23 Dezember 2014

Otto von Rohr berichtet über seine Kriegsgefangenschaft bei den Franzosen 1793

Theodor Fontane beginnt seinen Bericht über die Kriegsgefangenschaft Otto von Rohrs so:
Dem Hauptmann von Capernaum waren aus seiner zweiten Ehe mit dem Fräulein von Jürgaß zwei Söhne geboren worden, von denen der jüngere den Namen des Vaters, Georg Moritz, führte. Der ältere dagegen war Otto von Rohr. Sein Gedächtnis lebt in Trieplatz in einem schönen Akazienbaume fort, der vom Park aus in das Gartenzimmer blickt. [...]
Danach zitiert er Aufzeichnungen Otto von Rohrs. Ich überspringe den Anfang und steige dort ein, wo der Franzose Malwing, der den kriegsgefangenen Rohr vor dem Erschießen durch Marodeure gerettet hat, ihn als eine Art persönlichen Gefangenen betrachtet, der von seinem Schützling das meiste, was dieser an Werten bei sich trug, an sich genommen hat : 
Abends in der Dämmerung erschien abermals Freund Malwing. Er trat ein mit einem: à présent tout est au diable! Dies hatte zum Teil Bezug auf die mir abgenommenen Habseligkeiten. Er hatte sie zusammen in ein Papier gewickelt, in seine Rocktasche gesteckt, und diese war ihm durch eine preußische Kanonenkugel weggerissen, oder wie er sich ausdrückte »zum Teufel geschickt worden«.Er hatte dabei eine Kontusion davongetragen, weshalb er zurück in ein Lazarett gehen mußte. Ich bot ihm, da mir sein Verlust leid tat, nochmals meine Schärpe an, aber er lehnte nochmals ab und verwies mir meine Unfolgsamkeit, sie nicht nach seinem Rate besser versteckt zu haben. Dann mahnte er mich zu Geduld und Vorsicht, reichte mir seine Flasche und ging fröhlich und guter Dinge ab, mit dem Versprechen, mich wieder zu besuchen.
Und so beschloß sich der zweite Tag meiner Gefangenschaft. Durch tausend Bemerkungen belästigt, von Ahnungen und Besorgnissen gequält, dazu von der Hoffnung einer baldigen Änderung meines Geschicks nicht mehr geschmeichelt, setzte ich mich, meinem neuen Freunde Wilhelmy gegenüber, auf einen Schemel und wünschte mir Schlaf. Doch ihn zu finden, daran war nicht zu denken. Die Stube zum Ersticken heiß und mit Menschen derart gefüllt, daß ich schlechterdings meine Füße nicht regen konnte, ohne jemanden zu treten. Meine Lage war äußerst lästig, und endlich durch die Bewegungslosigkeit, zu der sich mein Körper gezwungen sah, dem Erstarren nahe, blieb mir kein anderes Mittel, als auf den Schemel zu steigen. Hier stand ich wie ein Säulenheiliger. Alles schlief und schnarchte, nur Wilhelmy und ich nicht.
Genug, es war nicht die schmerzhafteste, aber doch die peinlichste[410] Nacht meines ganzen Lebens. Endlich kam der so lang' ersehnte Morgen, und alles regte und reckte sich. Ach wie war ich so froh.
Den 30. November 1793. Der Morgen kam und mit ihm die Sterbestunde für so manchen, Freund wie Feind. Viele fanden ihren Tod gestern schon, viele ehegestern, noch mehr fanden ihn heute. Früh mit der ersten Morgendämmerung begann die Schlacht von neuem; das Feuer der Kanonen war dabei so heftig, wie ich es noch nie gehört hatte. Etwa um elf war die Bataille völlig zum Vorteil der Preußen entschieden. Die Franzosen machten indessen, wie bekannt, einen meisterhaften Rückzug, so daß sie trotz des schlechten Terrains, auf dem sie sich bewegten, keine Kanone verloren. Es kam ihnen dabei freilich zustatten, daß unsere Kavallerie ganz entkräftet war. Von dem Gewimmel der Zurückkommenden sahen wir nur wenig, da auch wir, als die Retirade begann, zurück mußten. Wir bildeten nur ein kleines Häuflein, Wilhelmy, ich, der Junker und etwa acht Gemeine, das war die ganze gefangene Gesellschaft, schließlich noch durch sechs oder sieben Deserteure vermehrt. Letztere höchst widriges Gesindel. Mit genauer Not bekamen wir einige von den erbeuteten Pferden; dann, bei jedem Offizier ein Gendarm, außerdem noch zwei, drei zur Eskorte der übrigen, so ging unser Zug rückwärts auf der Straße nach Homburg zu.
