29 Dezember 2019

Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (2. Fassung) Schluss

"Etwa ein Jahr später besorgte ich die Kanzlei eines kleinen Oberamtes, welches an dasjenige grenzte, worin das alte Heimat Dorf lag. Hier konnte ich bei bescheidener und doch mannigfacher [839] Wirksamkeit in der Stille leben und befand mich in einer Mittelschicht zwischen dem Gemeindewesen und der Staatsverwaltung, so daß ich den Einblick nach unten und oben gewann und lernte, wohin die Dinge gingen und woher sie kamen. Allein sie vermochten die Schatten nicht aufzuhellen, die meine ausgeplünderte Seele erfüllten, und weil alles, was ich wahrnahm, durch die Düsternis gefärbt wurde, so erschienen mir auch die Menschlichkeiten, denen ich auf dem neuen Gebiete begegnete, dunkler, als sie an sich waren. Wenn ich sah, daß auch hier die Neigung zum Nachlassen und zur Pflichtvergessenheit zum Vorschein kam oder jeder die Wässerlein auf seine Mühle zu leiten suchte, daß Neid und Eifersucht auch in den kleinsten Amtsverhältnissen störend sich einnisteten, so war ich geneigt, das Übel dem Charakter des ganzen Volkes und Gemeinwesens zuzuschreiben, das in der Erinnerung und aus der Entfernung mich so täuschend angelockt habe. Wenn ich aber meines belasteten Bewußtseins gedachte, so schwieg ich, anstatt bei guter Gelegenheit meine Meinung offen herauszusagen. Ich begnügte mich, meine Obliegenheiten so regelmäßig und geräuschlos als möglich zu erfüllen, um die Zeit zu verbringen, ohne Unruhe, aber auch ohne Hoffnung eines frischern Lebens. Das hielten nun die Leute für das Muster einer ordentlichen Amtsführung, und da sie besser und wohlwollender waren, als ich dachte, so machten sie mich nach ein paar weiteren Jahren, ohne mein Zutun und gegen meinen Wunsch, zum Vorsteher des Amtskreises. In dieser Stellung konnte ich nicht umhin, mehr unter die Leute zu gehen und an Zusammenkünften verschiedener Art teilzunehmen, immer als der ziemlich melancholische und einsilbige Amtsmann, der ich war. Jetzt lernte ich, da ich die politische Bewegung im großen und mehr in der Nähe sah, ein Übel kennen, das mir wirklich neu, obgleich es zum Glücke nicht gerade herrschend war. Ich sah, wie es in meiner geliebten Republik Menschen gab, die dieses Wort zu einer hohlen Phrase machten und damit umherzogen, wie die Dirnen, die [840] zum Jahrmarkt gehen, etwa ein leeres Körbchen am Arme tragen. Andere betrachteten die Begriffe Republik, Freiheit und Vaterland als drei Ziegen, die sie unablässig melkten, um aus der Milch allerhand kleine Ziegenkäslein zu machen, während sie scheinheilig die Worte gebrauchten, genau wie die Pharisäer und Tartüffe. Andere wiederum, als Knechte ihrer eigenen Leidenschaften, witterten überall nichts als Knechtschaft und Verrat, gleich einem armen Hunde, dem man die Nase mit Quarkkäse verstrichen hat und der deshalb die ganze Welt für einen solchen hält. Auch dies Knechtschaftswittern hatte einen gewissen kleinen Verkehrswert, doch stand das patriotische Eigenlob immerhin noch höher. Alles zusammen war ein schädlicher Schimmel, der ein Gemeinwesen zerstören kann, wenn er zu dicht wuchert; doch befand sich die Hauptschar in gesundem Zustande, und sobald sie sich ernstlich rührte, stäubte der Schimmel von selbst hinweg. Ich dagegen sah in meiner kranken Stimmung den Schaden des Unechten zehnmal größer, als er war, und schwieg dennoch, anstatt den falschen Schwätzern auf die Füße zu treten; damit verschwieg ich auch manches, was ich mit wirklichem Nutzen hätte sagen können. Ich fühlte, daß das kein Leben hieß und so nicht fortgehen könne, und begann darüber zu brüten, wie aus dieser neuen Gefangenschaft des Geistes herauszukommen sei. Zuweilen regte sich, und immer vernehmlicher, der Wunsch, gar nicht mehr dazusein. [...]


