30 April 2018

Fontane über seine Kindheit


Der Text ist diktiert, deshalb neue Rechtschreibung und nur die wichtigsten Namen (u.ä.) korrigiert:

"Wenn ich gefragt werde, welchem Lehrer ich mich so recht eigentlich zu Dank verpflichtet fühle, so würde ich antworten müssen: meinem Vater, meinem Vater, der sozusagen gar nichts wusste, mich aber mit dem aus Zeitungen und Journalen aufgepickten und über alle möglichen Themata sich verbreitenden Anekdotenreichtum unendlich viel mehr unterstützt hat als alle meine Gymnasial- und Realschullehrer zusammen genommen. Was die mir geboten, auch wenn es gut war, ist so ziemlich wieder von mir abgefallen; die Geschichten von Ney und Rapp aber sind mir bis diese Stunde geblieben." (in: Kindheiten, dtv 1459, S.77)

Ein Beispiel für die Lernmethode des Vaters von Fontane:
"Am liebsten jedoch fing er gleich mit dem Historischen an oder doch mit dem, was im Historie schien. Ich muss dabei noch einmal, aber nun wirklich zum letzten Male, seiner ausgesprochenen Vorliebe für alle Ereignisse samt den dazugehörigen Personen, die zwischen der Belagerung von Toulon und der Gefangenschaft auf Sankt Helena lagen, Erwähnung tun. Auf diese Personen und Dinge griff er immer wieder zurück. Seine Lieblinge habe ich schon in einem früheren Kapitel genannt, oben an Ney und Lannes, aber einen der seinen Herzen vielleicht noch näher stand, hab ich doch bei jener ersten Aufzählung zu nennen vergessen, und dieser eine war Latour d'Auvergne, von dem er mir schon in unseren Ruppiner Tagen allerlei Geschichten erzählt hatte. Das wiederholte sich jetzt. Latour d'Auvergne, so hieß es in diesen seinen Erzählungen, habe den Titel geführt: Licht brennen Grenadier gefranzt [le premier grenadier de France] oder erster Grenadier von Frankreich, als welcher er, trotzdem er gerade Generalsrang gehabt, immer in Reih und Glied, und zwar unmittelbar neben dem rechten Flügelmann der alten Garde gestanden habe. Als er dann aber in dem Treffen bei Neuburg gefallen sei, habe Napoleon angeordnet, dass das Herz des ersten Grenadiers in eine Urne getan und bei der Truppe mitgeführt, sein Name Latour d'Auvergne aber bei jedem Appell immer aufs Neue mit aufgerufen werde, wobei dann der jedesmaliger Flügelmann Order gehabt habe, statt des ersten Kanadiers zu antworten und Auskunft zu geben, wo er sei. Das war ungefähr das, was ich von meinem Vater her längst auswendig wusste; seine Vorliebe für diese Gestalt aber war so groß, dass er wenn’s irgend ging, immer wieder auf diese zurückkam und dieselben Fragen tat. Oder richtiger noch, immer wieder dieselbe Szene inszenierte." (
in: Kindheiten, dtv 1459, S.76)
Diese Szene spielten sie dann so, dass der Vater vom Sofa aufstand und die Rolle des Flügelmanns spielte, während das Kind Theodor "die Rolle des appellabnehmenden Offiziers spielte".

Han Han und andere Jungstars

Ich bin überzeugt, als Lehrer hätte ich ihn unerträglich gefunden, als Vater wäre ich unglücklich über seine Entwicklung und dennoch muss ich zugeben, dass er für mich eine Hoffnung darstellt, Han Han, der regimekritische bekannteste Blogger Chinas, von dem ich keinen einzigen Post gelesen habe, weil ich kein Chinesisch kann, der Verfasser von Popliteratur, die mir vermutlich durch ihren zynischen Ton auf die Nerven gehen würde, und der Rennfahrer, der um des Nervenkitzels sein Leben riskiert, bei meinem Sohn wäre es mir ein Horror.
Und doch, in einem diktatorischen Regime wie in China bedarf es seiner Popularität, damit er halbwegs sicher Kritik üben und damit den Geist der Kritik in der jungen Generation bewahren kann. Er kann "Avatar" einen von den Behörden abgesetzten Film, loben "Es kann nur auf einem anderen Planeten oder aber in China stattfinden". Andere würden nicht so leicht davonkommen - der Film kritisiert unter dem Vorwand, von Außerirdischen zu handeln, die brutalen Räumungen, die in China vor den Olympischen Spielen durchgeführt wurden. ("Viele Bewohner der Volksrepublik fühlen sich bei der Vertreibung des "Na’vi" genannten Volkes in dem Film an ihr eigenes Schicksal erinnert", berichtet die Süddeutsche am 19.1.2010.)
Schlimm finde ich es, dass Eltern eine 16-jährige die Welt umsegeln lassen oder ihren 13-jährigen Sohn zu einer Mount-Everest-Besteigung mitnehmen wollen.

Hebbel über die Kindheit

"Das Kind hat eine Periode, und sie dauert ziemlich lange, wo es die ganze Welt von seinen Eltern, wenigstens von dem immer etwas geheimnisvoll im Hintergrund stehenbleibenden Vater abhängig glaubt und wo es sie ebenso gut um schönes Wetter wie um ein Spielzeug bitten könnte. Diese Periode nimmt natürlich ein Ende, wenn es zu seinem Erstaunen die Erfahrung macht, daß Dinge geschehen, welche den Eltern so unwillkommen sind wie ihm selbst die Schläge, und mit ihr entweicht ein großer Teil des mystischen Zaubers, der das heilige Haupt der Erzeuger umschließt, ja es beginnt erst, wenn sie vorüber ist, die eigentliche menschliche Selbstständigkeit. (in: Kindheiten, dtv 1459, Seite 64) 