Ein wahrer Golgathas-Weg für uns arme Sünder. Gleich zu Anfang passierten wir einen großen Teil der französischen Armee, die auf einer weiten Ebene hielt. Hier fanden wir Truppen aller Art, auch das Proviantfuhrwesen. Wir kamen leidlich vorüber. Als wir aber eine andere Abteilung der geschlagenen Armee erreichten, bei der sich viele Hunderte von Schwerverwundeten befanden, war es mit unserer Ruhe vorbei.
Ein großer Teil dieser Unglücklichen, als sie uns sahen, gebärdete sich wie rasend, wetterte und fluchte und schien durchaus willens, es bei den insultierenden Worten nicht bewenden zu lassen. Mehr als einmal schlug man die Gewehre auf uns an, und nur der Umstand, daß wir rechts und links Gendarmen zur Seite hatten, die bei dieser Gelegenheit so gut wie wir getroffen werden konnten, rettete uns aus dieser Gefahr. Die Insulten dauerten fort, aber nach einer halben Stunde schienen auch die Lungen erschöpft und man ward still. Nochmals eine halbe Stunde später und wir wurden in einem Stall untergebracht, wo sich unser Häuflein alsbald um einen Unglücksgefährten vermehrte. Das Regiment Göcking-Husaren hatte verfolgt und bei diesen Verfolgungs-Scharmützeln[411] war Kornett Gottschling vom genannten Regiment verwundet und dann gefangen genommen worden. Er hatte einen Hieb über den Kopf, einen andern über die Hand und war in sehr bedauernswerter Lage. [...]
Ein paar Tage später:
Der Gefangenwärter erschien nun wieder, brachte Streustroh und Leuchtung, fragte nochmals, »ob wir wirklich kein Geld hätten« und bedauerte uns herzlich, als wir ihm unser Nein wiederholten. Der gute, christliche Deutsche beklagte uns sehr und schien in Mitleiden für uns aufzugehen; nichtsdestoweniger vergaß er, uns unser Deputat Brot für den Nachmittag und Abend zu geben. Nur ein Weilchen noch blieb er, um uns Trost und Mut einzusprechen, wünschte uns dann eine wohlzuruhende Nacht und – ging. Das Letzte, was er uns hören ließ, war das Rasseln und Klirren der Schlösser und Riegel.
Nun waren wir mit uns und unserm Elend allein. Mein alter Wilhelmy erlag fast seinem Schicksal: er schwankte zur Streu und wünschte sich laut die ewige Ruhe. Gottschling litt heftige Schmerzen, legte sich auch und hoffte Linderung vom Schlaf. Ich folgte seinem Beispiel. Ein paar Stunden mocht' ich geschlafen haben, als Wilhelmy mich weckte; ihm brannten Kopf und Körper, Gottschling erwachte ebenfalls im heftigsten Wundfieber. Beide lechzten nach Wasser und – Gott! der Krug war leer, ebenso der Kübel. Ich lief in der Stube umher, rief und schrie nach Hilfe; umsonst, unser Kerker war zu abgelegen, als daß irgendwer hören konnte. Ich stieß gegen die Tür, in der Hoffnung, sie zu sprengen, aber Schloß und Riegel waren zu fest. Hinweg, selbst von der bloßen Erinnerung an diese Unglücksnacht.
