01 April 2018

Zur Rolle der Phantasie beim Lesen

"Jeder erzählende Text, auch jedes Gedicht ist ja zwangsläufig auf die Phantasie des Lesers angewiesen. Der Autor hat seine Vorstellungen vom Ablauf des Geschehens, seine Vorstellungen vom Aussehen der handelnden Personen, von der Beschaffenheit des jeweiligen Schauplatzes auf ein paar wesentliche Bestandteile reduziert und in Worte gefaßt, die er dann zu Papier bringt. Der Leser muß seinerseits nicht nur die stummen Chiffren der Buchstaben entziffern und zu Wörtern zusammenfügen, er muß Wörter und Sätze auch wieder in Bilder umsetzen – mehr noch: er muß sie für sich selber mit allen Sinnen wahrnehmbar machen. Er muß nicht nur sehen, wovon der Autor erzählt, er muß auch hören, riechen und schmecken, mit Händen ertasten und mit dem Herzen nachfühlen.

Dies alles vermag er nur deshalb zu leisten, weil er über die Gabe der Phantasie verfügt. Und er wird es umso nachhaltiger aus sich hervorbringen können, je intensiver der Autor bei der Niederschrift seines Textes selber mit allen Sinnen daran beteiligt gewesen ist." 

(Das Otfried Preußler Lesebuch dtv 1988, S.119)

Jens Peter Jacobsens Darstellung des Frühlings und des Herbstes sind meiner Meinung nach treffende Beispiele dafür, dass der Autor sich beim Schreiben Situationen aus diesen Jahreszeiten intensiv vor Augen geführt hat. 
Freilich ist die Wahrnehmung über die Augen intensiver erfasst als die über andere Sinne. Deshalb wundert es mich nicht, dass meine Schwester, die bei den meisten ihrer Erinnerungen Bilder vor Augen hat, Jacobsen noch mehr zu schätzen weiß als ich. 
Jacobsen beschreibt aber nicht nur die Jahreszeiten so intensiv, nur habe ich andere besonders eindrucksvolle Beschreibungen  nicht so deutlich hervorgehoben.

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