"Schon in der Kleinkinderschule finden sich alle Elemente beisammen, die der reifere Mensch in potenzierterem Maße später in der Welt antrifft. Die Brutalität, die Hinterlist, die gemeine Klugheit, die Heuchelei, alles ist vertreten, und ein reines Gemüt steht immer so da wie Adam und Eva auf dem Bilde unter den wilden Tieren. Wieviel hiervon der Natur, wieviel der ersten Erziehung oder vielmehr der Verwahrlosung von Haus aus beizumessen ist, bleibe hier unentschieden: Die Tatsache unterliegt keinen Zweifel. Das war auch in Wesselburen der Fall." (in: Kindheiten, dtv 1459, Seite 66)



Mehr zu Kindheit

29 April 2018

Karl-Heinz Göttert: Deutsch. Biografie einer Sprache

Rezensionen von: Göttert: Deutsch. Biografie einer Sprache

"Spannend, oft überraschend und insgesamt die unterhaltsamste Sprachgeschichte [...] von einem mentalitäts- und sozialhistorischen Blickwinkel aus alle wichtigen Stationen der Sprachentwicklung [... z.B.] frühneuzeitliche Verwaltungssprache oder Besonderheiten der Sprache der Nationalsozialisten [erfasst ... und kann] mit so mancher Überraschung aufwarten, etwa dass die Mystikerinnen mit ihrem "sexuellen Wahn" entscheidenden Einfluss auf abstrakte Wortbildungen mit Endungen auf "heit" oder "keit" hatten [...]"*
(perlentaucher über Claude Haas in Die ZEIT, 18.03.2010)

*"Neuland erobert Mechthild [...] in wortbildnerischer Hinsicht. Man hat dies immer schon an den Abstrakta abgelesen [...] auf -heit, -keit, -ung(e) [...] Auch Bekenntnis (bekenntnisse) und Finsternis sind Abstraktbildungen, die typisch sind" (Göttert: Deutsch, S.113)

Zum Text:

Hildebrandslied

Heliand

Otfrid von Weißenburg


Sachsenspiegel

Die älteste Überlieferung ist hochdeutsch geschrieben.

"
Des Königs Straße soll sein so breit, dass ein Wagen dem anderen ausweichen kann. Der leere Wagen soll weichen dem beladenen und der weniger beladene dem schweren. [...] Welcher Wagen zuerst auf die Brücke kommt, der soll zuerst darüber fahren, er sei leer oder beladen.

(Denn) wer zuerst zur Mühle kommt, der soll zuerst malen.
Eine berühmte Stelle des Mühlensprichworts wegen, das übrigens aus dem römischen Recht stammt. Nur ist die Mühle, wie man deutlich sieht, gar nicht der Witz an der Sache, sondern nur eine Art bildliche Stütze. Worum es geht, ist das Verkehrsrecht. Und tatsächlich ist der Grundsatz der Vorfahrt nach dem Sachsenspiegel noch in einem Bundesgerichtsurteil von 1952 bestätigt worden [...]" (Göttert: Deutsch, S.98)

Sprachgesellschaften

Überall in Europa war man der Überzeugung, dass nur über die Muttersprache Bildung in weite Kreise zu tragen, nur von der Muttersprache hier nationale Identität zu begründen sei. [...]
Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen kannte die Idee also aus Italien und hatte deren großen Triumph vor Augen: den Abschluss eines italienischen Wörterbuchs im Jahre 1612. Die Gründung der FruchtbringendenGesellschaft auf Schloss Hornstein knüpfte Schon im Namen an die Nahrungsmetaphorik der Italiener an und verfolge auch die gleichen Ziele wie das italienische Vorbild. [...]
Dabei war die fruchtbringende Gesellschaft in erster Linie eine "Gesellschaft", ein Kreis von gleich gesinnten, der Sprachpflege als Teil höfischer Unterhaltung betrieb. [...]
Was heute noch Rang und Namen hat, war vertreten: Martin Opitz genauso wie Andreas Gryphius, die bedeutenden Dichter des Barock, weiter die Theoretiker, die heute weniger bekannt sind: Philipp von Zeesen und Justus Georg Schottel(ius) vor allem [...]
Sie standen im Wesentlichen in Korrespondenz miteinander, trafen sich aber auch gruppenweise und diskutierten anstehende Fragen, so wie im Jahre 1624, als man sich mitten in den Kriegswirren über die richtige Eindeutschung von materia auseinandersetzte. Günter Grass hat in seinem Treffen in Telgte eine solche Diskussionsrunde beschrieben, wobei er ihr freilich Züge der Gruppe 47 aus seiner eigenen Zeit verlieh." (S.174/75)

"Im Süden entstand in Straßburg die Aufrichtige Gesellschaft von der Tannen, in Nürnberg gründete Georg Philipp Harsdörffer zusammen mit Johann Klaj den Pegnitzischen Blumenorden. Im Norden bildete sich unter Philipp von Zeesen die Deutschgesinnte Genossenschaft, in Hamburg, wo mit dem [...]  Elbschwanenorden dann sogar eine Konkurrenz in der eigenen Stadt entstand. (S.176) 

"Fürst Ludwigs sehnlichster Wunsch nach einem Wörterbuch ging erst sehr spät in Erfüllung: Mit Caspar Stieler realisierte es bis 1691 immerhin ein ehemaliges Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft, die (nach dem Tod ihrer Gründer) zu dieser Zeit längst untergegangen war. Was zuerst zustande kam, war 1638 der Entwurf einer deutschen Sprachlehre, den Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen beim Rektor des Halleschen Gymnasiums, Christian Gueintz, in Auftrag gegeben hatte und der 1645 zur Deutschen Rechtschreibung* ausgeweitet wurde." (S.177)
*Die Deutsche Rechtschreibung. Hildesheim [u. a.]: Olms 2008 (Ndr. d. Ausg. Halle 1645, hrsg. von Claudine Moulin)

"Weil eine Zentrale mit einer gewissermaßen "natürlichen" Vorrangstellung ihrer Sprache (wie in London, Paris oder Amsterdam) fehlte, entstand mehr jedenfalls als bei allen vergleichbaren europäischen Nachbarn die deutsche Einheitssprache am Schreibtisch der Gelehrten, auch wenn diese nur tatsächlich Vorhandenes aufgreifen und disziplinieren konnten." (S.184)

