das Mittelzimmer, das selber ein Abteilzeichen der zwei Kulissen ist, abteilt in zwei Hälften. Man sollte nicht erwarten, daß dieser Sektiontisch sich seines Orts wieder von etwas werde halbieren lassen, was ein Dummer kaum sieht. Aber ein Mensch trete in Viktors Laden: so wird er einer Seidenschnur ansichtig, die, unter dem Spiegeltisch anfangend, über den Achatboden und unter dem Partage-Tisch wegstreichend, aufhört vorn an der Türschwelle; und so teilt ein bloßer Seidenstrang leicht den Abteiltisch und dadurch das Abteilzimmer und am Ende die Abteilschauspielergesellschaft in zwei der gleichsten Hälften – lasset uns daraus lernen, daß am Hofe alles tranchiert wird, [...]
Darauf wurden Reden gelispelt – vom italienischen Minister zwei – vom flachsenfingischen (Schleunes) auch zwei – von der Braut keine, welches eine kürzere Art, nichts zu sagen, war als der Minister ihre. – – Da wahrlich jetzt dieser erhabne Akt aus wäre, wenn ich nichts sagte: so wird mir doch nach vielen Wochen einmal erlaubt sein, ein Extra-Blättchen zu erbetteln und anzuhenken und darin etwas zu sagen. [...]
Ein Despot ist die praktische Vernunft eines ganzen Landes; die Untertanen sind ebenso viele dagegen kämpfende Triebe, die überwunden werden müssen. Ihm gehört daher die gesetzgebende Gewalt allein (die ausübende seinen Günstlingen); – schon bloße gescheite Männer (wie Solon, Lykurg) hatten die gesetzgebende Gewalt allein und waren die Magnetnadel, die das Staatschiff führte; ein Despot besteht, als Thronfolger von jenen, fast aus lauter Gesetzen, aus fremden und eignen zugleich, und ist der Magnetberg, der das Staatschiff zu sich bewegt. – »Sein eigner Sklave sein, ist die härteste Sklaverei«, sagt ein Alter, wenigstens ein Lateiner; der Despot fodert aber von andern nur die leichtere und nimmt auf sich die schwerere. – [...]
Ein Republikaner im edlern Sinn, z. B. der Kaiser in Persien, dessen Freiheitmütze ein Turban und dessen Freiheitbaum ein Thron ist, ficht hinter seiner militärischen Propaganda und hinter seinen Ohnehosen mit einer Wärme für die Freiheit, wie sie die alten Autores in den Gymnasien fodern und schildern. Ja wir sind nie berechtigt, solchen Thron-Republikanern Brutus-Seelengröße früher abzusprechen, als man sie auf die Probe gesetzt; und wenn in der Geschichte das Gute mehr aufgezeichnet würde als das Schlimme, so müßte man schon jetzt unter so vielen Schachs, Khans, Rajahs, Kalifen manchen Harmodion, Aristogiton, Brutus etc. aufzuweisen haben, der imstande war, seine Freiheit (Sklaven kämpfen für eine fremde) sogar mit dem Tode sonst guter Menschen und Freunde zu bezahlen. – [...]
Aber zum Glück wird uns die Leidengeschichte jener weiblichen Opfer nie vorgelesen, deren Herzen zum Schlagschatz und, wie andre Juwelen, zu den Throninsignien geworfen werden, die als beseelte Blumen, gesteckt an ein mit Hermelin umgebnes Totenherz, ungenossen zerfallen auf dem Paradebett, von niemand betrauert als von einer entfernten weichen Seele, die im Staatskalender nicht steht... 
[...]  überhaupt gleicht diese Komödie dem Leben eines Kindes – im ersten Akt war Hausrat-Besorgung für das künftige Dasein – im zweiten Ankommen im dritten Reden – im vierten Gehenlernen u. s. w. [...]
Im fünften Akt, den ich ohne alle Lust mache, wurd' auch weiter nichts getan – anstatt daß Tragödiensteller und Christen die Bekehrung und alles Wichtige in den letzten Akt verlegen, wie nach Bako ein Hofmann seine Bittschriften in die Nachschrift verschob –, als daß die Prinzessin ihre neuen Hofdamen das erste Rechen- oder Abziehexempel ihres Erzamtes machen ließ: das nämlich, sie auszukleiden.... Und da mit dem Auskleiden sich die fünften Akte der Trauerspiele – der Tod tuts – und der Lustspiele – die Liebe tuts – beschließen: so mag sich auch dieses Benefizding, das wie unser Leben zwischen Lust- und Trauerspiel schwankt, matt mit Entkleidung enden.

