Der Bewahrer dieses Tagebuches stammt aus einer französischen Flüchtlingsfamilie. Seinen Namen verrate ich nicht, da er ihn mit dem versiegelten Manuskript, das sein Nachlaß enthielt, nicht in Verbindung gebracht sehen will. Deutlich gesprochen: er verleugnet das hier zum erstenmal der Öffentlichkeit unterbreitete Tagebuch. Mit welchem Recht, entscheide ich nicht. Über die Gründe ließe sich streiten. Ich würde im gleichen Falle nicht so handeln. Leben, Lieben, Leiden ist allgemeines Menschenlos, und indem man dem Leben, Lieben und Leiden Worte verleiht, spricht man im Persönlichen doch nur das Allgemeine aus. Gewisse Dinge mit Schleiern verhüllen? Warum nicht, wenn es reiche und farbige Schleier sind! Aber dann nicht dort, wo es Wahrheit zu entschleiern gilt. Und dies, nämlich der Zwang dazu, das Bestreben, der Wahrheit ins Auge zu sehen, sich mit Wahrheit zu beruhigen, ist in den Selbstgesprächen dieses Tagebuches nicht zu verkennen. [...]
Das Manuskript ist nicht vollständig abgedruckt. Es lag mir daran, das Haupterlebnis herauszuschälen: ein Schwanken zwischen zwei Frauen, das sich seltsamerweise über zehn Jahre erstreckt, obgleich auf dem ersten Blatt scheinbar der Sieg einer von beiden entschieden ist. Dieser Fall ist verwickelt genug und darf nicht, wie es im Original geschieht, vom Gestrüpp des Lebens überwuchert werden, wenn man ihn in seinem organischen Verlauf begreifen soll. Ich möchte übrigens glauben, der Verfasser des Tagebuches würde in ebendieselbe Krisis verfallen sein, falls die beiden Frauen, hier Melitta und Anja genannt, zwei ganz andere gewesen wären. Er unterlag vielleicht einem Wachstumsprozeß seiner sich im Umbau erneuernden und ewig steigernden Natur und hätte, um nicht dabei zu scheitern, Anja erfinden müssen, wenn sie nicht glücklicherweise vorhanden gewesen wäre. Jedenfalls wird, wer bis zum Schlusse des Buches gelangt, unschwer erkennen, daß die Lebensbasis des Autors eine andere als die am Anfang ist. Sie ist höher, breiter und fester geworden. Auch die Welt um ihn her hat ein anderes Gesicht: das konnte nur ein Jahrzehnt harter innerer Kämpfe bewirken.
Agnetendorf,
Oktober 1929. Der Herausgeber
(G. Hauptmann:
Buch der Leidenschaft, Vorwort des Herausgebers)
"Ich bin über dreißig Jahre alt. Von meinen Kindern ist das älteste ein Junge von acht, das zweite ein Junge von sechs, das dritte ein Mädchen von kaum zwei Jahren. Vier Jahre war ich verlobt, woraus hervorgeht, daß ich zu denen gehörte, die warten können, und daß ich jung in die Ehe kam. Ich glaubte bisher durchaus nichts anderes, als daß nun mein ganzes Leben, und zwar bis zum letzten Atemzuge, in dieser Liebe gebunden sei. Außerhalb dieses festgefügten Familienweltsystems, darin meine Gattin für mich die Sonne, die Kinder und ich Planeten darstellten, lag für meine Begriffe nichts, was sein Bewegungsgesetz auch nur von fern zu ändern in der Lage war. [...]
