Genauigkeit, als menschliche Haltung, verlangt auch ein genaues Tun und Sein. Sie verlangt Tun und Sein im Sinne eines maximalen Anspruchs. Allein hier ist eine Unterscheidung zu machen.
Denn in Wirklichkeit gibt es ja nicht nur die phantastische Genauigkeit (die es in Wirklichkeit noch gar nicht gibt), sondern auch eine pedantische, und diese beiden unterscheiden sich dadurch, daß sich die phantastische an die Tatsachen hält und die pedantische an Phantasiegebilde. Die Genauigkeit zum Beispiel, mit der der sonderbare Geist Moosbruggers in ein System von zweitausendjährigen Rechtsbegriffen gebracht wurde, glich den pedantischen Anstrengungen eines Narren, der einen freifliegenden Vogel mit einer Nadel aufspießen will, aber sie kümmerte sich ganz und gar nicht um die Tatsachen, sondern um den phantastischen Begriff des Rechtsguts. Die Genauigkeit dagegen, die die Psychiater in ihrem Verhalten zu der großen Frage, ob man Moosbrugger zum Tode verurteilen dürfe oder nicht, an den Tag legten, war ganz und gar exakt, denn sie traute sich nicht mehr zu sagen, als daß sein Krankheitsbild keinem bisher beobachteten Krankheitsbild genau entspreche, und überließ die weitere Entscheidung den Juristen. Es ist ein Bild des Lebens, das der Gerichtssaal bei dieser Gelegenheit bot, denn alle die lebhaften Menschen des Lebens, die es gänzlich unmöglich fänden, einen Kraftwagen zu benützen, der älter als fünf Jahre ist, oder eine Krankheit nach den Grundsätzen behandeln zu lassen, die vor zehn Jahren die besten waren, die überdies ihre ganze Zeit freiwillig-unfreiwillig der Förderung solcher Erfindungen widmen und davon eingenommen sind, alles zu rationalisieren, was in ihren Bereich kommt, überlassen die Fragen der Schönheit, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Glaubens, kurz alle Fragen der Humanität, soweit sie nicht geschäftliche Beteiligung daran haben, am liebsten ihren Frauen, und solange diese noch nicht ganz dazu genügen, einer Abart von Männern, die ihnen von Kelch und Schwert des Lebens in tausendjährigen Wendungen erzählen, denen sie leichtsinnig, verdrossen und skeptisch zuhören, ohne daran zu glauben und ohne an die Möglichkeit zu denken, daß man es auch anders machen könnte. Es gibt also in Wirklichkeit zwei Geistesverfassungen, die einander nicht nur bekämpfen, sondern die gewöhnlich, was schlimmer ist, nebeneinander bestehen, ohne ein Wort zu wechseln, außer daß sie sich gegenseitig versichern, sie seien beide wünschenswert, jede auf ihrem Platz. Die eine begnügt sich damit, genau zu sein, und hält sich an die Tatsachen; die andere begnügt sich nicht damit, sondern schaut immer auf das Ganze und leitet ihre Erkenntnisse von sogenannten ewigen und großen Wahrheiten her. Die eine gewinnt dabei an Erfolg, und die andere an Umfang und Würde.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 62: Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus
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