Am besten wäre es, dachte ich, du lägest unter dieser sanften Erdbrust und wüßtest von nichts! Still und lieblich wäre es hier zu ruhen!
Nach diesem mir nicht mehr neuen Seufzer ließ ich die Augen von ungefähr an der gegenüberliegenden Berghalde schweifen, an deren halber Höhe ein Felsband von grauer Nagelfluhe zutage trat. Ebenso von ungefähr sah ich eine leichte Gestalt von der gleichen grauen Farbe längs dem Felsbande hingleiten oder schweben, und da die Halde von der Abendsonne beleuchtet war, so sah man gleichzeitig auch den Schatten der Gestalt an der Wand mitgleiten. Ich wußte, daß ein schmaler Pfad dort das Felsgesimse entlanglief, und verfolgte mit den Augen die Erscheinung, die sich mit einem sichtlichen Rhythmus bewegte, der mich an ein irgendwo schon Gesehenes erinnerte. Als die Gestalt, die unverkennbar eine weibliche war, das Ende der Felswand erreicht hatte, wandte sie sich und kehrte denselben Weg wieder zurück; es sah aus, als ob der Geist des Berges aus dem Gestein herausgetreten wäre, um im Abendscheine auf und ab zu wandeln. [...]
 Kaum war sie mir etwas näher, so erkannte ich die Judith, von der ich seit zehn Jahren nicht ein Wort vernommen, trotz der fremdartigen Tracht, in die sie gekleidet war. Statt der halb ländlichen Tracht, in der ich sie zuletzt gesehen, trug sie jetzt ein Damenkleid von leichtem grauem Stoffe und einen grauen Schleier um Hut und Hals gewickelt, alles aber so ungezwungen, ja bequem, daß man sah, ihre ungebrochenen Bewegungen hatten sich in einem reichlichern und breitern Faltenwurfe von selbst Raum verschafft, ohne daß sie im mindesten schlotterig oder auch eckig ausgesehen hätte. In jenem Augenblicke stellte ich natürlich derartige Beobachtungen nicht an; sie erklären nur den Eindruck, welchen die unverhoffte Erscheinung auf mich hervorbrachte.
An dem Gesichte hatten die zehn Jahre keine andere Veränderung bewirkt, als daß es selbstbewußter geworden und durch einen sibyllenhaften Anhauch eher veredelt als entstellt war. Erfahrung und Menschenkenntnis lagerten um Stirn und Lippen, und doch leuchtete aus den Augen noch immer die Treuherzigkeit eines Naturkindes.
So sah ich sie, die Augen erstaunt auf sie gerichtet, mir nahe kommen und die Schritte verlangsamen, als sie meiner ansichtig wurde. Mein Anblick mußte sich mehr verändert haben als der ihre; denn sie schien unschlüssig, ging jetzt etwas rascher und hielt doch wieder an sich, im Begriff, an mir vorüberzugehen.[843] Dadurch wäre ich beinah auch unsicher geworden, und erst als ich ganz dicht vor ihr stand auf dem schmalen Pfade, konnte ich nicht mehr irren und rief: »Judith!« [...]
Da sah sie mich zärtlich an und flüsterte:
»Ja, so heißt es! Sieh, und nun könnten wir hier auch das Glück von Gottes Tisch nehmen, was die Welt das Glück nennt, und uns zu Mann und Frau machen! Aber wir wollen uns nicht krönen! Wir wollen jener Krone entsagen und dafür des Glückes um so sicherer bleiben, das uns jetzt, in diesem Augenblicke, beseligt; denn ich fühle, daß du jetzt auch glücklich und zufrieden bist!«
Ich schwieg erschüttert still. Doch fuhr sie fort:
»Schau, ich habe es mir schon auf dem Meere und während eines Sturmes überlegt, als die Blitze um die Masten zuckten, die Wellen über Deck schlugen und ich in der Todesangst deinen Namen ausrief, und die letzten Nächte wieder hab ich es hin und her gewendet und mir gelobt Nein, du willst sein Leben nicht zu deinem Glücke mißbrauchen! Er soll frei sein und sich durch die Lebenstrübheit nicht noch mehr abziehen lassen, als es schon geschehen ist!«
Ich schüttelte aber den Kopf und sagte betroffen: »Ich will nicht unbescheiden sein, Judith, allein ich habe es mir doch anders gedacht. Wenn du mir in der Tat gut bist, willst du nicht lieber bei mir leben, als immer so einsam sein, so allein stehen in der Welt?«
»Wo du bist, da werde ich auch sein, solange du allein bleibst; du bist noch jung, Heinrich, und kennst dich selber nicht. Aber abgesehen hievon, glaube mir, solange wir so sind wie jetzt, in dieser Stunde, wissen wir, was wir haben, und sind glücklich! Was wollen wir denn mehr?«[852]
Ich begann zu fühlen und zu verstehen, was sie bewegte; sie mochte zuviel von der Welt gesehen und geschmeckt haben, um einem vollen und ganzen Glücke zu vertrauen. Ich sah ihr ins Gesicht und strich ihr weiches braunes Haar zurück, indem ich rief:
»Ich habe ja gesagt, ich sei dein, und will es auf jede Art sein, wie du es willst!«
Sie schloß mich heftig in die Arme und an ihre gute Brust; auch küßte sie mich zärtlich auf den Mund und sagte leis: »Nun ist der Bund besiegelt! Aber für dich nur auf Zusehen hin; du bist und sollst sein ein freier Mann in jedem Sinne!«
Und so ist es auch zwischen uns geblieben. Noch zwanzig Jahre hat sie gelebt; ich habe mich gerührt und nicht mehr geschwiegen, auch nach Kräften dies oder jenes verrichtet, und bei allem ist sie mir nahe gewesen. Wenn ich den Wohnort verändern mußte, so ist sie mir das eine Mal gefolgt, das andere nicht, aber sooft wir wollten, haben wir uns gesehen. Wir sahen uns zuweilen täglich, zuweilen wöchentlich, zuweilen des Jahres nur einmal, wie es der Lauf der Welt mit sich brachte; aber jedesmal, wo wir uns sahen, ob täglich oder nur jährlich, war es uns ein Fest. Und wenn ich in Zweifel und Zwiespalt geriet, brauchte ich nur ihre Stimme zu hören, um die Stimme der Natur selbst zu vernehmen.
Sie starb, als eine verderbliche Kinderkrankheit herrschte und sie sich mit ihren hilfsbereiten Händen in eine ratlose Behausung armer Leute stürzte, die mit kranken Kindern angefüllt und von den Ärzten abgesperrt war. Sonst hätte sie leicht noch zwanzig Jahre leben können und wäre ebensolang mein Trost und meine Freude gewesen.
Ich hatte ihr einst zu ihrem großen Vergnügen das geschriebene Buch meiner Jugend geschenkt. Ihrem Willen gemäß habe ich es aus dem Nachlaß wiedererhalten und den andern Teil dazugefügt, um noch einmal die alten grünen Pfade der Erinnerung zu wandeln."

(Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (2. Fassung), 4. Band 16. Kapitel)

Hermann Hesse: Der Steppenwolf

Der Steppenwolf (Wikipedia)

Beispiel einer Interpretation

Der Steppenwolf (Film von 1974)

28 Dezember 2019

Fontane: Unterm Birnbaum (Film)

"[...] Die 1855 veröffentlichte Novelle gilt den meisten Fontane-Exegeten als in seinen Standesbeschränkungen überholt. Übersinnliches, Moritatenhaftes, Gesellschaftliches, Historisches, Psychologisches und anthropomorphisierende Landschaftserzählungsmomente werden in „Unterm Birnbaum“ etwas umständlich zusammengeführt. Die Geschichte erinnert an E. A. Poes „Das verräterische Herz“.
Zugrunde liegt eine wahre Begebenheit. Vom Fund des Skeletts eines toten Soldaten erzählt Fontane im Brief an seine Schwester, er macht daraus eine Mordgeschichte, die in der Illustration des Spruchs „Es ist nichts so fein gesponnen, ’s kommt doch alles an die Sonnen“ mündet. [...]
Der Mann bleibt verschwunden. Ein Unglück, unvorhersehbar wie das Wetter, lautet die offizielle Version. Nur der Ortspolizist Geelhaar (Devid Striesow) bleibt skeptisch und verhaftet Hradschek vorläufig. Kam dem hochverschuldeten Abel, dessen heruntergewirtschaftete Herberge Bände spricht, nicht Schulzes Geldkoffer sehr zupass? Zumal Ursel, die selbst das Grab ihres totgeborenen Kindes mit halsbrecherischen High Heels und in maskenhaftem Make-up besucht, keines ihrer seidenen, mit teurer Spitze besetzten Kleider zweimal trägt. [...]
Dass die beiden Hradscheks „über ihre Verhältnisse“ leben, ist bekannt im Oderbruchdorf. Geelhaar bleibt hartnäckig. In der Nacht hat Abel, der Himmel von zuckenden Blitzen erhellt, verfolgt von Jeschkes Augen unter dem herrlich tragenden Malvesier einen Sack vergraben. Eine falsche Spur, denn unter dem Baum liegt zwar ein Toter, aber schon seit Jahrzehnten, wie die Untersuchung ergibt. Vermutlich ein Soldat der Roten Armee, heißt es. Dass bei der Ausgrabung eine Art Brustharnisch ans Licht befördert wird, mag eine Reminiszenz an die alte Vorlage sein, in der Schulze noch ein polnischer Geldeintreiber namens Szulski war, der mit den Honoratioren des Dorfes in Hradscheks Gaststube allerhand jüngere russisch-polnische Geschichte erörterte. Der Tote unterm Birnbaum, der den Hradscheks ihr Alibi gibt, war einst ein Franzose, nun ist er Sowjet. [...]"
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/fontanes-unterm-birnbaum-auf-arte-es-reichte-nicht-fuer-dieses-leben-16553470.html