Wir verfielen darauf, ein großes Autodafé anzurichten. Stöße von Liebesbriefen mußten her. Es war ein Fieber, wir waren irrsinnig. Alle steckten noch in den Umschlägen. Schübe und Kassetten wurden mit einem sinnlosen Eifer um- und umgekehrt, unsere Hände fuhren wie Wiesel in ihre Schlupflöcher. Alles mußte vernichtet sein. Das kleinste Zettelchen, das von unserer Liebe hätte zeugen können, wurde dem Feuer überliefert. Gut eine halbe Stunde lang und länger brannte der Papierberg hinterm Haus. Den Schnee zerschmelzend, hatte er sich bis zur nackten Wiesenkrume niedergesenkt. Wir standen dabei, die Kinder schürten das Feuer. So sündigten wir an den seligsten Jahren unseres Lebens, so vernichteten wir alle Wonnen, Sehnsüchte, Liebesbeteuerungen, alle diese heiligen Zeichen, bei denen der Gott der Götter uns die Hand geführt hatte. Wie grausig doch das Lachen der ahnungslosen Kinder anmutete! Ich habe gesehen, wie sie unter Schmerzen von ihrer Mutter geboren wurden, habe sie gebadet, auf dem Arm getragen, trockengelegt, habe sie betreut, wenn sie krank waren – und morgen will ich mich nun von ihrer Mutter und somit auch von ihnen abwenden! Meiner Wege will ich gehen und sie allein lassen in der Welt! Ist dies eine Sache, die man ausführen, ja, auch nur ein Gedanke, den man denken kann? Während das Feuer über dem Leichnam unserer Liebe zusammenschlug, der Wind hineinfuhr und die einzelnen papierenen Fetische der Vergangenheit auseinandertrieb, trug ich einen Fetisch verwandter Art heimlich auf der Brust, meinen Anja-Brief mit der Unterschrift »Dein Eigentum«, jenen, den ich verstohlen von der Post einer benachbarten Ortschaft geholt hatte. Und während die Kinder den einzelnen papierenen Flüchtlingen nachliefen und sie der Glut überlieferten, sprang dieser mit meinem Herzen, in dessen nächster Nähe er lag, wie der Reiter mit einem Füllen um. Heiß, heißer als irgendein im Feuer brennender war dieser Brief. Und wenn ich mir dessen bewußt werde, frage ich mich, wie es möglich ist, in einem Raum der Seele neben unendlichem Schmerz unendliches Glück zu beherbergen, wie es von diesem Zettelchen Anjas in jede Fiber meines Wesens schlug. Waren wir eigentlich und war ich eigentlich für das heute Geschehene noch verantwortlich? Ich fürchte nein, da ich nirgend einen Ausweg, nirgend ein Entrinnen sah. Ich hatte schreckliche Visionen. Sie bezogen sich auf mich selbst. Ich war der Henker, höllisch angeglüht, der in dem Feuer, darin er düster stocherte, nicht nur ein abstraktes, gewesenes Glück, sondern Weib, Kinder, Haus und Hof zu Asche werden sah. Und manchmal – es fehlte nicht viel – wollte er selbst in die Flamme hineinspringen. [...]
Berlin, am 5. Januar 1895.
Ich bin also wieder in Berlin, und meine Frau, an die ich fast jeden Tag schreibe, von der ich fast jeden Tag einen Brief erhalte, weiß, daß ich wieder mit Anja vereinigt bin. Wieviel Wochen, Monate, Jahre wird nun jeder Tag die zwei überaus schweren, finsteren Stunden haben: die eine, in der ich den neuen Brief der Verlassenen empfange, und die, in der ich ihn beantworte.
Aber es steigen große, kühne Pläne in mir auf. Warum soll es denn nicht wirklich möglich sein, statt zu trennen, zu vereinen? Oh, ich ahne, wie schwer dergleichen Versuche sind und wieviel moralischen Mut sie erfordern. Aber ich habe moralischen Mut. Warum soll ich nicht an die alles versöhnende, alles einende Kraft der Liebe glauben? [...]
Der Tagebuchschreiber hält sich seit einiger Zeit in Paris auf.
Im Postbüro des Hotels wurden mir zwei Briefe überreicht: wiederum gleichsam feindliche Brüder, die sich in meiner Brusttasche zu vertragen hatten, bis ich auf meinem Zimmer war.