Aufklärung

Um 1683 und dann noch einmal knapp 15 Jahre später, 1697, setzte sich einer der bekanntesten der bedeutendsten Gelehrten Europas an den Schreibtisch und verfasste Denkschriften zur Rettung der deutschen Sprache es war Gottfried Wilhelm Leibniz. [...]
Letztlich war es nicht Berührungsangst, die bei Leibnitz den Alarm auslöste, sondern etwas ganz anderes, eine philosophische Überlegung. Seine eigentliche These lautet nämlich: eine Sprache muss rein sein, nicht im Sinne einer ästhetischen, auch nicht einer politischen, sondern einer rationalen Perspektive. Sprache dient dem Denken, sie ist ein heller Spiegel des Verstandes, eine Dolmetscherin des Gemüts und eine Behalterin der Wissenschaft. Der Zustand der Sprache, so lässt sich paraphrasieren zeigt den Zustand des Verstandes an, in der Sprache drückt man sein Inneres aus, alles wissen ist sprachlich abgelegt. Daraus ergibt sich: Nur wo man gut spricht bzw. schreibt, da denkt man auch gut." (Göttert: Deutsch,  S. 206 u. 208)

Christian Wolff verwirklichte die Ideen von Leibniz. Er forderte nicht nur, dass Wissenschaftler auf Deutsch schreiben sollten. Er tat es auch. (S.210)

"Gottsched will, dass man spricht, wie man schreibt." (S.214)

Adelung schuf dann "sein großes Werk: das Grammatisch-kritische Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart" (1774-84) 1781 seine Deutsche Sprachlehre (vgl. auch s-Schreibung).(S.216) "Der aus der Lausitz stammende Lessing wird nicht berücksichtigt, weil seine Sprache zu wenig dem Hochdeutschen entspreche." (S.219)
1807-1813 erscheint dann das Wörterbuch der Deutschen Sprache in 5 Theilen" von Campe. Den "Schwerpunkt seiner Auswahl" (S.222) bildete die Literatursprache, inzwischen inklusiive Lessing. "Einzelne Persönlichkeiten konnten nur die Sprache prägen und taten es." (S.222)

Literatursprache

"1740 machte die religiös-erbauliche Literatur noch 40 Prozent aller Veröffentlichungen aus, bis 1800 sankk ihr Anteil auf 6 Prozent." (S.223) Sprache wurde zum Ausdruck des Selbstgefühls.
"Wie sich der Sturm und Drang kaum zwei Jahrzehnte behauptet hatte, so sollte allerdings auch die neue Welt der Klassik kaum mehr als zwei Jahrzehnte und angefochten Bestand haben." (S. 231)
"Goethe und Schiller schufen die Sprache der Klassik: eine Literatursprache höchsten Ranges. Aber auch sie war ganz und gar an ihre historische Stunde gebunden." (S.239)


Germanistik
"Bis zum Beginn des 20. Jahrhundert waren Germanisten Mittelalterspezialisten, der erste rein neugermanistische Lehrstuhl wurde erst 1916 für den Stefan-George-Freund Friedrich Gundolf in Heidelberg errichtet." (S.255)

Nationalismus
"Überall ging die Nationbildung mit Sprachnationalismus zusammen." (S. 259)
"Nach Gründung des Deutschen Reiches nahm der Nationalismus immer imperialistischere Züge an. Die polnische Bevölkerung gehörte zu den "Reichsfeinden". 1885 wurden fast 50.000 Menschen mit angeblich "ungeklärter Staatsangehörigkeit" aus den preußischen Ostprovinzen vertrieben, wo ist die seit Jahrhunderten gelebt hatten." (S. 272)

Stil und Jargon
"Die moderne deutsche Prosa ist ein Kind der (späten) Aufklärung, die sich selbst gerne als Popularphilosophie bezeichnete". (S.279) "[...] Lessing hat mit dieser Sprache das Feuilleton erfunden, die Verbindung von Informationen mit anregenden Witz." (S.281/82) 

"Um 1800 begann sich vielmehr eine Schere zwischen Wissenschaft und Alltagswissen zu öffnen, die immer weiter auseinanderging." (S.286) "Was das europäische Ausland so nicht kannte, gehört ebenfalls zum "deutschen Sonderweg": eine Sprache der "Tiefe", bei der schon Kant die Gefahr des Unsinns angemahnt hatte." (S.287)
"Die März Revolution von 1848 brachte eine erste Verbesserung, 1874 hob das Reichspressegesetz die Zensur auf. In dieser Zeit entwickelte sich die Informationsflut zur Lawine: 200 Zeitungen an 150 Druckorten gab es um 1800, 3405 Zeitungen an 1884 Druckorten waren es um 1900. Binnen eines Jahrhunderts hat sich die Gesamtauflagenhöhe  vervierzigfacht." (S.289)
"Als äußeres Zeichen dieser hochsprachlichen Einheit kann die einzige Reform betrachtet werden, die auf immerhin halbamtlichen Wege verwirklicht wurde: die der Orthografie. Offensichtlich als Reaktion auf die Reichsgründung war es der Gymnasialdirektor Konrad Duden, der 1872 seine Deutsche Rechtschreibung vorlegte, die gegen damalige radikale Vorschläge einer Vereinfachung im phonetischen Sinne die Tradition vorsichtig weiterzuentwickeln suchte." (S.293)
"Um diese Zeit hatte auch die Hochlautung eine Normierung erfahren und zwar durch den Germanistikprofessor Theodor Siebs. Der gebürtiger Norddeutsche und Spezialist für das Friesische legt er seine (aufgrund der Herkunft wieder einmal norddeutsch geprägte) Deutsche Bühnenaussprache erstmalig 1898 vor. Schon im nächsten Jahr wurde das Werk für den Schulunterricht empfohlen und sollte später den Rundfunk prägen. Auch diese Seite der Normierung war also wieder einmal allein privater Initiative entsprungen. Um 1900 hatte die deutsche Sprache jedenfalls ein Ziel erreicht, das noch wenige Jahrhunderte zuvor undenkbar schien. Die Hochsprache war Wirklichkeit geworden, der Dialekt auf eine Art privates Register zurückgedrängt." (S.294)