27 Dezember 2019

Keller: Der grüne Heinrich - Heimkehr (2. Fassung)

Bei seiner Rückkehr erkennt Heinrich, dass die Hoffnung auf eine Verbindung mit Dortchen Schönfund ein Trugbild war, das ihn daran gehindert hat, früher zu seiner Mutter zurückzukehren.
Im Unterschied zur ersten Fassung des Romans [Interpretation des Schlusses der 1. Fassungkommt Heinrich aber früh genug zurück, um seine Mutter noch lebend zu erleben, von ihr angesehen zu werden - wenn auch ohne Kontaktmöglichkeit - und ihr dann die Augen zuzudrücken und die Totenwache zu halten.
So gibt die 2. Fassung gibt Raum für einen versöhnlichen Schluss.
Wie der aussieht, wird hier vorgestellt.


"[...] Der Gedanke, daß unglücklicher Zufall und die Arglist Gewinnsüchtiger die Hand im Spiel gehabt, erleichterte keineswegs die Last, welche jählings auf mein Gewissen fiel mit einem Gewichte, gegen welches der Druck von Dorotheas eisernem Bilde leicht wie eine Flaumfeder schien; oder auch umgekehrt: ich möchte sagen, daß die Schwere in ein Gefühl der Leerheit überging, wie der höchste Kältegrad einem Brennen gleicht. Es war fast, wie wenn meine eigene Person aus mir wegzöge. Die Aufforderung der freundlichen Nachbarsleute, das Nachtlager bei ihnen zu nehmen, lehnte ich ab, weil es mir unmöglich schien, die Mutter allein zu lassen. Ich ging mit der anbrechenden Abenddämmerung in unser Haus zurück. Jetzt stand auch der schwärzliche Spenglermeister unter seiner Stubentüre; ich grüßte ihn, und er lud mich mit forschendem Blick ein, bei ihm anzukehren, was ich ausschlug, indem ich nur um ein Licht bat. Mit einem solchen versehen, stieg ich wieder unter das Dach hinauf, trat in das Kämmerchen und zündete das alte Messinglämpchen an, bei dessen Schein ich sie die Jahrzehnte hindurch in den langen Winterabenden hatte sitzen sehen. Das Lämpchen war vernachlässigt und nicht mehr blank, jedoch mit Öl gefüllt. Da lag sie nun in ihrem Frieden, und ich, der ich so gedankenlos gezögert, zu ihr zu kommen, fand jetzt nur noch einigen Trost an ihrer stillen Gegenwart, an deren Aufhören ich nicht denken durfte. Ich machte mir mit meiner unglücklichen Schachtel zu schaffen, öffnete dieselbe und zog den feinen Wollenstoff hervor, den ich zu einem Kleide bestimmt hatte. Im Begriff, das Stück auseinander zu falten und es als leichte schützende Decke über das Bett und die Leiche zu legen, um es ihr nur irgendwie noch nahezubringen, fiel mir doch die Nutzlosigkeit einer so gezierten Handlung in so ernster Stunde auf die Seele; ich wickelte das Zeug zusammen und verbarg es wieder in der Schachtel. Obschon ich von der mehrtägigen Fußreise ermüdet war, brachte ich nun die Nacht aufrecht auf dem Strohsesselchen am Fenster zu und schlief dennoch zeitweise, wobei allerdings das Erwachen jedesmal zwiefach schmerzlich war, wenn ich mich aufs neue der Gegenwart der stillen Mutter versicherte. [...]"