Ich las zuerst Anjas Brief, da ich mich gleichsam durch einen frischen Trunk stärken wollte, bevor ich mich der schweren und schmerzlichen Aufgabe unterzog, einen Brief meiner Frau auf mich wirken zu lassen.
Noch hatte ich nicht die geringste Ahnung, welche eiserne Faust aus diesem Briefe emporfahren und gegen meine Stirn schmettern würde.
Ich öffnete also, ich las nun auch diesen Brief, worauf es mir vor den Augen buchstäblich schwarz wurde. Während der ersten Sekunden wußte ich nicht, ob ich das Opfer eines Attentats geworden oder ob die Decke des Raumes über mir zusammengebrochen war. Ich kämpfte um meine Besinnung, um meinen Verstand, um mein Leben wie ein Rasender. Mit Aufbietung einer verzweifelten Energie schwamm ich blind unter den Trümmern eines nächtlichen Schiffbruchs herum.
Es ist mir vollkommen gleichgültig, ob man diesen Zustand, wenn man seine Ursache erfährt, als einen unmännlichen bezeichnen will. Es gibt keinen Mann, keinen echten Mann, den er nicht überkommen könnte.
Als das erste schwache Verstandeslicht über dem Geschehenen schwebte, war mein Gefühl: nein, dies durfte nicht geschehen, eine solche furchtbare Grausamkeit habe ich um niemand, aber auch um niemand verdient! Nein: wer dieses mir zufügen konnte, der kannte entweder die Tragweite seines mörderischen Verfahrens nicht, oder aber er mußte mit der Möglichkeit eines tödlichen Ausganges für mich rechnen.
Und so richtete sich denn das dunkle Haupt meiner verlassenen Frau als das der Gorgo auf, deren Anblick den Menschen versteint.
Was stand nun eigentlich in dem Brief? Nur ein Kenner der Höhen und Tiefen der Menschennatur wird begreifen, wie ein so einfacher Inhalt solche Wirkungen haben konnte.
Also, was sagt der Brief meiner Frau?
Du hast, so schreibt sie ungefähr, durch Dein Verhalten gezeigt, daß ich auf eine Zukunft an Deiner Seite nicht mehr sicher rechnen kann. Ich vermag den Zustand der Ungewißheit nicht länger zu ertragen. Ich habe darum beschlossen, mein und meiner drei Kinder Leben auf eine neue Grundlage zu stellen. Unser Schiff verläßt, wenn alles gut geht, Hamburg am 31. Januar. Am 1. Februar wird es auf der Höhe von Southampton sein und dort Passagiere an Bord nehmen. Wir sollen bei glücklicher Fahrt am 8. oder 9. Februar in New York eintreffen. Was dort geschehen wird, weiß ich noch nicht. Ich habe eine Jugendfreundin verständigt, die dort verheiratet ist. Ich nehme an, sie wird mir die ersten Schritte auf fremdem Boden erleichtern. Ich konnte nicht anders handeln. Lebe wohl.
An Bord der »Möwe«, 5. Februar 1895.
Ich verließ mich sozusagen gestern in einem Zimmer des Hotels St-Lazare. Da ich ohne alle Beschönigung wahr zu sein entschlossen bin, will ich in der Schilderung jener Zustände fortfahren, in die ich durch den Brief meiner Frau geworfen wurde.