09 Juli 2013

"Beide wurden weggegeben."

Der Wirt von Timberlake berichtet. Er stammt aus der Gegend von Bismarck, seine Eltern waren Deutsche.
"Beide wurden weggegeben." Das heißt: Sie wurden als Kinder weggegeben, weit weg von daheim im eben arbeitsfähigen Alter. Außerstande, sie alle zu füttern, gingen die ärmsten der Siedler dazu über, ihre hungrigen Mäuler auszusiedeln [...]
Ich dachte, wer über die Härte des amerikanischen Fegefeuers nicht reden will, sollte von den bunten Freuden des melting pot schweigen.
Wolfgang Büscher: Hartland. Zu Fuß durch Amerika, Kapitel Der Junge mit dem Revolver, S.70/71

08 Juli 2013

Die Wortfährte "Hartland"

"Big hatte viel geredet, aber mir nichts über Hartland gesagt. Das mußte er auch nicht. Er hatte mir geraten, die Wortfährte zu lesen, und sie war deutlich genug. Die Spur im Schnee, die von Herzland nach Hartland führte, war die der zerbrochenen amerikanischen Träume."

Büscher: Hartland, S.37

Eine sehr schöne Vorstellung des Buches von buchpost findet man hier. Meine Kurzbeiträge zu einzelnen Kapiteln unter dem Label Hartland.

06 Juli 2013

Sabine Friedrich: Wer wir sind - Widerstand gegen das NS-Regime und seine biographischen Hintergründe

Erweiterte Fassung des Artikels vom 15.6.13

Man kann Friedrichs Buch "Wer wir sind" als Ergänzung der Filmreihe "Unsere Mütter, unsere Väter" sehen, weil sie weitere Milieus aus der Zeit der NS-Herrschaft menschlich nahe zu bringen versucht.

Sabine Friedrich selbst hat ihren Roman in einem Interview, wie folgt, charakterisiert:
Wuttke: Diese Lebenserinnerung, die Sie gerade geschildert haben, verstehen Sie deshalb Ihren Roman als einen Wirklichkeitsentwurf, oder als Zeitpanorama?
Friedrich: Ach wissen Sie, das sind Fragen, die sind schwierig zu beantworten. Es ist auf jeden Fall natürlich ein Zeitpanorama, das ist klar. Ich habe versucht, möglichst nahe auch an der Atmosphäre dran zu bleiben. Aber jeder Roman ist ein Wirklichkeitsentwurf, das kann gar nicht anders sein, zumal ein Roman, der ja mit dem Interesse geschrieben worden ist: mein erstes Interesse, daher der Titel, war ja, etwas herauszufinden darüber, wie Menschen sich verhalten in extremen Situationen und was sie dazu bringt, dann so oder so zu handeln, also was sie verkürzt gesagt zu Widerständlern macht. Ist das eine große Entscheidung, ist das eine Summierung vieler kleiner Entscheidungen, die einen plötzlich dort hinträgt, dass man sagt, das ist jetzt die Todeszelle von Plötzensee.    dradio, 11.10.2012
Dazu:
eine lobende Rezension, eine recht kritische, die Lesung eines Textausschnitts durch Sabine Friedrich.

Ich selbst kann nach meiner bisherigen Lektüre nur sagen: Ich freue mich  - ganz unabhängig von einem literarischen Urteil - darüber, dass ich Personen, die ich bisher aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen kenne, in einen  Kontext gestellt sehe, und mag es gar nicht, darüber zu lesen, wenn sie leiden müssen.
So beklage ich mich gar nicht über mangelnde Ausmalung der Unerträglichkeit mancher Situation.
Dass ich besonders über die Familie Bonhoeffer nicht genug lesen kann, hat persönliche Gründe.