Den 2. Dezember 1793. Morgens, vielleicht acht Uhr, saß ich an dem Lager meiner beiden Gefährten, vertieft und verloren in unser trübes Geschick. Wilhelmy und Gottschling, trotz Fieber und Durst, waren eben wieder eingeschlafen, als plötzlich die Tür aufging und einige junge Frauenzimmer, deren Bekanntschaft Gottschling vor acht oder zehn Tagen gemacht hatte, mit Kaffee und Semmel bei uns eintraten. Diese gutmütigen Magdalenen, die vielleicht durch den Gefängniswärter von ihm gehört haben mochten, hatten sich mit Mühe und Schwierigkeiten einen Weg zu uns gebahnt und leisteten nun soviel Hilfe, wie in ihren Kräften stand. Auch einen Stadtwundarzt brachten sie mit, um[414] Gottschlings Wunden zu verbinden. Ich weckte nun meine beiden Kranken jubelnd auf, und beide labten und erquickten sich an dem Frühstücks, das ihnen geboten wurde. Unsere barmherzigen Samariterinnen standen uns gegenüber und freuten sich herzlich, daß uns ihre Gabe so vortrefflich mundete; ebenso herzlich war unser Dank. Während des Frühstücks fand sich allerlei Gesellschaft ein: der gute christliche Kerkermeister, dessen Ehegespons, einige Gendarmen, schließlich auch einige Offiziere. Man kam und ging, alle waren voller Mitleid, aber dabei hatte es sein Bewenden. [...]
Der folgende Bericht stammt wieder von Fontane:
 Otto von Rohr samt seinen Leidensgenossen, die wir aus vorstehenden Briefen kennengelernt, wurde nach Frankreich abgeführt und in Nogent sur Seine, etwa siebzig Kilometer von Paris, interniert gehalten. Hier lebte er, ein Jahr lang und darüber, in ungetrübtem Glück, soweit das Leben eines Gefangenen überhaupt ein glückliches sein kann. Die große Zeit störte nicht seine Kreise. In Paris die Schreckensherrschaft, in Nogent Friede. Auf dem Eintrachtsplatze (furchtbare Ironie) fiel Dantons Haupt, und sein blutiger Schatten ging um, bis das Haupt dessen, der ihn stürzte, dem seinen nachgefallen war, – in Nogent aber, als wäre die Welt so klar wie die Sommernacht, die sich jetzt über ihm wölbte, saß Otto von Rohr unter dem Gezweig einer mächtigen Akazie und neben ihm saß Jacqueline, die Tochter des Hauses, halb Kind noch, und hörte ihm zu, wenn er von seiner Heimat erzählte, von den weiten Strecken Sand und der Sumpfniederung, in der ein Fluß laufe, »schilfbestanden und tief und schwarz wie der Styx, der um das Reiche des Todes schleicht«. Dann fragte Jacqueline, »ob dort auch Menschen wohnen?«
»Kaum«, antwortete der Gefangene voll übermütiger Laune, »Halbwilde nur, die schwarzes Brot essen und einen bräunlichen, immer schäumenden Saft trinken, den sie Bier nennen. Und zur Winterzeit machen sie Löcher ins Eis und springen hinein oder jagen tagelang durch den Wald, um Füchse zu fangen und mit dem wilden Eber zu kämpfen. Und wenn sie dann heimkehren, können sie oft ihr Dorf nicht finden, weil es in Schnee versunken ist.« Dann fragte Jacqueline: »Und wie sehen diese Menschen aus?«, worauf dann Otto von Rohr erwiderte: »Genau wie ich, Jacqueline.« Und dann lachten sie beide und hörten nicht, daß[416] ein leises Rauschen, wie ein Klageton, durch den Wipfel der alten Akazie ging.
Denn der alte Baum, der das Leben kannte, wußte, was bevorstand: Trennung. Sie kam; der Baseler Frieden machte den Gefangenen frei. Wieviel Schwüre wurden laut, wieviel Tränen fielen. Eines Tages aber lag alles zurück wie ein Traum, und nur zweierlei war noch wahr und wirklich: das Leid im Herzen Jacquelines und eine kleine seidengestickte Henkelbörse, die sie dem Scheidenden zum Abschiede gereicht hatte. Darin befand sich eine Schaumünze mit ihrem Lieblingsheiligen darauf, und – ein Samenkorn von dem Akazienbaum, unter dem sie so oft gesessen.
Dies Samenkorn ist in Trieplatz aufgegangen. Es ist derselbe Baum, der (womit wir diese Erzählung einleiteten) vom Park aus in das Gartenzimmer blickt.
So nennt Fontane diesen Abschnitt (S. 406 - 416) aus seinen Wanderungen denn auch "Der Akazienbaum".
Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Die Grafschaft Ruppin. An Rhin und Dosse. Wusterhausen a. D. , Der AkazienbaumS. 406 - 416

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