Heinrich entdeckt einen Text seiner Mutter:
"»Wenn es nun Gott wirklich geschehen läßt, daß mein Sohn unglücklich werden und ein irrendes Leben führen sollte, so tritt die Frage an mich heran, ob nicht mich, seine Mutter, die Verschuldung trifft, insofern ich es in meiner Unwissenheit an einer festen Erziehung habe mangeln lassen und das Kind einer zu schrankenlosen Freiheit und Willkür anheimgestellt habe. Hätte ich nicht suchen sollen, daß unter Mitwirkung Erfahrener einiger Zwang angewendet und der Sohn einem sicheren Erwerbsberufe zugewendet wurde, statt ihn, der die Welt nicht kannte, unberechtigten Liebhabereien zu überlassen, die nur geldfressend und ziellos sind. Wenn ich sehe, wie wohlgestellte Väter ihre Söhne zwingen, oft schon vor dem zwanzigsten Jahre ihr Brot zu verdienen, und wie das solchen Söhnen nur zu nützen scheint, so fällt der traurige, altbekannte Selbstvorwurf mir doppelt schwer, und ich hätte in meiner Arglosigkeit nie gedacht, daß eine solche Erfahrung mich jemals heimsuchen könnte. Freilich habe ich seinerzeit um Rat gefragt; als man aber den Wünschen des Kindes nicht zustimmte, hörte ich auf zu fragen und ließ es gewähren. Damit habe ich mich über meinen Stand erhoben, und indem ich mir einbildete, ein Genie in die Welt gesetzt zu haben, die Bescheidenheit verletzt und das Kind geschädigt, daß es sich vielleicht niemals erholen wird. Wo soll ich nun die Hilfe suchen?« 
Hier brach die Schrift ab; denn vom nächsten Worte stand nur noch der Anfangsbuchstabe. An wen der Brief gerichtet war, ob er mit oder ohne obiges Bruchstück oder gar nicht abgegangen, wußte ich nicht, und eine Antwort fand ich unter den aufbewahrten Briefschaften nicht vor. Wahrscheinlich hatte sie die Sache doch unterdrückt. Dagegen verschmolz sich nun die in dem Gedichte von dem verlorenen Glücke aufgeworfene wunderliche Rechtsfrage mit derjenigen des Brieffragmentes und fiel mir zu Lasten als dem einzigen haftbaren Inhaber der Schuld. So war nun der Spiegel, welcher das Volksleben widerspiegeln sollte, zerschlagen und der Einzelmann, der an der Volksmehrheit so hoffnungsreich mitwachsen wollte, rechtlos geworden. Denn da ich die unmittelbare Lebensquelle, die mich mit dem Volke verband, vernichtet hatte, so besaß ich kein Recht, unter diesem Volke mitwirken zu wollen, nach dem Worte: Wer die Welt will verbessern helfen, kehre erst vor seiner Türe. [...]"

Doch er entschließt sich später dann doch dafür, als kleiner Beamter seinem Volk zu dienen. 
Dazu tragen auch die Nachrichten bei, die er über Dortchen Schönfund  vom Grafen erhält:
»Was unser Dortchen betrifft«, fuhr er fort, »so erfährt sie, und wir anderen mit ihr, in gehäuftem Maße auch ihr Teil. Seit Du weg bist, hat sich das Abenteuer begeben, daß sie – meine blutsverwandte Nichte und nichts anderes geworden ist! Ich kann Dir den Hergang nicht des weitern auseinandersetzen, nur mit ein paar Strichen andeuten: Von der bald nach dem Tode meines in den südamerikanischen Händeln umgekommenen Bruders ebenfalls verstorbenen Witwe ist durch Letzten Willen verordnet worden, es solle das Kind durch zuverlässige Leute seinen deutschen Verwandten zugesandt werden. Diese Leute sind aber untreu gewesen. Um gewisse Vermögensteile, die man unvorsichtigerweise ihnen zugleich mitgegeben hat (übrigens unbedeutende Summen), behalten zu können, haben sie mir das Kind auf dem Wege der Aussetzung in die Hände gespielt. Sie haben sich richtig bei jenen Auswanderern nach Südrußland befunden oder sich ihnen vielmehr auf dem Wege in der Donaugegend angeschlossen und die Sache sehr schlau angestellt. Da aus Amerika nie mehr eine Nachfrage anlangte, so wenig wie früher ein Bericht von der Absendung des Kindes und dem Tode der Mutter, so hat alles so geschehen können. [...]
Vor vier Wochen hat sich Gräfin Dorothea W...berg (eigentlich heißt sie von Haus aus Isabel) mit einem jungen Freiherrn Theodor von W...berg verlobt. Das ist nämlich ein hübscher und wackerer Gesell aus einer Linie der so benamsten Leute, welche die unsrige seit Jahrhunderten nichts mehr angeht. Man wird ihm den Grafentitel verschaffen und ich werde gestatten, daß das Majorat auf ihn übergeht. Denn ich habe ebensowenig Grund, das Fortbestehen des Namens zu verhindern, als dasselbe zu wünschen. Wie die Dinge stehen, ist es mir absolut gleichgültig, wenn ich etwa von dem Vergnügen absehe, das ich dem Kinde mache, indem ich seinem Bräutigam gefällig bin. 
Nun kommt aber noch eine Betrachtung, die uns beide angeht, lieber Freund Heinrich! Ich habe gut gesehen, daß Du Dich in Dortchen verliebt hast! Ich habe getan, als sähe ich es nicht, weil ich mich in dergleichen nicht mische, wo die Leute sich selbst helfen können und wissen, was sie zu tun haben. Besonders die langhaarige Nation ist so unberechenbar, daß es nicht lohnend ist, sich ohne Not mit gutem Rate bloßzustellen. Auch Du bist dem Kinde nicht gleichgültig gewesen und auch jetzt noch gut angeschrieben, und es stellt sich die Sache ungefähr so: Hättest Du, was Du als maßhaltender Mensch nicht getan hast, während Deines Hierseins die Zeit und Deinen Vorteil wahrgenommen, oder hättest Du bald nach der Ankunft in Deinem Vaterlande von Dir hören lassen, so wäre, glaub ich, Dorothea bis zur Stunde die Deinige geblieben. Nachdem Du aber eine so rätselhafte Zeit hast verstreichen lassen, ist sie über diese Kluft weggesprungen, als der entschlossene Freier erschien, der sie zugleich in so glücklicher Weise wieder in die weltliche Ordnung einreiht. Aber auch von diesem Begreiflichen abgesehen, müssen wir die Unbeständigkeit des Kindes, soweit eine solche vorhanden ist, nicht hart beurteilen. Die guten Weiblein sind so auf sich selbst angewiesen und müssen im Grunde die Suppe, die sie sich einbrocken, oft so ganz allein ausessen mit allerlei Leiden und Schmerzen, daß sich hieraus die Plötzlichkeit wohl erklären läßt, mit der ihre Instinkte zuweilen umschlagen. [...]"