John Rittmeister, Mitglied der Roten Kapelle*, entdeckt für sich in der Todeszelle die "Unendlichkeitsperspektve" (S.738)
"Seit ich die Dinge aus dieser Todesperspektive betrachte, denke ich ganz Unerhörtes. Ich fühle mich innerlich reicher als je zuvor. Was einem alles nimmt, macht einen reich. [...] Ich würde natürlich gern leben bleiben. Aber auch wenn ich sterbe, nehme ich nun alle diese Dige, die ich vorher gar nicht besessen habe, mit in den Tod hinein." (S.738)

*"Das von der Gestapo geschaffene Organisationskonstrukt Rote Kapelle hat in dieser Form nie existiert.“(Wikipedia)

In Oxford: Sabine Bonhoeffer-Leibholz' Töchter bitten um Geld für eine Sammelaktion in der Schule. "Und welchem guten Zweck sollen die Einnahmen dienen? Der Bombardierung Berlins." Dort erlebt Sabines Bruder Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis in Tegel die Luftangriffe. (S.860)

Kreisauer KreisHelmuth James Graf von MoltkeLöwenberger ArbeitsgemeinschaftEugen Rosenstock-Huessy,  Freya von Moltke, geb. Deichmann

Preußenschlag (S.1000)
Hans von Dohnanyi warnte davor, ihn rechtlich anzufechten: "Die Regierung Papen hat sich des verfassungsmäßig korrekten Instruments der Reichsexekution* bedient [...]" (S.1001)

*Die Verfassungsmäßigkeit der jeweiligen Maßnahmen ist bis heute umstritten. Ein Ausnahmezustand nach Art. 48WRV wäre nur durch die Bedrohung der Verfassung selbst zu rechtfertigen – jedoch wurden in Sachsen, Thüringen und Preußen jeweils demokratisch gewählte Regierungen abgesetzt, die sich zu keinem Zeitpunkt in offener Rebellion gegen die Weimarer Reichsverfassung befanden. (Wikipedia)

Julius Leber (S.1003ff), Carlo Mierendorff (S.1012ff), Adolf Reichwein (S.1022ff)
Bund der KöngenerHarald Poelchau  (S.1036) [Er half u.a. Konrad Latte.]

Helmuth v. Moltkes positive Staatslehre (S.1250ff) Über den Kreisauer Kreis: "Sie sind keine Verschwörer. [...] Ihre Treffen basieren auf alten Freundschaften, gemeinsamer Schulzeit, beruflichen und verwandtschaftlichen Beziehungen." (S.1269)
Einigkeit über den anzustrebenden Staat: "demokratisch und sozialistisch und außenpolitisch auf eine völkerverbindende Friedensordnung ausgerichtet" (S.1276)
Grundsatztexte des Kreisauer Kreisesallgemeine Prizipien (S.1519)
Julius Leber über den Kreisauer Kreis (in Friedrichs Darstellung): "Aber sie sind recht abgehoben, diese Leute. Sie brüten über detaillierten Programmen von solch verworrener Gründlichkeit, dass man sich fragt, wer außer ihnen sich jemals damit beschäftigen soll." (S.1519)
Hans Bernd von Haeften

Fritzi von Schulenburg an der Ostfront. "Fritzi hat alle Furcht überwunden: Todesfurcht, Tötungsfurcht, er ist ganz bei sich, wenn der Angriff beginnt." (S.1288)

Helmuth v. Moltke: "Wir tragen Verantwortung für uns selbst [...] Vor allem anderen müssen wir uns doch fragen, wer wir sind." (S.1315)
Erschießungen (S.1360-1369),
"Die Treue zu den Kameraden steht über jedem anderen Wert." (S.1371)
Moltke ist gegen ein Attentat, weil er eine Dolchstoßlegende fürchtet. Doch: "Es könnte sich ergeben, dass es eine Pflicht würde, das Attentat zu wagen." (S.1409)
"Es gab mehr als drei Dutzend dokumentierte Attentatspläne auf Hitler." (S.1413)
Henning von TresckowFabian von Schlabrendorff,
Russlandfeldzug (S.1447ff)
"Es ist noch nicht Juli, und der Raum ist schon jetzt unkontrollierbar." (S.1459)

