Er konnte bei guter Laune einem Mann ins Gesicht schauen und bemerkte darin sein eigenes Gesicht, wie es zwischen Fischchen und hellen Steinen aus einem seichten Bach zurückblickt; in schlechter Laune brauchte er aber nur flüchtig das Gesicht eines Mannes zu prüfen und erkannte, daß es derselbe Mann war, mit dem er noch überall Streit bekommen hatte, wie sehr sich der auch jedesmal anders verstellte. Was will man ihm einwenden?! Wir alle haben fast immer mit dem gleichen Mann Streit. [...]
Ausflug ins logisch-sittliche Reich
Was über Moosbrugger von Rechts wegen zu sagen war, das hätte man in einem Satz vorbringen können. Moosbrugger war einer jener Grenzfälle, die aus der Jurisprudenz und Gerichtsmedizin auch den Laien als die Fälle der verminderten Zurechnungsfähigkeit bekannt sind.
Bezeichnend für diese Unglücklichen ist es, daß sie nicht nur eine minderwertige Gesundheit, sondern auch eine minderwertige Krankheit haben. Die Natur hat eine merkwürdige Vorliebe dafür, solche Personen in Hülle und Fülle hervorzubringen; natura non fecit saltus, sie macht keinen Sprung, sie liebt die Übergänge und hält auch im großen die Welt in einem Übergangszustand zwischen Schwachsinn und Gesundheit. Aber die Jurisprudenz nimmt nicht Notiz davon. [...]
Wenn ein Pferd sich bei jedem Versuch, es zu reiten, wie toll benimmt, so wird es mit besonderer Sorgfalt gewartet, bekommt die weichsten Bandagen, die besten Reiter, das ausgewählteste Futter und die geduldigste Behandlung. Wenn sich dagegen ein Reiter etwas zuschulden kommen läßt, so steckt man ihn in einen von Flöhen besetzten Käfig, entzieht ihm das Essen und gibt ihm Eisenschellen. Die Begründung dieses Unterschieds Hegt darin, daß das Pferd bloß dem tierisch empirischen Reich angehört, während der Dragoner an dem logisch-sittlichen teilhat. In diesem Sinne zeichnet es den Menschen vor dem Tiere, und man darf hinzufügen, auch vor dem Geisteskranken aus, daß er nach seinen geistigen und sittlichen Eigenschaften imstande ist, rechtswidrig zu handeln und ein Verbrechen zu begehn; und da also erst die Strafbarkeit jene Eigenschaft ist, die ihn zum sittlichen Menschen erhebt, wird es verständlich, daß der Jurist eisern an ihr festhalten muß. [...]
Leider tritt noch hinzu, daß die Gerichtspsychiater, die berufen wären, sich dem entgegenzusetzen, gewöhnlich viel ängstlicher in ihrem Beruf sind als die Juristen; sie erklären nur solche Personen für wirklich krank, die sie nicht heilen können, was eine bescheidene Übertreibung ist, denn sie können die anderen auch nicht heilen. Sie unterscheiden zwischen unheilbaren Geisteskrankheiten, zwischen solchen, die mit Gottes Hilfe nach einiger Zeit von selbst besser werden, und endlich solchen, die der Arzt zwar auch nicht heilen kann, wohl aber der Patient vermeiden könnte, vorausgesetzt natürlich, daß durch höhere Fügung rechtzeitig die richtigen Einflüsse und Überlegungen auf ihn einwirken. Diese zweite und dritte Gruppe liefert jene nur minderwertigen Kranken, die der Engel der Medizin zwar als Kranke behandelt, wenn sie zu ihm in die Privatpraxis kommen, die er aber schüchtern dem Engel des Rechts überläßt, wenn er mit ihnen in der Gerichtspraxis zusammenstößt.
Ein solcher Fall war Moosbrugger. Man hatte ihn während seines von den Verbrechen eines unheimlichen Blutrausches unterbrochenen ehrlichen Lebens ebenso oft in Irrenhäusern zurückgehalten wie entlassen, und er hatte als Paralytiker, Paranoiker, Epileptiker und zirkulär Irrer gegolten, ehe ihm in der letzten Verhandlung zwei besonders gewissenhafte Gerichtsärzte seine Gesundheit wieder zurückgaben. Natürlich befand sich damals in dem großen, menschenerfüllten Saal keine einzige Person, sie inbegriffen, die nicht davon überzeugt gewesen wäre, daß Moosbrugger in irgendeiner Weise krank sei; aber es war keine Weise, die den vom Gesetz gestellten Bedingungen entsprach und von gewissenhaften Gehirnen anerkannt werden durfte. Denn wenn man teilweise krank ist, ist man nach Ansicht der Rechtslehrer auch teilweise gesund; ist man aber teilweise gesund, so ist man wenigstens teilweise zurechnungsfähig; und ist man teilweise zurechnungsfähig, so ist man es ganz; denn Zurechnungsfähigkeit ist, wie sie sagen, der Zustand des Menschen, in dem er die Kraft besitzt, unabhängig von jeder ihn zwingenden Notwendigkeit sich aus sich selbst für einen bestimmten Zweck zu bestimmen, und eine solche Bestimmtheit kann man nicht gleichzeitig besitzen und entbehren.