Da kommt Heinrich zu der Erkenntnis:
"[...] der Umweg über das Grafenschloß hatte mich nicht nur die Mutter, sondern auch den Glauben an ihr Wiedersehen und an den lieben Gott selbst gekostet, alles Dinge indessen, deren Wert nicht aus der Welt fällt und immer wieder zum Vorschein kommt. [...]" (Keller: Der grüne Heinrich 2. Fassung)

Gottfried Keller: Der grüne Heinrich - die Abreise

"[...] Als am nächsten Vormittag der Graf und ich bereits in dem bequemen Reisewagen saßen, sagte Dorothea, die uns beiden schon die Hand gegeben und jetzt plötzlich nochmals zum Wagen trat: »Nun ist doch etwas vergessen! Ihr grünes Buch, Herr Heinrich, liegt noch in meiner Verwahrung! Soll ich es rasch holen?«
»Laß nur!« sagte mein Reisegefährte; »es hält uns zu lange auf; wenn er uns, wie zu hoffen, bald schreibt, so können wir ihm das Buch wohlbehalten nachsenden, nicht so?«
Ich nickte nur froh aufatmend meine Zustimmung, da mit dem Buche ein Teil meiner selbst in der unmittelbaren Nähe Dortchens zu bleiben schien.
»Ich will es in sicherm Verschluß halten, und es soll ihm nichts geschehen!«, sagte sie und winkte mir, während wir wegfuhren, mit vollem freundlichem Blicke zu. Damals habe ich das schöne Wesen dennoch zum letzen Mal in meinem Leben gesehen." (Gottfried Keller: Der grüne Heinrich, 4. Teil 13. Kapitel)

25 Dezember 2019

Keller: Der grüne Heinrich 1. Fassung 2. Kapitel

"[...] Aber nicht nur in der äußern Umgebung, auch an sich selbst empfand er den Reiz eines neuen Lebens. Dann und wann begegnete ein reisender Handwerksbursch, ein alter zitternder Mann, ein verlaufenes bleiches Bettlerkind dem dahinrollenden Wagen. Während keiner der andern Reisenden sich regte, wenn die demütig Flehenden mühsam eine Weile neben dem schnellen Fuhrwerke hertrabten, suchte Heinrich immer mit eifriger Hast seine Münze hervor und beeilte sich, sie zu befriedigen. Dabei fiel es ihm nicht schwer, es mit einer Miene zu tun, welche den Bettler gewissermaßen zu ihm herauf hob, statt noch mehr abwärts zu drücken, und je nach dem besonderen Erscheinen des Bittenden leuchtete aus Heinrichs Augen ein Strahl des Verständnisses, der unbefangenen Teilnahme, eines sinnigen Humores oder auch ein Anflug mürrischen, lakonischen Vorwurfes; immer aber gab er und die von ihm Beschenkten blieben oft überrascht und nachdenklich stehen. Weil Gewohnheit und Sitte nur eine kleine Gabe, ein Unmerkliches verlangen, so hielt er es umso mehr für würdelos, je einen Armen erfolglos bitten zu lassen, möge nun geholfen werden oder nicht, möge Erleichterung oder Liederlichkeit gepflanzt werden; ein gewisser menschlicher Anstand schien ihm unbedingt zu gebieten, daß mit einer Art Zuvorkommenheit diese kleinen Angelegenheiten abgetan würden. Er hatte noch nicht die Kenntnis erworben, daß bei dem faulen und haltlosen Teile der Armen durch wiederholtes Abweisen jenes Gekränktsein und dadurch jener Stolz geweckt werden müssen, welche endlich Selbstvertrauen hervorbringen. [...]
Wenigstens fuhr Heinrich wie ein wahrer König in die helle Welt hinaus. Er war nun sich selbst überlassen und konnte in den Kreis seines Geschickes aufnehmen, was sein leichtes Herz begehrte; und indem er gewissenhaft den Armen seinen Kreuzer mitteilte, rechnete er dieses zu den seinem Leben nötigen Ausgaben. Er dachte übermütig: Zwei Pfennige sind immer genug, um den einen wegzuschenken! und so trug er wenige Taler in der Tasche, aber ein Herz voll Hoffnung und blühenden Weltmutes in der Brust. Wäre er ein König dieser Welt gewesen, so hätte er vermutlich viele Millionen »verschleudert« , so aber konnte er nichts vergeuden als das wenige, was er besaß: seines und seiner Mutter Leben." (Keller: Der grüne Heinrich 1. Fassung 1. Band 2. Kapitel)