Literarische Moderne
"1890 tauchte der Begriff der "Moderne" in Proklamationen auf, seit 1892 erschien die Zeitschrift Die Zukunft." (S.296)
"In 40 Jahren - von 1889 bis 1929 - bot die literarische Avantgarde in Deutschland eine sprachliche Innovation, wie sie nie zuvor gewagt worden war. Ein Hauptgrund liegt in philosophischen Anregungen, die man als linguistic turn, als Wende von einer Philosophie des Seins zu einer Philosophie der Sprache, zusammengefasst hat. Ein weiterer Grund liegt in den wissenschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklungen dieser großen Krisenzeit. [...]
Aber natürlich überlebte diese Literatur auch Verfolgung und Bücherverbrennung. Ihre Sprachtechniken wie etwa Zerstückelung und Montage fanden später, dann freilich ohne das einstige Pathos der Desillusionierung, auch Eintritt in die Praxis des Journalismus und die Werbung. Als bloßes Handwerkszeug stehen sie nun einer Sprache der Öffentlichkeit zur Verfügung." (S.313)


Lingua Tertii Imperii
Victor Klemperer hielt "minutiös Veränderungen der Sprache fest, die er in Zeitungen, Hörfunk und im mündlichen Umgang wahrnahm, und arbeitete das Material dann zu einer Studie über den Nazijargon aus. LTI steht für Lingua Tertii Imperii, für die Sprache des "Dritten Reiches".  Klemperer behielt die Abkürzung im Titel bei, die einst zum Schutz gegen allzu schnelle Entdeckung diente, aber auch eine Parodie auf die Abkürzung Sprache der Nazis darstellte. (S.314)
Dabei weiß man heute, dass Klemperer in einem entscheidenden Punkte von falschen Vorstellungen ausging: Er sah die Sprache als Verführerin, hielt einzelne Wörter für ein Gift, das das Bewusstsein der damaligen Leser und Hörer angriff und all die Verbrechen der Nationalsozialisten ermöglichen half. [...]
In Wirklichkeit hat ein halbes Jahrhundert sprachwissenschaftlicher Forschung gezeigt, dass die Mittel der Sprache begrenzt sind, dass Sprache nicht selbst "verführt" oder das Denken "lenkt", sondern dass Verführung immer nur von den Benutzern der Sprache ausgeht - zum Beispiel in Form von verbrecherischen Versprechen. Eine viel zitierte Formel für diese Erkenntnis lautet: "Unschuld der Sprache und Schuld der Sprechenden" (Konrad Ehlich)." (S.315)
"Auf dem ersten Höhepunkt des Sieges über Polen und Frankreich schaffte Hitler im Januar 1941 zum großen Erstaunen viele Anhänger die "deutsche Schrift", die seit Luther gepflegte Fraktur, ab. Übrigens sollte eine Rechtschreibreform folgen, die ebenfalls auf "Modernisierung" abzielte, in diesem Falle auf Einfachheit, Klarheit (woran die Reform von 1998 inhaltlich durch aus anschloss).
Sprache im Nationalsozialismus - so lässt sich zusammenfassen - kann in erster Linie nur "Prägung" der Sprache im faschistischen Sinne bedeuten, Verwendung von Wörtern im Kontext einer den öffentlichen Raum monopolisierenden Diktatur. Eine andere Frage ist es, wieweit diese "Prägung" nach 1945 weiter wirkte." (S.320)
"An der Tatsache der Sprachregelung, wie sie insbesondere von Goebbels' Ministerium für Propaganda und Volksaufklärung verordnet worden wa,r besteht kein Zweifel. In Reichspressekammer, Reichskulturkammer und Reichsfilmkammer wurden genaue Anweisungen formulieren, an die man sich halten musste. [...]
Es ist auch interessant, dass sich das NS-Regime von einer behördlichen Sprachpflege überhaupt wenig versprach: das Sprachpflegeamt, das 1935 gegründet wurde, führte von Anfang an ein Schattendasein. Goebbels letzte offenbar mehr auf die 1923 gegründete Deutsche Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums, die 1932 das erste Goethe-Institut gründete und damit weltweit Einfluss auf die Verbreitung der deutschen Sprache nehmen sollte. Dieser Institution wurde 1941 das vom Deutschen Sprachverein so ersehnte institutionelle Sprachamt inkorporiert." (S.324)


Geteiltes und vereintes Deutschland
"Anfangs wurde gerade im Osten der "Fortbestand der Spracheinheit", die "gemeinsame Nationalsprache" betont, bevor Walter Ulbricht in den 1970er Jahren offen auf den Bruch hinsteuerte: "Die Sprache der Hitlergenerale, der Neonazis und Revanchepolitiker gehört nicht zu unserer deutschen Sprache, zur Sprache der friedliebenden Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, die wir lieben, schätzen und weiterentwickeln", hieß es damals. Eine eigene Orthografiereform scheiterte nur am Einspruch Moskaus, das seinen Germanistikstudenten nicht zweierlei Schreibweisen aufhalsen wollte." (S.333)
Ab 1984 kam es aber zu einem "Rückzieher" und es wurde ein sachlicher Sprachvergleich angestrebt.
"Man konzentrierte sich dabei vor allem auf das Vokabular, auf die Differenzen im Wortschatz zwischen dem DDR- und dem BRD-Deutsch. Tatsächlich waren diese nicht gering, Man zählte je nach wissenschaftlichen Ansatz zwischen 800 und 3000 Abweichungen. Bei einem Sprachvergleich zwischen den Tageszeitungen Die Welt und Neues Deutschland ergaben sich beispielsweise für das aus dem Finanzbereich stammende Wort Abschreibung 181 Nennungen im westdeutschen und 0 im ostdeutschen Blatt. Bei Aufsichtsrat betrug das Verhältnis 231 zu 6, bei Arbeiterklasse 3 zu 589, bei Arbeitsnormen 1 zu 23. (S.333)