Der Schlag, welcher mich gänzlich unerwartet, gänzlich unvorbereitet und also gänzlich widerstandslos getroffen hat, war so stark, daß es eine Zeitlang zweifelhaft blieb, ob ich ihn lebend und, wenn lebend, mit gesundem Verstand überstehen würde. Die schrecklichste Angst, die mich inmitten der vollständigen Bestürzung und Verwirrung, in die ich geraten war, ergriff, war die Angst vor dem Irrenhaus. Im Begriff, mich umzuziehen, hatte ich meinen Hemdkragen abgeknöpft, meine Stiefel ausgezogen und einige Kleidungsstücke abgelegt. Da ich nun zwar nicht nach Hilfe schrie, aber doch irgendeine menschliche Hilfe suchte, wäre es notwendig gewesen, mich wieder salonfähig herzurichten. Dies aber war bei dem Zustand meines Gehirns in der ersten Viertelstunde ein Ding der Unmöglichkeit. Weder sah ich, noch fand ich einen Gegenstand, noch konnte ich, von dem Geschehnis hingenommen, irgendeinen der Handgriffe ausführen, die zum Anziehen von Schuhen und Kleidern notwendig sind. Ich konnte tobsüchtig, ich konnte durch einen Schlagfluß verblödet werden. Ich stürzte also ans Waschbecken und goß mir Wasser und immer wieder Wasser über den Kopf. Ich hatte dann das Gefühl, ich müßte etwas schnell Wirkendes, Stärkendes zu mir nehmen. [...]
An Bord der »Möwe«, 6. Februar 1895.
Die Meinen, Frau und Kinder – um den Faden von gestern wieder aufzunehmen –, schwammen also, während ich in der Halle des Hotels mit meinem Freunde sprach, bereits auf dem Atlantischen Ozean. Keine Macht der Welt vermochte sie dort mehr zu erreichen noch gar zurückzubringen. Eine solche Art Trennung war eine ganz andere als jene, die ich bis dahin ertragen hatte. Diese war ein Weh, mit dem ich zu leben vermochte, die neue Trennung riß mir das Herz aus der Brust. Ich glich jedenfalls einem schwer Verwundeten, der, wenn es nicht gelingt, das Blut zu stillen, verbluten muß. Unaufhaltsam schien es, unter stechenden Schmerzen, im Bewußtsein der unabwendbaren Tatsache hinzuschwinden, daß ein Schiff die Meinen mit jeder Minute weiter und weiter von mir entfernte, in die gefahrvollen Ödeneien des Ozeans und dann einer völlig fremden Welt. So waren sie also mindestens für Wochen von mir losgerissen. Was auch immer da draußen mit ihnen geschehen mochte, ich konnte ihr Schicksal weder lindern noch teilen. Sie waren für mich lebendig tot und hinwiederum ich lebendig tot für sie. Ich konnte nicht zu meiner armen Frau hineilen, konnte nicht vor ihr niederfallen und Abbitte tun. Ich konnte ihre furchtbaren Seelenqualen nicht durch das Bekenntnis meiner Reue und meiner neu erwachten, heißen, grenzenlosen Liebe in Freude verwandeln. Vielleicht unterlag sie ihren Qualen auf dieser Fahrt. Ein naher Verwandter von ihr hatte in ihrem Alter den Tod gesucht. Ging schließlich, was sie auf sich genommen hatte, nicht über Menschenkraft? Ich sah Gespenster, schreckliche Bilder drängten sich. Eine tote Frau wurde, auf ein Brett gebunden, ins Meer versenkt, drei Waisenkinder erreichten New York und mußten, wenn sie nicht etwa Verbrechern in die Hände gerieten, der Armenpflege zur Last fallen. Dies war die peinvollste meiner Befürchtungen: meine Frau könnte dahingehen in der finsteren Trostlosigkeit ihres verlassenen und verratenen Herzens, ohne von meiner Sinneswandlung etwas erfahren zu haben, ohne von meiner Reue, meiner Rückkehr, meiner wiedergeborenen Liebe zu wissen, meiner ausschließlichen, leidenschaftlichen, ewigen Liebe zu ihr. Aber wenn meine arme Frau mich liebte, wie konnte sie diesen furchtbaren Schlag führen?! dachte ich dann. Wenn sie mich einigermaßen kannte, wie konnte sie mir das tun? [...]
