Kurz darauf fand bei Diotima die erste große Sitzung der vaterländischen Aktion statt. [...]
Die kleine Kammerzofe Rachel (ihr Name wurde von ihrer Herrin etwas frei als Rachelle ins Französische übersetzt) war schon seit sechs Uhr morgens auf den Beinen. [...]
Rachel war neunzehn Jahre alt und glaubte an Wunder. Sie war in einer häßlichen Hütte in Galizien geboren worden, wo an dem Türpfosten der Thorastreifen hing und der Fußboden Spalten hatte, durch die Erde heraufquoll. Sie war verflucht und zur Türe hinausgestoßen worden. [...]
Der Zufall hatte sie in das Haus Diotimas geführt, und diese hatte es sehr natürlich gefunden, daß man aus einem galizischen Elternhaus entlief, wenn man dadurch zu ihr gekommen war. [...]
Denn die kleine Rachel war zwar wegen eines gewissenlosen Burschen von ihrem Vater verflucht worden, aber sie war trotzdem ein ehrbares Mädchen und liebte einfach alles an Diotima: das weiche, dunkle Haar, das sie morgens und abends bürsten durfte, die Kleider, in die sie hineinhalf, die chinesischen Lackarbeiten und geschnitzten indischen Tischchen, die umherliegenden fremdsprachigen Bücher, von denen sie kein Wort verstand, [...]
Denn Rachel durfte die Romane lesen, welche Diotima weglegte, so wie sie auch die Wäsche für sich zurechtschneidern durfte, welche Diotima nicht mehr trug. Rachel schneiderte und las geläufig, das war ihr jüdisches Erbgut, aber wenn sie einen Roman in der Hand hatte, den ihr Diotima als großes Kunstwerk bezeichnete, – und solche las sie am liebsten –, dann verstand sie die Geschehnisse natürlich nur so, wie man einem lebhaften Vorgang aus großer Entfernung oder in einem fremden Land zusieht; sie wurde von der ihr unverständlichen Bewegung beschäftigt, ja ergriffen, ohne etwas dareinreden zu können, und das liebte sie überaus. Wenn man sie über die Straße schickte oder vornehmer Besuch ins Haus kam, genoß sie in der gleichen Weise die große und aufregende Gebärde einer Kaiserstadt, eine weit über allen Begriff gehende Fülle von glänzenden Einzelheiten, an denen sie einfach dadurch teil hatte, daß sie sich auf einem bevorzugten Platz in ihrer Mitte befand. [...]
Es war inzwischen sieben Uhr geworden; Rachel warf schnell einen Generalsblick über alle Einzelheiten der Ordnung und eilte aus dem Zimmer, um Diotima zu wecken, denn eine Viertelstunde nach zehn Uhr war schon die Sitzung angesetzt, und Diotima war nach dem Weggang des Herrn noch ein wenig im Bett geblieben. Diese Morgen mit Diotima waren eine besondere Freude Rachels. Das Wort Liebe bezeichnet das nicht; eher das Wort Verehrung, wenn man es sich in seinem ganzen Sinn vergegenwärtigt, wo die übertragene Ehre einen Menschen dermaßen durchdringt, daß er bis ins Innerste von ihr erfüllt und geradezu von seinem eigenen Platz in sich weggedrängt wird. [...]
Sie trat an Diotimas Bett, und ihr Auge glitt, anbetend wie ein Bergsteiger den Schneegipfel erblickt, der aus dem Morgendunkel ins erste Blau steigt, über deren Schulter, ehe sie die perlmutterzarte Wärme der Haut mit den Fingern berührte. Dann kostete sie von dem fein verwickelten Geruch der Hand, die schläfrig unter der Decke hervorkam, um sich küssen zu lassen, und nach Schmuckwässern des Vortags roch, aber auch nach den Dünsten der Nachtruhe; hielt den Morgenpantoffel dem suchenden nackten Fuß entgegen und empfing den erwachenden Blick. Es wäre aber die sinnliche Berührung mit dem großartigen Frauenkörper beiweitem nicht so schön für sie gewesen, würde sie nicht völlig durchstrahlt worden sein von der moralischen Bedeutung Diotimas. [...]