Kein Österreichisch, kein Alemannisch"Als Exkurs sei ein Blick auf zwei unserer Nachbarstaaten geworfen, in denen ebenfalls deutsch gesprochen wird: auf Österreich mit Deutsch als alleiniger Amtssprache und auf die Schweiz, in der Deutsch eine von insgesamt vier Amtssprachen (neben Französisch, Italienisch und Rätoromanisch) darstellt. 
[...] tatsächlich machten sich Bestrebungen bemerkbar, ein eigenständiges Österreichisch [...] zu etablieren.Entsprechend fahndete man auch hier nach Abweichungen vom Sprachgebrauch des Nachbarlandes, um auf diese Weise zu einem Österreichischen Wörterbuch zu kommen, das erstmals 1951 erschien und bis 1990 immerhin 37 Auflagen erlebte.
Allerdings halten sich die Austriazismen (also nur in Österreich gebräuchlichen Wörter) in Grenzen, sie machen mit etwa 4000 Einträgen nur 2 % der Gesamtsprache aus. Feber statt Februar, Fleischhauer statt Metzger sind Beispiele, auch Redewendungen wie Küss die Hand. Hinzukommen wienerische Regionalisten Jänner oder Fiaker, spezieller italienischer (Kassa, Paradeiser) und französischer Einfluss (Billeteur, pressieren). All dies summiert sich kaum zu einer eigenen Nationalsprache [...]" (S.338)
"[...] wenn von 36 im Österreichischen Wörterbuch aufgenommenen Austriazismen nur 5 im Duden fehlten, wird deutlich, dass jedenfalls auf der Wörterbuchebene kein
Auseinanderdriften des Deutschen in Deutschland und Österreich zu erwarten ist.
Auf ganz andere Verhältnisse trifft man in der Schweiz. Hier ist die deutsche Hochsprache zu 99 Prozent Schriftsprache, gesprochen wird außer in offiziellen Verlautbarungen oder in den Medien Schwyzertütsch, das selbst wieder in regionale Dialekte zerfällt [...]. Der in den 1930er Jahren unternommene Versuch, aus diesem Schwyzertütsch eine eigene Nationalsprache Alemannisch zu machen, wurde aufgegeben. Es blieb allerdings bei der strikten Trennung zwischen Schreib- und Sprechsprache." (S.339)

Fachsprachen und Jargon
"[...] Wer etwa das Buch Deutsch für Profis des langjährigen Leiters der Hamburger Journalistenschule, Wolf Schneider, aufschlägt sieht sich mit Forderungen nach gutem, interessanten und verständlichem Stil konfrontiert. [...]
Freilich zeigt sich auch, dass gute Journalisten nicht gute Kenner der Sprachgeschichte sein müssen. Wenn sich Schneider gegen atlantische Tiefausläufer als Geschwister von mailichen Bäumen oder halbseidenen Strumpffabrikanten richtet, übersieht er die seit alters als besonderes Stilmittel geschätzte "Vertauschung" der logischen Beziehung zwischen Adjektiv und Substantiv (in der Rhetorik Hypallage genannt). Jacob Burkhardts Buch Weltgeschichtliche Betrachtungen hieße also nicht besser Betrachtungen zur Weltgeschichte. (S.345)
"Schon immer hat Jargon zur Abgrenzung nach außen und Festigung nach innen gedient (Müslifresser, Mantafahrer). Jetzt wird er in der Standardsprache zitierfähig und vererbbar. Nicht das sprachlich Neue ist das Neue, sondern die schwindelerregende Schnelligkeit seiner Produktion und des Verbrauchs.
Vorreiter hinsichtlich der Entwicklung solcher sondern Sprachen war die Studentenbewegung der 68er, [...] Sehr bald zerfiel die Bewegung in Untergruppen, die den Frieden oder die Ökologie, die Bekämpfung der Atomkraft oder die Frauenemanzipation ins Zentrum ihre Bemühungen stellten. Von diesen Gruppen erlangte die zuletzt genannte die größte Wirkung, ja eroberte als feministische Sprachkritik bzw. feministische Linguistik Lehrstühle an den Universitäten." (S.346/347)
"Der PONS-Verlag gibt seit 2001 ein jährlich bearbeitetes Wörterbuch der Jugendsprache heraus, indem 480 wann neue Wörter besprochen und in andere Sprachen übersetzt sind: im Jahre 2008 von Aalkatchen bis Zockerweibchen." (S.348)

"Skinheads und Punks sind nur als soziale Erscheinungen einer extrem komplex gewordenen Gesellschaft zu begreifen. Etwas wieder anderes stellt die Jugendszene da, die sich im Lager der Migranten, speziell der dritten Generation ausgebildet hat. Auch hier gibt es eine bemerkenswerte sprachliche Entwicklung. Der [...] türkischstämmige deutsche Autor Feridun Zaimoglu hat dies in seinem Buch Kanak Sprak von 1995 beschrieben. Junge Türken, die gewohnt waren, als Kanaken beschimpft zu werden, haben den Begriff ins Positive gewendet und damit ihre zwischen den Kulturen changierende Sprache als Identitätssymbol aufgewertet. [...]
In diesem Fall geht es weniger um ein Aufbegehren gegen gesellschaftliche Verhältnisse als um den Versuch, unter Verletzung von sprachlichen Standards die eigene Kreativität unter Beweis zu stellen. (S.349)
"Aus der Sicht der Sprachgeschichte dürfte die Pointe jedoch darin liegen, dass die deutsche Sprache an ihren Flanken Sonderbildungen erhält, die auf die eine oder andere Weise auch den Standard beeinflussen." (S.351)

Zum Schlusskapitel über die heutige Situation der deutschen Sprache.