Nachdem ich ein Bad genommen, ging eine Verjüngungswelle durch mich hin. Mein Lebenswille war aufgewacht. Ich vermochte den Entschluß zu fassen, mein Schicksal mutig auf mich zu nehmen und ihm mit Aufbietung aller meiner Kräfte standzuhalten. Ich nahm ein reichliches Frühstück ein, das ich mir gleichsam zudiktierte, weil ich, von der psychophysischen Einheit des menschlichen Organismus überzeugt, der Seele durch den Körper neue Kräfte zuführen wollte. Auch fing ich an – die furchtbare Bilderflucht der Nacht war, Gott sei Dank, verdrängt durch das Tageslicht –, meine Lage mit kühlem Verstande zu untersuchen. Ich prüfte aufs neue den Brief meiner Frau und glaubte zwischen den Zeilen zu lesen, daß der getane Schritt keineswegs die Trennung, sondern die Wiedervereinigung zum Zwecke habe. Wenn das so war, brauchte ich eine Verzweiflungstat meiner Frau gegen sich selbst nicht mehr zu fürchten. [...]
Mit dem Anrollen und Fortrollen der Räder kam über mich ein befreites, tiefes, zuversichtliches Aufatmen.
Doch nun, gleichsam sicher verstaut und gewiß, dem rechten Ziele entgegenzueilen, ohne daß ich deshalb mich weiter zu sorgen oder etwas zu tun brauchte, nun fühlte ich eine Stelle in mir, die schmerzhafter wurde, je weiter die Reise in der neuen, gesicherten Richtung ging. Langsam, langsam, nicht lange danach, als der Zug mit sechzig Kilometer Geschwindigkeit durch die mondbeglänzte Winterebene rauschte, stieg ein kleines, unterdrücktes, vergessenes und verratenes Bildchen in mir auf, das Köpfchen Anjas, das sich auf seinem feinen Hälschen neigte. Mit diesem Augenblick fing das seltsame Schaukeln in mir an, das auch hier auf dem Schiff nicht nachlassen will und das ich vielleicht am besten so schildere: Zwischen zwei Brunnen ist ein Pfahl aufgestellt. Quer auf dem Pfahl ist eine Stange angebracht, an deren beiden Enden je ein Eimer in jeden der Brunnen hängt. Irgendeine unsichtbare Kraft bewegt nach gewissen längeren Zwischenräumen die Querstange. Sie drückt das rechte Ende herab, worauf der rechte Eimer im rechten Brunnen versinkt und der linke Eimer sich über den linken erhebt und, mit Wasser gefüllt, sichtbar wird – sie drückt das linke Ende der Stange herab, der linke Eimer versinkt alsdann, und der rechte steigt über seinen Brunnen ans Tageslicht. Solche Brunnen mußten in mir sein und die Vorrichtung über den Brunnen, die bald Weib und Kind aus dem Dunkel in die Helle des Bewußtseins hob und Anja ins Dunkel versenkte, bald wieder diese zur Beherrscherin der bewußten Seele machte und Weib und Kind in der Nacht des Unbewußten verschwinden ließ. [Hervorhebung durch Fontanefan] Seltsam, in hohem Grade beunruhigend, wie ich diesem Wechselspiel, das ganz ohne mein Zutun sich vollzieht, gleichsam unbeteiligt zuschauen kann.