4.Teil
Claus von Stauffenberg (S.1525), Bomben auf Berlin (S.1564ff), Axel von dem Bussche (S.1575),
S.1637 Sprüche Salomos 31, 10-31 über die gute Frau
S.1640 über das Wirklichwerden eines Stofftieres (Velveteen Rabbit) mit merklichen Parallelen zu  Als Hitler das rosa Kaninchen stahl, wenn man sich erst einmal darauf eingelassen hat, dass der Nationalsozialismus mit der Infektionskrankheit Scharlach zu vergleichen ist. Denn ist das rosa Kaninchen nicht eines der berühmtesten und damit lebendigsten der Welt? (Freilich weit abgeschlagen hinter Pu dem Bären)

Nach dem Einmarsch der Sieger  (S.1969ff)
Fabian von Schlabrendorff erklärt die Todesurteile gegen die Mitglieder der "Roten Kapelle" für rechtens (S.1991f)
Der  deutsche Bundesgerichtshof bestätigt 1956 die Urteile gegen Dohnanyi, Dietrich Bonhoeffer und Oster. (S.1992)
Widerständler, die dem NS-Terror entgangen sind, sterben in russischen Lagern (S.1994)
 Annedore Leber und Brandt verfassen "Das Gewissen steht auf" (S.1999)
Gründung der Stiftung Kreisau 1989 (S.2010)


04 Juli 2013

Marlitts Stärken

Die Fensterreihe im Erdgeschoß steckte hinter jenen dichten, bauchigen Eisengittern, die stets eine gewisse Achtung einflößen und erkennen lassen, daß es ihre Aufgabe sei, ansehnliche Vermögen und Wertgegenstände zu beschützen, zugleich aber auch deren gesichertes Vorhandensein verraten zu dürfen.
So plakativ die Gegenüberstellung von Reich und Arm sonst auch oft bei ihr sein mag, Marlitt versteht sich durchaus auf "Bilde, Künstler! Rede nicht!" Die "dichten bauchigen Eisengitter" rufen das Bild von mittelalterlichen Patrizierhäusern wach und das Gefühl der Notwendigkeit, dass sie in einer Zeit großer sozialer Unterschiede verteidigt werden müssen. Freilich, dass sie damit auch Reichtum zur Schau stellen, wird ausgesprochen, weil das beim Leser wohl nicht ohne weiteres assoziiert wird. Dafür spielt es in der Erzählung "Die Zwölf Apostel" von 1865, aus der das Zitat stammt, dann eine desto größere Rolle.

Ein zwanzigjähriger Mädchenkopf

[...] Bis ein zwanzigjähriger Mädchenkopf dem strengen Schicksal gegenüber mit sich selber fertig wird, dazu gehört viel, unaussprechlich viel. Aber sie hat sich ja doch hineingefunden.« [...]
[...] Was liegt daran, ob Sie die arme Magd des Amtmanns verachten oder nicht! Sie will nur für ein paar Menschen da sein – für sie ist die Beachtung von seiten anderer nur eine Pein.« [...]
Was gab jener Egoistin die Macht über den klaren Geist und das Lebensschicksal dieses wunderbaren Mädchens?... [...]
Wollte er es wirklich erleben, daß Amtmanns Magd in kurzen, dürren Worten erklärte, sie bedanke sich recht sehr dafür, Herrin im Hause Markus zu werden?

(Amtmanns Magd)