24 April 2018

Musil, Stefan Zweig und seine Schachnovelle

Das Urteil der Mit- und Nachwelt über den Wert des Werks von Stefan Zweig ist uneinheitlich und widersprüchlich. Im Vergleich zu anderen Autoren der Moderne wie Robert Musil oder Franz Kafka wird Zweigs Erzählform als allzu traditionell, seine Sprache als rhetorisch oder gar manieriert kritisiert. Andererseits war Stefan Zweig zu Lebzeiten einer der meistgelesenen, auch vom Fachpublikum geachteten Autoren. Auch heute werden seine zahlreichen Werke, vor allem seine Erzählungen, Essays und biografischen Erzählwerke immer wieder Neuauflagen. Die "Schachnovelle" ist in vielen Schulen dauerhaft zur Klassenlektüre geworden. 

Schachnovelle (Wikipedia) 
Verfilmung 1960  (Wikipedia) 
Verfilmung 2021  (Wikipedia) 
zur Verfilmug 2021 SZ 22.9.21

Ein Journalist, der Musil Mitte der dreißiger Jahre in Wien besucht hat, berichtet, er sei mit den Worten begrüßt worden: "Sie sehen hier eine gescheiterte Existenz." Koketterie oder vielleicht doch ein heller Augenblick? Die Musil-Forschung will uns einreden, Musil sei in der Tat gescheitert, doch auf höchster Ebene, seine Niederlage sei ein Sieg, sei in Wirklichkeit ein Triumph, ja, gerade dieses Scheitern zeuge von der Größe und von der Modernität seines Werks. Die Wahrheit ist: "Der Mann ohne Eigenschaften" war misslungen und Musil tatsächlich ein ganz und gar gescheiterter Mann. Aber warum eigentlich?
Seine Bewunderer rühmen gern Musils fanatische Hingabe an sein Hauptwerk. Das ist in der Tat nicht zu bestreiten, nur trifft es den wunden Punkt. Denn noch nie hat der Fanatismus das kritische Bewusstsein begünstigt, vielmehr schließen sie sich gegenseitig aus. Vom mehr oder weniger manischen Sendungsbewusstsein geblendet, wurde Musil in wachsendem Maße zu einem unglücklichen, weltfremden Individuum.
Schon in den zwanziger Jahren fiel es ihm schwer, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. In den dreißiger Jahren wurde seine Not, da er sich fast ausschließlich dem "Mann ohne Eigenschaften" widmete, immer schlimmer. Musil lebte zusammen mit seiner Frau in Wien, in einer dürftigen, einer engen und ärmlichen Wohnung ohne fließendes Wasser, "mit dem Wasserhahn draußen im Treppenhaus". Karl Corino hat das erkundet. Doch auch für dieses kümmerliche Dasein fehlten Musil die Mittel. Er war auf Almosen angewiesen: Einige Schriftsteller und Literaturfreunde, die sein Elend sahen, gründeten, um ihm zu helfen, eine "Musil-Gesellschaft", deren Mitglieder sich verpflichteten, allmonatlich kleine Beträge für Musil zu spenden. So bescheiden sie auch waren, so reichten sie aus, das Existenzminimum für ihn und seine Frau zu sichern. Um doch etwas Geld zu verdienen, wollte er nebenher, ebenfalls in den dreißiger Jahren, einen Kriminalroman verfassen. Er sollte beweisen - mit Selbstlob hat Musil ja nie gespart -, "dass er das auch, und noch besser, könne". Er konnte es nicht, natürlich ist nichts daraus geworden.
Weil er sich selber stets im Wege stand, weil ihm seit Mitte der zwanziger Jahre so gut wie nichts gelingen wollte, wurde er mit der Zeit zu einem verbitterten und gehässigen Menschen. Seine unsägliche, seine verbissene Wut ließ er an allen Schriftstellern aus, die erfolgreich waren, vor allem an Thomas Mann, Franz Werfel, Stefan Zweig und Emil Ludwig. Als Musil im Schweizer Exil von den Behörden bedrängt wurde und ihm die Ausweisung drohte, sagte ihm Hans Mayer, er und seine Frau könnten die Erlaubnis zur Einreise nach Kolumbien er soll Mayer knapp und missbilligend erklärt haben, warum für ihn der ganze südamerikanische Kontinent nicht in Betracht komme: Da sei bereits Stefan Zweig. Ob sich das Gespräch so abgespielt hat oder nicht - es ist charakteristisch für Musils Hass auf alle Schreibenden, die Beachtliches zu Stande gebracht hatten."
(Marcel Reich-Ranicki: Musils Fiasko, 19.8.2002)


"[...] set against the gargantuan modernist tomes being written at the time, Zweig's novellas seemed pedestrian and quaint. Hofmannsthal and Joseph Roth both dispraised him, Thomas Mann plainly thought him a bad writer, and when a friend suggested to Robert Musil that he apply for a visa to Colombia in 1940, Musil protested on grounds of proximity: “Stefan Zweig’s in South America.” For Musil, apparently, anywhere in the same continent with Zweig was too close for comfort."


Yet in the cultural milieu of fin-de-siècle Vienna, the same environment that produced Arthur Schnitzler and Hugo von Hofmannsthal, Robert Musil and Joseph Roth, Zweig was neither genius nor alchemist. We remember him first as a tragic victim of his own dark times, second as a Viennese bon vivant who knew everyone worth knowing—Sigmund Freud, Theodor Herzl, Romain Rolland, the list goes on—and only third as a writer, whose work has been called the “Pepsi of Austrian writing.”
After all, there is also more than a little to dislike about Zweig himself. Born in 1881 as the scion of a prosperous Moravian textile family, Zweig possessed wealth that, at least for a time, shielded him from the brutal political realities of his era, which he often refused to confront. As he wrote to Rolland in 1932: “I don’t fear the Hitlerians, even if they reach power—in two months they will devour each other.” When “the Hitlerians” did not devour each other, Zweig, whose books, because he was a prominent Jewish intellectual, had been burned in 1935, still refused to speak out against Nazi brutality. “I would never speak out against Germany,” he said on a visit to New York that same year. “I would never speak against any country.” In a striking lack of solidarity, he even continued to collaborate with Richard Strauss, then the head of the Reichsmusikkammer, on the libretto for The Silent Woman well into 1935, after the Nuremberg Laws had banished the majority of his fellow Jewish artists from their crafts.