Es war etwa nach der ersten halben Stunde Fahrt, als Anjas Bild zum ersten Male wieder meine Blicke auf sich und rückwärts zog und als meine Seele, vor diesem Bild neuerdings hinschmelzend, ihre Härte abstreifte. Hatte ich denn nicht diese Macht, dieses Bild für endgültig überwunden angesehen? Und nun schien es mit einem stummen, traurig bitteren Lächeln seine Herrschaft wiederum anzutreten. Zwei seltsame Augen richteten sich auf mich, die dunkel, groß, schweigend und feucht waren, gleich darauf von der Wimper fast ganz verdeckt, darunter ein kindlicher Mund, dessen wehe Süße ein kaum merklicher Anflug von Spott noch betörender machte. Ich war bestürzt, ich war fassungslos. Ein kurzer Brief mit der sachlichen Nachricht von dem Geschehenen und meiner Amerikafahrt war von Paris aus an Anja abgegangen. Ich hätte an meinen Hausverwalter nicht anteilloser schreiben können. Jetzt mußte ich mit Schrecken bemerken, welcher Täuschung ich unterlegen war. Hatte nicht meine Reue dieses furchtbare Bild im Wasser ihrer Tränen aufgelöst? Hatten es nicht die brennenden Zungen der durchlebten höllischen Nacht aufgeleckt und verdunstet? Hatte ich es nicht beinahe verflucht, es gleichsam wie eine Pestleiche mit dem ungelöschten, fressenden Kalk meines Hasses überschüttet und eingesargt? Jetzt schlug ich mir mit der Faust vor den Kopf, daß mein Nachbar im Seitengange des Wagens, der durchs Nebenfenster in die Nacht blickte, mich befremdet anglotzte. Nein, dies Bildnis war nicht in Salzwasser aufgelöst, in der Hölle verdunstet oder für immer eingesargt. Es war da und belehrte mich durch einen glühendkalten Fieberschauer über seine gnadenlose Unsterblichkeit. Ich wollte mich gegen den Dämon auflehnen. Bald schmolz aber aller Trotz dahin, und mir wurde klar, daß ich über ein neues Trennungsweh und über eine neue, schwere Abschiedsstunde nicht in diebischer Weise hinwegkommen konnte. Mehr und mehr, mit weicher, süßer und sanfter Gewalt, zog Anja in meine Seele ein und bemächtigte sich des verlorenen Reichs. [...]
Es muß hier alles aufs einfachste hergerichtet werden, denn wir, in Europa immerhin wohlhabend, sind im Dollarlande beinahe arm. Hier erhält man für einen Dollar das, was drüben höchstens eine Mark kostet. Es ist mir zumut, als seien wir Auswanderer, eine in eiserner Liebe verbundene Kolonistenfamilie, die in der Neuen Welt ein neues Leben beginnen will. Mich durchdringt eine tiefe Ruhe, eine tiefe Befriedigung. Mag es bei uns nun auch ärmlich zugehen, wir sind wieder vereint, und das ist die Hauptsache. Ich ruhe aus in einem Gefühl der Geborgenheit. Wie herrlich ist das, wie himmlisch beglückend ist das: jede Empfindung hat ihre konfliktlose Einheit wiedererhalten. Da ist die Frau, die mich zu meinem Glücke für sich und die Kinder wiedererobert hat. Ihr Mittel war ein bedenkliches, aber die Liebe gab es ihr ein, der Erfolg hat ihr recht gegeben. Wie gesagt, die Kinder sind, ich glaube, um etwas einzukaufen, noch einmal, behütet von meinem Freunde, fortgestürmt. Nicht mit einem Wort hat ihre Mutter ihnen die wahre Ursache ihrer Reise verraten. Und so ist sie ihnen eine Naturgegebenheit, über die sie sich keine Gedanken machen. Jedenfalls ist der Papa wieder da, das erzeugt einen endlosen Wirbel von Fröhlichkeit. Ich höre die Kinder auf der Treppe. Ich danke dir, Gott! Ich danke dir, Gott! [...]" (G. Hauptmann:
Buch der Leidenschaft, 1. Teil)
[...] Was ist geschehen? Was hat sich ereignet? Warum ist dieses Haus nun eine feste Burg, eine erst wahrhaft feste geworden in dem Augenblick, wo sie nicht mehr belagert wird? Gerade die Feinde, um derentwillen sie errichtet worden ist, sind nun abgezogen. Das Atmen geschieht mit einer Leichtigkeit, die ich seit einem Jahrzehnt nicht gekannt habe. Dieselbe Leichtigkeit ist in die Bewegungen meines Körpers eingezogen. Ich gehe aufrecht und befreit, wie jemand, der mit einer niederziehenden, bleiernen Last im Wachen und Schlafen behaftet gewesen ist, die er nun abgeworfen hat. Er hat seine Arme, seine Schultern, seinen Nacken freibekommen, Aufgaben zu bewältigen, die er früher mit und trotz der bleiernen Last bewältigen mußte.