Wenn Rachel das warme Wasser mischte, Seife schäumen ließ oder mit dem Frottiertuch Diotimas Körper so dreist abtrocknen durfte, als wäre es ihr eigener Körper, so machte ihr das viel mehr Vergnügen, als wenn es wirklich bloß ihr eigener Körper gewesen wäre. Der kam ihr nichtig und vertrauensunwürdig vor, es lag ihr ferne, auch nur vergleichsweise an ihn zu denken, ihr war, wenn sie die statuenhafte Fülle Diotimas berührte, zumute wie einem Bauernlümmel von Rekrut, der einem strahlend schönen Regiment angehört. So wurde Diotima für den großen Tag gewappnet. [...]
Diotima hatte unterdessen Se. Erlaucht empfangen und für Ulrich nicht viel Aufmerksamkeit gezeigt, denn sie stellte die Anwesenden vor und präsentierte Sr. Erlaucht als ersten Dr. Paul Arnheim, wobei sie erklärte, daß ein glücklicher Zufall diesen berühmten Freund ihres Hauses hergeführt habe, und wenn er auch als Ausländer nicht beanspruchen dürfe, in aller Form an den Sitzungen teilzunehmen, so bäte sie doch, ihn ihr persönlich als Ratgeber zu lassen; denn – und hier fügte sie sofort eine sanfte Drohung an – seine großen Erfahrungen und Beziehungen auf international kulturellem Gebiet und in den Zusammenhängen dieser Fragen mit denen der Wirtschaft seien für sie eine unschätzbare Stütze, und sie habe bisher allein darüber berichten müssen und würde wohl auch in Zukunft nicht so bald ersetzt werden können und sei sich trotzdem ihrer ungenügenden Kraft nur zu sehr bewußt. Graf Leinsdorf sah sich überfallen und mußte sich zum erstenmal seit dem Beginn ihrer Beziehungen über eine Taktlosigkeit seiner bürgerlichen Freundin wundern. Auch Arnheim fühlte sich betreten, wie ein Souverän, dessen Einzug nicht gebührend geordnet worden ist, denn er war fest überzeugt gewesen, daß Graf Leinsdorf von seiner Einladung wisse und sie gebilligt habe. [...]
Aber Diotima, deren Gesicht in diesem Augenblick rot und eigensinnig aussah, ließ nicht locker, und wie alle Frauen, die in Fragen der Ehemoral ein zu reines Gewissen haben, vermochte sie eine unausstehliche weibliche Zudringlichkeit zu entwickeln, wenn es sich um eine ehrbare Angelegenheit handelte. Sie war damals bereits verliebt in Arnheim, der in der Zwischenzeit einigemal bei ihr gewesen war, aber in ihrer Unerfahrenheit hatte sie keine Ahnung von der Natur ihres Gefühls. [...]
Die Parallelaktion war für Diotima und Arnheim sozusagen die Verkehrsinsel in ihrem anschwellenden seelischen Verkehr; sie betrachteten es als ein besonderes Schicksal, was sie in einem so wichtigen Augenblick zusammengeführt hatte, und es gab zwischen ihnen nicht die kleinste Meinungsverschiedenheit darüber, daß das große vaterländische Unternehmen eine ungeheure Gelegenheit und Verantwortung für geistige Menschen sei. Auch Arnheim sagte das, obschon er niemals anzufügen vergaß, daß es dabei in erster Linie auf starke, im Wirtschaftlichen ebenso wie im Bereich der Ideen erfahrene Menschen ankäme und dann erst auf den Umfang der Organisation. So hatte sich in Diotima die Parallelaktion untrennbar mit Arnheim verknotet, und die Vorstellungsleere, die anfangs mit diesem Unternehmen verbunden gewesen war, hatte einer reichen Fülle Platz gemacht. [...]
»Was uns zusammengeführt hat,« sagte Graf Leinsdorf »ist die Übereinstimmung darin, daß eine machtvolle, aus der Mitte des Volks aufsteigende Kundgebung nicht dem Zufall überlassen bleiben darf, sondern eine weit vorausblickende und von einer Stelle, die einen weiten Überblick hat, also von oben kommende Einflußnahme erfordert. Seine Majestät, unser geliebter Kaiser und Herr, wird im Jahre 1918 das hochseltene Fest seiner 70jährigen segensreichen Thronbesteigung feiern; [...]
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, 41. Kapitel
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