21 April 2018

Wind am Fuji

Wie gerne nähm' ich

in meinem Fächer

ein wenig Wind vom Fuji heim!



                                 
(zitiert nach: "Ihr gelben
Chrysanthemen" Salzburg 1971, S.17)                                 



17 April 2018

Bernhard Schlink: Olga, Die Frau auf der Treppe, Interview u.a.

Befragt nach der Motivation seiner Schriftstellertätigkeit, antwortete Schlink in einem Interview: „Ich schreibe aus demselben Grund, aus dem andere lesen: Man will nicht nur ein Leben leben.“[4]

"Wenn man will, findet man oft, wonach man sucht. Im neuen Roman von Bernhard Schlink zum Beispiel lässt sich bald etwas entdecken, das auf seinen großen Erfolg, auf den „Vorleser“ hindeutet: Ein junger Mann fühlt sich zu einer älteren Frau hingezogen. So vertraut wie mit ihr geht er mit keinem Menschen um. Sie lehrt ihn vieles anders, als er es in der Schule gehört hat. Damit enden die Parallelen aber schon.
Diese Frau, Olga, sie gab dem Buch den Titel, ist belesen, hat einen kritischen Blick auf die Gesellschaft. „Sie hatte den Nationalsozialismus von Anfang an abgelehnt – wieder sollte Deutschland zu groß werden, nachdem Bismarck es schon zu groß gewollt und gemacht hatte.“ Der junge Mann, Ferdinand, fungiert im zweiten Teil des Romans als Erzähler. Er lernt Olga als Näherin kennen, die bei ihm zu Hause herrichtet, was seine Mutter für sie zurechtlegt. [...]" (Die Königskinder, die zueinander kommen durften, Cornelia Geissler FR 13.1.18

Bernhard Schlink: "Wir haben ein Vaterland und eine Muttersprache - ist das nicht schön?" Interview mit  Cornelia Geissler FR 17.4.18, S.32/33

"Ich habe für die große Koalition gestimmt. Nachdem die Parteiführung den Karren in den Dreck gefahren hatten, blieb nichts anderes übrig. Klaus Staeck und ich hatten der SPD vorgeschlagen, mit fünf Forderungen auf zwei Jahre in eine große Koalition zu gehen und dann Neuwahlen abzuhalten, zwei plus fünf. Das wäre besser gewesen als das "buisiness as usual", das jetzt wieder kommt. [...] Mich schmerzt der Niedergang der SPD."
Schreiben Sie denn noch mit der Hand?
"Je nachdem, wie ich anfange. Wenn ich eine Geschichte mit der Hand anfange, unterwegs, im Zug, auf einer Parkbank, schreibe ich sie auch so weiter."

Bernhard Schlink „Die Frau auf der Treppe
Bernhard Schlink: Sommerlügen
Bernhard Schlink: Das Wochenende  Fernsehverfilmung


In der Wikipedia:

16 April 2018

Heine: Atta Troll Caput 11 ff

Heine verdankt die Idee zu Atta Troll Freiligraths Mohrenfürsten, aber dieses Versepos wäre genauso vergessen wie Freiligraths  Gedicht, wenn es nicht höchst virtuos den verschiedensten Anforderungen gerecht würde: Literatursatire, romantische Naturschilderung, elegante Verse, raffinierte Sprachspiele und sprühender Witz. 
Vieles wird bereits in der Wikipedia aufgezeigt. Hier sollen einige der witzigen Stellen angeführt werden, an die man sich meist nur ungenau erinnert und die man nicht leicht wiederfindet. 

Schlimmer als der Zorn von tausend
Elefanten ist die Feindschaft
Einer einz'gen kleinen Wanze,
Die auf deinem Lager kriecht.


Mußt dich ruhig beißen lassen –
Das ist schlimm – Noch schlimmer ist es,
Wenn du sie zerdrückst: der Mißduft
Quält dich dann die ganze Nacht.
[375]
Ja, das Schrecklichste auf Erden
Ist der Kampf mit Ungeziefer,
Dem Gestank als Waffe dient –
Das Duell mit einer Wanze!
Und sie starb in Liebeswahnsinn.
(Liebeswahnsinn! Pleonasmus!
Liebe ist ja schon ein Wahnsinn!)
Endlich ist der Sieg erfochten,
Und der Tag, der Triumphator,
Tritt, in strahlend voller Glorie,
Auf den Nacken des Gebirges.

Wolkenbruch! (Das Bruchband platzte.)
Kübelweis' stürzt' es herunter!
Jason ward gewiß auf Kolchis
Nicht durchnäßt von solchem Sturzbad.

»Einen Regenschirm! ich gebe
Sechsunddreißig Könige
Jetzt für einen Regenschirm!«*
Rief ich, und das Wasser troff.
*Shakespeare: Richard III. 

Atta Trolls Tochter hat sich in einen Menschen verliebt:
Ja, sie liebt ihn, ihn, den Erbfeind!
Oh, der unglücksel'gen Bärin!
Wüßt der Vater das Geheimnis,
Ganz entsetzlich würd er brummen.
[416]
Gleich dem alten Odoardo,
Der mit Bürgerstolz erdolchte
Die Emilia Galotti,
Würde auch der Atta Troll

Seine Tochter lieber töten,*
Töten mit den eignen Tatzen,
Als erlauben, daß sie sänke
In die Arme eines Prinzen!

Doch in diesem Augenblicke
Ist er weich gestimmt, hat keine
Lust, zu brechen eine Rose,
Eh' der Sturmwind sie entblättert.**
*Lessing: Emilia Galotti

Atta Troll hat eine Todesahnung und sagt:
Bin fürwahr nicht abergläubisch,
Bin kein Faselbär – doch gibt es
Dinge zwischen Erd' und Himmel,
Die dem Denker unerklärlich.*
* Shakespeare: Hamlet

In dem Tal von Ronceval,
Auf demselben Platz, wo weiland
Des Caroli Magni Neffe
Seine Seele ausgeröchelt,*

Dorten fiel auch Atta Troll,
Fiel durch Hinterhalt, wie jener,
Den der ritterliche Judas,
Ganelon von Mainz, verraten.
* Rolandssage


Also fiel der edle Held.
Also starb er. Doch unsterblich
Nach dem Tode auferstehn
Wird er in dem Lied des Dichters.