Gottfried Keller: Der grüne Heinrich: Dortchen Schönfund und Heinrichs Brief an die Mutter

"Sie war von Seite des Fräuleins an mich abgesandt mit der Aufforderung, sogleich nebst der Botin zu ihr zu kommen und den Frauenzimmern den Ort zu zeigen, wo ich den blühenden Zeidelbast gefunden habe. Das Mädchen lächelte artig und schalkhaft bei seiner Verrichtung, seines vorteilhaften Aussehens wohlbewußt; der schöne Anblick saß mir auch fest im Auge, doch nahm ich denselben lediglich zugunsten der Herrin, deren Schönheit ich ihn zurechnete. Ohne Zögern ließ ich liegen, was ich vorgehabt, und eilte mit dem Mädchen durch Bäume und Herrschaften nach dem Kirchhofe, wo Dorothea wartete.
»Wo stecken Sie denn?« rief sie mir entgegen; »wir wollen noch mehr von dem blühenden Zeiland suchen, das kann man nicht alle Neujahrstage. Überdies sind wir die einzigen jungen Leute hier und dürfen uns auf unsere Weise auch ein bißchen des Lebens freuen!«
Sie ergriff somit meinen Arm, und wir gingen, von Röschen begleitet, nach dem Buchenwald, den wir in acht oder zehn Minuten erreichten. Der Waldboden war trocken wie im Sommer, und sobald wir ihn betraten, fing Dortchen an zu singen, und zwar ein wirkliches Volkslied und im Tone, wie das Volk selber singt, treuherzig und selbst mit den kleinen Schnörkeln verziert, die jenes anzuhängen pflegt. Röschen fiel alsbald mit der zweiten Stimme ein, etwas tief und derb, so daß es klang, wie wenn zwei gesunde Landmädchen durch den sonntäglichen[791] Wald gingen. Natürlich waren es von den wehmütigen Liebesgeschichten, die sie eine nach der anderen anstimmten und andächtig zu Ende führten, ohne daß Dortchen meinen Arm fahrenließ, bis ein rötlicher Glanz uns anzeigte, daß einige Sträucher der gesuchten Pflanze in der Nähe waren; denn die sinkende Sonne streifte durch die Buchenstämme und traf die blühenden Zweige der Daphneen, wie Dortchen sie mit dem botanischen Titel nannte, der mir unbekannt gewesen. Sie jauchzte fröhlich auf, und beide Mädchen liefen sogleich hin, von den narkotisch duftenden Zweigen die schönsten zu brechen, während ich mich auf den Stamm eines gefällten Baumes setzte und ihnen zuschaute, mit Wohlgefallen jeder ihrer Bewegungen mit den Augen folgend.
Als sie ihre Ernte gehalten, ging Röschen weiter, noch mehr Sträucher aufsuchend, und das Mädchen verlor sich allmählich hinter den Bäumen. Dorothea hingegen kam und ließ sich bei mir nieder, indem sie mir ihren Blütenstrauß unter die Nase hielt.
»Ist es nun nicht hübsch hier«, sagte sie, »und sind Sie nicht froh, daß wir Sie aus Ihrem Schlupfwinkel geholt haben?«
»Ich wollte an meine Mutter schreiben«, antwortete ich.
»Haben Sie ihr denn nicht schon früher auf den heutigen Tag einen Neujahrsbrief geschickt?«
»Ich habe ihr noch nicht geschrieben, seit ich hier bin; sie weiß gar nicht, wo ich lebe!«
»Sie weiß es gar nicht? Wie können Sie so was tun?«
Ich blickte seitwärts und kratzte mit den Fingern ein kleines Moosgärtlein weg, das auf der silbergrauen Rinde des Stammes saß. Dann sagte ich, daß ich einen so langen Aufenthalt nicht vorhergesehen und endlich gedacht hätte, die Mutter um so froher zu überraschen, wenn ich schließlich selber käme.
»Das muß ich sagen«, rief sie, »morgen müssen Sie aber schreiben, ich leid es nicht länger! Wer ein solches Mütterchen hat, sollte seinem Schöpfer danken! Wissen Sie, daß Ihr Buch aussieht wie ein Herbarium? Überall, wo mir etwas Freude machte oder wo ich Ihnen gern die Leviten gelesen hätte, legte ich ein grünes Blatt oder Gras hinein. Es liegt in meinem Sekretär eingeschlossen. Mehr als einmal, wenn ich von Ihrer Mutter las, dachte ich: Könntest du doch bei einem solchen Mütterchen mit unterkriechen, die du keines gekannt hast! Aber morgen wird geschrieben! Sie müssen auf meinem Zimmer schreiben, und ich geh Ihnen nicht von der Seite, bis der Brief fertig und zugemacht ist, und wenn Sie folgsam sind, so schreib ich selbst noch einen Gruß mit hinein!«"
(Gottfried Keller: Der grüne Heinrich, 4. Teil 13. Kapitel)