Dies niederschreibend, sitze ich in dem runden, braungetäfelten Turmzimmer an meinem Arbeitstisch, auf dem gleichen Lehnstuhl, den gestern der Standesbeamte eingenommen hat. Von diesem Tisch und von dieser Stelle aus bin ich gestern mittag mit Anja getraut worden.
Der Standesbeamte Herr H. hatte angeboten, um jedes Aufsehen zu vermeiden, wie das Gesetz ihm freistelle, die Formalitäten der Trauung im Bergfried selbst vorzunehmen. Und das wird ewig wahr bleiben, daß dies ernste Refugium während dieser Viertelstunde wirklich zu einer Art Kirche wurde.
Es ist vormittags und jene tiefe Stille um mich, die nur diesem Hause zuweilen eigen ist, eine an Verlassenheit grenzende Stille, und, da wir nun einmal in Bildern (τὸ σύμβολον: das Sinnbild) zu denken und zu sprechen gezwungen sind, darf ich sagen, daß man die Anwesenheit eines heiligen Boten, die Kraft seiner Aura, auch nun er geschieden ist, noch überall spüren kann. Sie wird diesem kleinen Steinhaufen nie vor seinem Einsturz ganz verlorengehn.
Dieser Angelus hat die Verwandlung, von der ich sprach, der Räume, der granitnen Fundamente, der Ziegelsteine, der Dachsparren, des Lichtes, das durch die Fenster dringt, der Luft, die ich atme, mit sich gebracht und ein ätherzartes neues Element, reiner als Luft und Licht, zurückgelassen. Auch die Stille, von der ich schrieb, ist von der unaussprechlichen Heiterkeit dieser Gnadengabe erfüllt.
Wie die Scheidung erreicht wurde? Durch kluge Politik meines juristischen Freundes und durch Melittas Sinnesänderung. Sie hielt es nun doch wohl für nutzlos, weiterzukämpfen. Schon ihre Flucht vor meinem letzten Besuch in Dresden deutete darauf hin.
Praktische Rücksichten mochten mitsprechen.
So ist es also den Jahren doch gelungen, ein friedliches Auseinandergehen herbeizuführen. Aber der langsame Lösungsprozeß, den ich um Melittas willen gewählt habe, hätte mich fast das Leben gekostet.
Ich bin bewegt, wenn ich denke, wie ich geführt worden bin. Aber, werden gewisse Philosophen sagen, es gibt keine Führung, es gibt keine Vorsehung, höchstens eine Notwendigkeit. Nun, ich bin hier im Bereich des Persönlichen und Lebendigen, soweit es zu erfüllen und zu erleben ist. Und so bin ich erschüttert davon, daß dieses Haus nun meine und Anjas Hochzeitskapelle und unser steinerner Trauzeuge geworden ist. Es hat damit seinen höchsten Zweck erfüllt, seine letzte Weihe erhalten.
So ist ein nunmehr zehnjähriges bitteres Ringen zum Abschluß gebracht.
In der großen Halle oder Diele vollzog sich das kleine Hochzeitsmahl, dem der Standesbeamte, Anjas Bruder, Justizrat J. und zwei befreundete Ehepaare beiwohnten.
Eine Teilnahme meiner Familie fand nicht statt.