Auferstehn wird er im Liede,
Und sein Ruhm wird kolossal
Auf vierfüßigen Trochäen
Über diese Erde stelzen.


Der *** setzt ihm
In Walhalla einst ein Denkmal,
Und darauf, im ***
Lapidarstil, auch die Inschrift:


»Atta Troll, Tendenzbär; sittlich
Religiös; als Gatte brünstig;
Durch Verführtsein von dem Zeitgeist,
Waldursprünglich Sansculotte; [...]
Caput 24


Dacht ich dann an Schillers Worte:
Was im Lied soll ewig leben,
Muß im Leben untergehn!*

Heinrich Heine: Atta Troll

Heinrich Heine: Atta Troll

Heines Bär Atta Troll hat mit den Menschen schlechte Erfahrungen gemacht:

Atta Troll steht auf der Koppe
Seines Lieblingsfelsens einsam,
Einsam, und er heult hinunter
In den Nachtwind, in den Abgrund:
[369]
»Ja, ich bin ein Bär, ich bin es,
Bin es, den ihr Zottelbär,
Brummbär, Isegrim und Petz
Und Gott weiß wie sonst noch nennet.

Ja, ich bin ein Bär, ich bin es,
Bin die ungeschlachte Bestie,
Bin das plumpe Trampeltier
Eures Hohnes, eures Lächelns!

Bin die Zielscheib' eures Witzes,
Bin das Ungetüm, womit
Ihr die Kinder schreckt des Abends,
Die unart'gen Menschenkinder.

Bin das rohe Spottgebilde
Eurer Ammenmärchen, bin es,
Und ich ruf es laut hinunter
In die schnöde Menschenwelt.

Hört es, hört, ich bin ein Bär,
Nimmer schäm ich mich des Ursprungs,
Und bin stolz darauf, als stammt' ich
Ab von Moses Mendelssohn*

[...]
Jetzt sind freilich aufgeklärter
Diese Menschen, und sie töten
Nicht einander mehr aus Eifer
Für die himmlischen Intressen; –


Nein, nicht mehr der fromme Wahn,
Nicht die Schwärmerei, nicht Tollheit,
Sondern Eigennutz und Selbstsucht
Treibt sie jetzt zu Mord und Totschlag.


Nach den Gütern dieser Erde
Greifen alle um die Wette,
Und das ist ein ew'ges Raufen,
Und ein jeder stiehlt für sich!


Ja, das Erbe der Gesamtheit
Wird dem einzelnen zur Beute,
Und von Rechten des Besitzes
Spricht er dann, von Eigentum!


Eigentum! Recht des Besitzes!
O des Diebstahls! O der Lüge!
Solch Gemisch von List und Unsinn
Konnte nur der Mensch erfinden.


Keine Eigentümer schuf
Die Natur, denn taschenlos,[371]
Ohne Taschen in den Pelzen,
Kommen wir zur Welt, wir alle.


Keinem von uns allen wurden
Angeboren solche Säckchen
In dem äußern Leibesfelle,
Um den Diebstahl zu verbergen.


Nur der Mensch, das glatte Wesen,
Das mit fremder Wolle künstlich
Sich bekleidet, wußt auch künstlich
Sich mit Taschen zu versorgen.


Eine Tasche! Unnatürlich
Ist sie wie das Eigentum,
Wie die Rechte des Besitzes –
Taschendiebe sind die Menschen!


Glühend haß ich sie! Vererben
Will ich dir, mein Sohn, den Haß.
Hier auf diesem Altar sollst du
Ew'gen Haß den Menschen schwören!


Sei der Todfeind jener argen
Unterdrücker, unversöhnlich,
Bis ans Ende deiner Tage –
Schwör es, schwör es hier, mein Sohn!«


Und der Jüngling schwur, wie eh'mals
Hannibal. Der Mond beschien
Gräßlich gelb den alten Blutstein
Und die beiden Misanthropen. – –


Später wollen wir berichten,
Wie der Jungbär treu geblieben
Seinem Eidschwur; unsre Leier
Feiert ihn im nächsten Epos.
(Heinrich Heine: Atta Troll, Caput 9 und 10)

* Heine unterstellt dem Bären keine besondere  Konsequenz. Während Atta Troll hier Moses Mendelssohn als besonders ehrenvollen Ahnherren bezeichnet, hatte er die Juden im 6. Caput noch als minderberechtigte Säugetiere angesehen:

Atta Troll:
Einheit! Einheit! und wir siegen,
Und es stürzt das Regiment
Schnöden Monopols! Wir stiften
Ein gerechtes Animalreich.
[363]
Grundgesetz sei volle Gleichheit
Aller Gotteskreaturen,
Ohne Unterschied des Glaubens
Und des Fells und des Geruches.


Strenge Gleichheit! Jeder Esel
Sei befugt zum höchsten Staatsamt,
Und der Löwe soll dagegen
Mit dem Sack zur Mühle traben.


Was den Hund betrifft, so ist er
Freilich ein serviler Köter,
Weil Jahrtausende hindurch
Ihn der Mensch wie 'n Hund behandelt;


Doch in unserm Freistaat geben
Wir ihm wieder seine alten
Unveräußerlichen Rechte,
Und er wird sich bald veredeln.


Ja, sogar die Juden sollen
Volles Bürgerrecht genießen
Und gesetzlich gleichgestellt sein
Allen andern Säugetieren.


Nur das Tanzen auf den Märkten
Sei den Juden nicht gestattet;
Dies Amendement, ich mach es
Im Intresse meiner Kunst.
(Heine: Atta Troll Caput 6)

*Offenbar möchte Heine selbst die besondere Rolle Moses Mendelssohns herausstellen, während er dem Bären Atta Troll unterstellt, dass auch er die Juden für minderberechtigt hält.