Er war eine Institution innerhalb des deutschen Literaturbetriebs, deshalb schreibe ich heute über meine Meinung zu Marcel Reich-Ranicki statt über ein Buch. Wer etwas über R-R erfahren will, liest besser eine der ungezählten Würdigungen der inländischen und internationalen Presse. Hier geht es nur um mein Verhältnis zu ihm. (Würdigungen u.a.: U. Greiner, I. Radisch, M. Walser, S. Lenz)
1962 begann ich als ZEIT-Leser den Kritiker zu schätzen, der nicht mit Kritikerjargon Ehrerbietung abforderte, sondern für einen Schüler gut verständlich schrieb. Um 1964 erlebte ich persönlich den empfindsamen Autor Walser, der unter dem "Großkritiker" R-R litt, und hatte Sympathie für ihn.
Als R-R zur FAZ wechselte, schätzte ich die von ihm eingerichtete Reihe der Lyrikinterpretationen in den Wochenendausgaben (Frankfurter Anthologie) und habe so viel gesammelt, wie mir als nur sporadischem Leser der FAZ möglich war. Sein Job als Literaturchef schien mir zu sehr auf den Großkritiker zugeschnitten.
Seine Grass-Verrisse fand ich übertrieben. Walsers "fliehendes Pferd" war mir weit uninteressanter als seine "Ehen in Philippsburg". Was verstand ich schon von Strategie in der Literaturkritik.
Mein Widerspruch gegen R-Rs Verriss von "Ein weites Feld" wurde zum ersten Artikel dieses Literaturblogs. Als Fontanefan musste ich die Hommage, die Grass dem Lieblingsschriftsteller seiner Frau zollte, zu schätzen wissen. Ich hatte aber auch Sympathie für die Kritik am Anschluss der DDR (Art. 146 GG) statt einer Wiedervereinigung.
Fontane war wie R-R ohne akademische Abschlüsse und Titel und hatte wie dieser den Mut zum eigenen Urteil gegen den Mainstream. Im Alter war er anerkannt, aber er konnte nie den Mainstream bestimmen.
Dass Reich-Ranicki das (den Mainstream zu bestimmen) erreicht hatte, begründete meine kritische Distanz zu ihm.
Doch seine Autobiographie "Mein Leben"* ermöglichte mir dann das Verständnis für sein Bedürfnis, nicht wieder in einer Position der Schwäche leben zu müssen, und dafür den Mainstream zu bestimmen.
Wenn er kein Kämpfer gewesen wäre, hätte er das Ghetto nicht überlebt. Und seine Arbeitskraft mehr als seine Streitbarkeit hat Entscheidendes zur Popularisierung anspruchsvoller Literatur - und zur Wiederbegründung eines Kanons - beigetragen.
Ich habe noch keinen Nachruf gelesen, dessen Würdigung von Reich-Ranickis Lebenswerk mir übertrieben erschienen wäre.
Dennoch erlaube ich mir, die Prosaschriftstellerin Ulla Hahn über die Lyrikerin zu stellen.
* In der Wikipedia gibt es nur einen Artikel zum Fernsehfilm, nicht zum Buch.
FAZ zu Reich-Ranicki (Das habe ich nicht alles gelesen.)
Verweis auf meinen Artikel vom 15.10.2008 an anderer Stelle zu MRR
Peter Bichsel: Die schöne Schwester Langeweile (2023)
vor 7 Stunden
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