Versteckspiel

 Stumm reichte sie ihm den Brief hin. »Was der Tausend – er ist ja für mich!« rief er mit einem Blick auf die Aufschrift. »Von wem?« Sie bückte sich und nahm den Rechen auf. »Von deinem Herrn doch nicht?« forschte er weiter, da die Antwort nicht sofort erfolgte. »Ja, vom Amtmann,« bestätigte sie jetzt in der fast ängstlich knappen Redeweise, die er bereits an ihr kannte. Er wiegte lächelnd den Kopf. »Sieh, sieh, was der alte Herr für eine zierliche Damenhand schreibt!« »Das ist nicht seine Schrift – er leidet an Augenschwäche –« »Ach so, da hat er diktiert, und eine seiner Damen – wie ich vermute, das Fräulein Erzieherin – hat nachgeschrieben.« Er hielt die Aufschrift prüfend von sich ab. »Schöne, schlanke Züge, auf schneeweißem Papier, wie es sich für eine Dame gehört, die mit Küchengerät und Staubtuch rein gar nichts zu schaffen hat.« – Sie warf den Kopf auf, und er hoffte schon auf eine schneidige Antwort; aber umsonst, sie senkte das Kinn wieder auf die Brust und schwieg. »Du bist wohl für deine junge Dame sehr eingenommen?« fragte er, seine brennende Zigarre wieder zum Munde führend. »Ich glaube nicht!« versetzte sie und trat ein wenig zurück, als wolle sie den blauen Duftringeln ausweichen, die ihren Kopf plötzlich umschleierten. Lächerlich! Das Mädchen da, das in öffentlichen Vergnügungslokalen unter ihresgleichen den dicken Dampf unfeinen Knasters atmen mußte, tat verwöhnt und belästigt, als habe sie die feinsten Damennerven – sie kopierte höchst wahrscheinlich das Fräulein Erzieherin. Das ärgerte und reizte ihn – er tat nun erst recht ein paar kräftige Züge. »Du glaubst es nicht?« wiederholte er darauf. »Aber ihr vornehmes Wesen, gefällt dir trotz alledem, wie ich vermute – du möchtest wohl gar zu gern sein wie sie, nicht?« »Das wäre ein sonderbarer Wunsch –« »Ei warum denn? Die schönen Hände pflegen und sich im kühlen Zimmer bedienen zu lassen, ist doch tausendmal wünschenswerter, als ins Heu zu gehen und bei harter Arbeit von der Sonnenhitze ausgedörrt zu werden?« »Meinen Sie, das – das Fräulein arbeite nicht?« »Mein Gott, ja!« versetzte er in spöttischem Ton. »Ich bin sogar überzeugt, daß sie mit behandschuhten Händen sehr fleißig Feldblumen pflückt und sie als geschmackvolle Sträußchen für Albumblätter trocknet oder in Wasserfarben malt; sie wird Kanten sticken, schreiben und lesen und ihre Fingerübungen auf dem Klavier mit grausamer Pünktlichkeit zum Genuß aller nervengereizten Menschen herunterspielen. Nun, stimmt es!« »Zum Teil, ja!« bestätigte sie, wobei sie den Strohhut noch tiefer in die Stirn zog. Es waren hübsche, schlanke, aber tiefgebräunte Finger, die nach dem Hutrand griffen. »Siehst du?« sagte er mit mutwilligem Lächeln. »Ich glaube auch, daß sie sehr gut zu beurteilen versteht, ob du in ihrem Zimmer gründlich abgestäubt und die Ordnung wiederhergestellt hast, sie wird es ebensowohl zu würdigen wissen, wenn dir die süße Mehlspeise geraten und der Braten nicht angebrannt ist.« Ein leises Auflachen kam unter dem weißen Tuch hervor. »Ich weiß nur, daß sie selten zufrieden mit mir ist!« sagte das Mädchen gleich darauf mit Bestimmtheit. »Du wirst es an der gebührenden Unterwürfigkeit fehlen lassen, meine Kleine. – Quält dich das Fräulein Blaustrumpf dafür?« »Dafür nicht; aber sie macht mir oft die bittersten Vorwürfe, wenn meine Kraft mit dem Willen durchaus nicht Schritt halten will.« Er ließ die Hand mit der Zigarre sinken, und seine Augen suchten mit dem Ausdruck von Befremdung unter Tuch und Hutschirm zu dringen. 
(Amtmanns Magd)