Ich habe meiner Begleitung Passagen aus dem Text vorgelesen. Bald überzeugte sie mich, dass das wohl eine Parodie sei, so wie Wilhelm Hauff unter dem Titel "Der Mann im Mond" eine Parodie auf den Schriftsteller Carl Heun verfasste, die er unter dessen Künstlernamen H. Clauren veröffentlichte.
Dann fand ich aber ernsthaftere Passagen und meinte, es sei so autobiographisch, dass es wohl ernst gemeint sei. Weil ich aber immer wieder auch merkwürdige Passagen fand (insbesondere die, die ich oben fett gedruckt hervorgehoben habe), wollte meine Begleitung nichts davon wissen.
Das einzige, was sie stutzig machte, war, dass der Text so lang war. "So lange kann er doch diesen Stil nicht durchhalten."
Die Wikipedia über Hauptmanns Leben in dieser Phase:
"1893 wurde Margarete Marschalk Hauptmanns Geliebte. Um Abstand zu gewinnen, fuhr Marie mit ihren Söhnen in die Vereinigten Staaten. Hauptmann bereitete in Paris die französische Erstaufführung von Hanneles Himmelfahrt vor und reiste Marie nach, ohne die Premiere abzuwarten. Der Riss war aber nicht mehr zu überbrücken. Nach mehreren Jahren des Getrenntseins wurde die Ehe im Juli 1904 geschieden. Marie wohnte jedoch noch bis 1909 in der 1899 von Hauptmann erbauten Villa Rautendelein in Dresden-Blasewitz." (G. Hauptmann)
Ferdinand schreibt über seine Lektüre des Buchs:
"[...] Hauptmann versteht es, sich auf lange Zeit hinter der Kraft seiner Sprache zu verbergen, doch irgendwann kommt man ihm auf die Spur und erkennt die Larmoyanz, mit der er das „Unausweichliche in der männlichen Natur“ zu erklären versucht. Vom Gewissen getrieben baut er für seine Ehefrau und die gemeinsamen Kinder ein Haus über dem großen Fluss, darin ein Panoramafenster und ein bequemer Sessel, von dem aus die Verlassene dem Strom des Lebens hinterherschauen kann. Seine Fürsorge gerät ihm zur schäbigen Attitüde seiner eigenen, ja, man muss wohl sagen: Erbärmlichkeit.
Der große Naturalist und Nobelpreisträger hätte sein Tagebuch besser für sich behalten, und dessen Interpretation seinen posthumen Biografen überlassen.Man versteht die Verlassene, dass sie versucht hat, dessen Veröffentlichung in Buchform mit juristischen Mitteln zu verhindern. Leider ohne Erfolg.
Das Buch der Leidenschaft zählt ganz sicher nicht zu den großen Werken Hauptmanns, und das Exemplar, welches mir in die Hände gefallen war, verstaubt längst wieder dort, wo es hingehört: auf den Bücherfriedhof." (Ferdinand: Neu gelesen 30.6.2016)
Mein Urteil nach dem zweiten Lesen längerer Passagen des ersten Teils (14.6.19):
Wieder konnte ich mir nicht denken, dass Hauptmann eine so negative Darstellung seines Protagonisten, eine so rettungslose Egozentrik, als angemessene Erklärung seines Verhaltens empfand. Obwohl ich den Schluss und den Bezug auf seine Biographie schon gelesen hatte, wollte ich doch eine solche Übersteigerung der Selbstsucht des Protagonisten als Beweis für Selbstkritik des Autors ansehen. Da das aber offenbar nicht möglich ist, habe ich den Eindruck, dass Thomas Manns Mynher Peeperkorn im Zauberberg das übergroße Ego Hauptmanns wohl doch nur zu treffend beschreibt.
Von heute aus ist freilich schwer zu beurteilen, als wie selbstverständlich 1905, als Hauptmann ein Jahr nach der Eheschließung mit Margarete Marschalk die Vorstellung des frühen Naturalismus von der Schicksalhaftigkeit von Vererbung in Hauptmann fortwirkte.