Zwar schließt das nicht aus, daß es Personen gibt, deren Zustände und Anlagen es ihnen erschweren, »unsittlichen Antrieben« zu wider stehn und den »Ausschlag zum Guten« zu finden, wie die Juristen das nennen, und eine solche Person, in der Umstände, die einen anderen noch gar nicht berühren, schon den »Entschluß« zu einer Straftat hervorrufen, war Moosbrugger. Aber erstens waren seine Geistes- und Verstandeskräfte nach Ansicht des Gerichts soweit unbeschädigt, daß bei ihrer Anwendung die Tat ebensogut unausgeführt hätte bleiben können, und es bestand sonach kein Grund, ihn von dem sittlichen Gut der Verantwortung auszuschließen. Zweitens fordert es eine geordnete Rechtspflege, daß jede schuldige Handlung bestraft wird, wenn sie mit Wissen und Willen vollendet wurde. Und drittens nimmt die juristische Logik an, daß in allen Geisteskranken – mit Ausnahme jener ganz unglücklichen, welche die Zunge herausstrecken, wenn man sie fragt, wieviel sieben mal sieben ist, oder »Ich« sagen, wenn sie den Namen Sr. Kaiser- und Königlichen Majestät angeben sollen – ein Minimum von Unterscheidungs- und Selbstbestimmungsfähigkeit noch vorhanden sei, und es hätte bloß einer besonderen Anspannung der Intelligenz und Willenskraft bedurft, um den verbrecherischen Charakter der Tat zu erkennen und den verbrecherischen Antrieben zu widerstehn. Das ist aber wohl das mindeste, was man von so gefährlichen Personen verlangen darf.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 59 und 60
Ein solcher Fall war Moosbrugger. Man hatte ihn während seines von den Verbrechen eines unheimlichen Blutrausches unterbrochenen ehrlichen Lebens ebenso oft in Irrenhäusern zurückgehalten wie entlassen, und er hatte als Paralytiker, Paranoiker, Epileptiker und zirkulär Irrer gegolten, ehe ihm in der letzten Verhandlung zwei besonders gewissenhafte Gerichtsärzte seine Gesundheit wieder zurückgaben. Natürlich befand sich damals in dem großen, menschenerfüllten Saal keine einzige Person, sie inbegriffen, die nicht davon überzeugt gewesen wäre, daß Moosbrugger in irgendeiner Weise krank sei; aber es war keine Weise, die den vom Gesetz gestellten Bedingungen entsprach und von gewissenhaften Gehirnen anerkannt werden durfte. Denn wenn man teilweise krank ist, ist man nach Ansicht der Rechtslehrer auch teilweise gesund; ist man aber teilweise gesund, so ist man wenigstens teilweise zurechnungsfähig; und ist man teilweise zurechnungsfähig, so ist man es ganz; denn Zurechnungsfähigkeit ist, wie sie sagen, der Zustand des Menschen, in dem er die Kraft besitzt, unabhängig von jeder ihn zwingenden Notwendigkeit sich aus sich selbst für einen bestimmten Zweck zu bestimmen, und eine solche Bestimmtheit kann man nicht gleichzeitig besitzen und entbehren.
Zwar schließt das nicht aus, daß es Personen gibt, deren Zustände und Anlagen es ihnen erschweren, »unsittlichen Antrieben« zu wider stehn und den »Ausschlag zum Guten« zu finden, wie die Juristen das nennen, und eine solche Person, in der Umstände, die einen anderen noch gar nicht berühren, schon den »Entschluß« zu einer Straftat hervorrufen, war Moosbrugger. Aber erstens waren seine Geistes- und Verstandeskräfte nach Ansicht des Gerichts soweit unbeschädigt, daß bei ihrer Anwendung die Tat ebensogut unausgeführt hätte bleiben können, und es bestand sonach kein Grund, ihn von dem sittlichen Gut der Verantwortung auszuschließen. Zweitens fordert es eine geordnete Rechtspflege, daß jede schuldige Handlung bestraft wird, wenn sie mit Wissen und Willen vollendet wurde. Und drittens nimmt die juristische Logik an, daß in allen Geisteskranken – mit Ausnahme jener ganz unglücklichen, welche die Zunge herausstrecken, wenn man sie fragt, wieviel sieben mal sieben ist, oder »Ich« sagen, wenn sie den Namen Sr. Kaiser- und Königlichen Majestät angeben sollen – ein Minimum von Unterscheidungs- und Selbstbestimmungsfähigkeit noch vorhanden sei, und es hätte bloß einer besonderen Anspannung der Intelligenz und Willenskraft bedurft, um den verbrecherischen Charakter der Tat zu erkennen und den verbrecherischen Antrieben zu widerstehn. Das ist aber wohl das mindeste, was man von so gefährlichen Personen verlangen darf.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 59 und 60
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