Abelone und Graf Brahe

Abelone muß als ganz junges Mädchen eine Zeit gehabt haben, da sie von einer eigenen, weiten Bewegtheit war. Brahes wohnten damals in der Stadt, in der Bredgade, unter ziemlicher Geselligkeit. Wenn sie abends spät hinauf in ihr Zimmer kam, so meinte sie müde zu sein wie die anderen. Aber dann fühlte sie auf einmal das Fenster und, wenn ich recht verstanden habe, so konnte sie vor der Nacht stehn, stundenlang, und denken: das geht mich an. »Wie ein Gefangener stand ich da«, sagte sie, »und die Sterne waren die Freiheit.«
Sie konnte damals einschlafen, ohne sich schwer zu machen. Der Ausdruck In-den-Schlaf-fallen paßt nicht für dieses Mädchenjahr. Schlaf war etwas, was mit einem stieg, und von Zeit zu Zeit hatte man die Augen offen und lag auf einer neuen Oberfläche, die noch lang nicht die oberste war. Und dann war man auf vor Tag; selbst [845] im Winter, wenn die anderen schläfrig und spät zum späten Frühstück kamen. Abends, wenn es dunkel wurde, gab es ja immer nur Lichter für alle, gemeinsame Lichter.
Aber diese beiden Kerzen ganz früh in der neuen Dunkelheit, mit der alles wieder anfing, die hatte man für sich. Sie standen in ihrem niederen Doppelleuchter und schienen ruhig durch die kleinen, ovalen, mit Rosen bemalten Tüllschirme, die von Zeit zu Zeit nachgerückt werden mußten. Das hatte nichts Störendes; denn einmal war man durchaus nicht eilig, und dann kam es doch so, daß man manchmal aufsehen mußte und nachdenken, wenn man an einem Brief schrieb oder in das Tagebuch, das früher einmal mit ganz anderer Schrift, ängstlich und schön, begonnen war.

Der Graf Brahe lebte ganz abseits von seinen Töchtern. Er hielt es für Einbildung, wenn jemand behauptete, das Leben mit andern zu teilen. (»Ja, teilen –«, sagte er.) Aber es war ihm nicht unlieb, wenn die Leute ihm von seinen Töchtern erzählten; er hörte aufmerksam zu, als wohnten sie in einer anderen Stadt.

Es war deshalb etwas ganz Außerordentliches, daß er einmal nach dem Frühstück Abelone zu sich winkte: »Wir haben die gleichen Gewohnheiten, wie es scheint, ich schreibe auch ganz früh. Du kannst mir helfen.« Abelone wußte es noch wie gestern.

Schon am anderen Morgen wurde sie in ihres Vaters Kabinett geführt, das im Rufe der Unzugänglichkeit stand. Sie hatte nicht Zeit, es in Augenschein zu nehmen, denn man setzte sie sofort gegen dem Grafen über [846]  an den Schreibtisch, der ihr wie eine Ebene schien mit Büchern und Schriftstößen als Ortschaften.

Der Graf diktierte. Diejenigen, die behaupteten, daß Graf Brahe seine Memoiren schriebe, hatten nicht völlig unrecht. Nur daß es sich nicht um politische oder militärische Erinnerungen handelte, wie man mit Spannung erwartete. »Die vergesse ich«, sagte der alte Herr kurz, wenn ihn jemand auf solche Tatsachen hin anredete. Was er aber nicht vergessen wollte, das war seine Kindheit. Auf die hielt er. Und es war ganz in der Ordnung, seiner Meinung nach, daß jene sehr entfernte Zeit nun in ihm die Oberhand gewann, daß sie, wenn er seinen Blick nach innen kehrte, dalag wie in einer hellen nordischen Sommernacht, gesteigert und schlaflos.


Manchmal sprang er auf und redete in die Kerzen hinein, daß sie flackerten. Oder ganze Sätze mußten wieder durchgestrichen werden, und dann ging er heftig hin und her und wehte mit seinem nilgrünen, seidenen Schlafrock. Während alledem war noch eine Person zugegen, Sten, des Grafen alter, jütländischer Kammerdiener, dessen Aufgabe es war, wenn der Großvater aufsprang, die Hände schnell über die einzelnen losen Blätter zu legen, die, mit Notizen bedeckt, auf dem Tische herumlagen. Seine Gnaden hatten die Vorstellung, daß das heutige Papier nichts tauge, daß es viel zu leicht sei und davonfliege bei der geringsten Gelegenheit. Und Sten, von dem man nur die lange obere Hälfte sah, teilte diesen Verdacht und saß gleichsam auf seinen Händen, lichtblind und ernst wie ein Nachtvogel.

Rainer Maria Rilke: Die Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 709-710 u. 844-846