Gemeinsamkeiten und Unterschiede von "Der Nachsommer" und "Der grüne Heinrich"

Freiherr von Risach, der "Gastfreund" des Ich-Erzählers Heinrich im Nachsommer war in Regierungs- und Verwaltungsgeschäften tätig, bevor er wieder auf seine Jugendliebe traf, von der er durch das Schicksal (oder durch unzureichende Entschlossenheit, eine Verbindung mit ihr einzugehen?) getrennt worden war.
Von da an lebt er in ständiger Verbindung und inniger Verbundenheit, aber getrennt und immer noch besuchsweise mit ihr zusammen.
Der grüne Heinrich der 1. Fassung stirbt früh. Der der 2. Fassung lebt in einer ähnlich innigen Verbundenheit, aber getrennt mit seiner Jugendliebe Judith.

Stifters Nachsommer erschien 1857, zwei Jahre nach der Erstfassung von Kellers grünem Heinrich. Die Zweitfassung dieses Werks aber erschien 22 bis 23 Jahre nach Stifters Nachsommer. Es ist nicht recht vorstellbar, dass Keller das Werk des 14 Jahre älteren Stifter nicht gekannt haben sollte. Gut denkbar, dass der Schluss der 2. Fassung also vom Nachsommer beeinflusst war.

1855 war Kellers großer Bildungsroman erschienen. Der Held des Nachsommers heißt Heinrich wie der von Kellers Roman; aber im Unterschied zu dem macht er alles richtig: Er hält die Verbindung zu seiner Familie, er betreibt sinnvolle Studien und findet die ideale Braut. (Sie heißt Nathalie wie die große Liebe von Wilhelm Meister.)
So wird er - aber diese Zukunft liegt außerhalb des Romans - vermutlich eine glückliche Ehe führen und nicht wie sein Gastfreund Freiherr von Risach eins in melancholischer Entsagung.

Nach Stifters Tod (ein Suizid) lässt Keller seinen Heinrich (in der 2. Fassung) überleben. "Korrigiert" er damit Stifters Leben, so wie dieser seinen Roman "korrigiert" hatte?

Interpretationen zu Stifters Nachsommer bei norberto42.
Kellers: Der grüne Heinrich 1. Fassung bei norberto42.

24 Dezember 2019

Wie der Teufel gefangen wurde

Der Teufel ist los
oder
das Märlein, wie der Teufel den Branntwein erfand


"Es hatten einmal zwei Landesherren einen Grenzstreit; da waren auf jeder Seite Zeugen, die das Recht behaupteten, und darunter waren zwei, die hatten vom Teufel die Schwarzkunst erlernt und ihm dafür ihre Seelen verschrieben.
Diese Beiden haben einmal ein Jeder in der Nacht wollen falsche Grenzsteine setzen, so, wie jeder von ihnen die Grenze behauptete, und haben die Steine mit schwarzer Kunst wollen machen, daß sie aussahen, als ob sie schon viele, viele Jahre da gestanden hatten. Da sind sie alle zwei, als feurige Männer, hinauf auf die Höhe gegangen. Und wie der Eine hinauf kommt, da ist der Andere schon da. Aber keiner hat etwas von dem andern gewußt, daß dieser denselben Gedanken hatte.
Da fragte der Eine den Andern: "Was machst Du da?" ""Was hast Du danach zu fragen? Sage mir zuvor, was Du da machen willst?""
"Grenzsteine will ich setzen, und will den Grenzzug machen, wie dieser eigentlich sein muß."
""Das habe ich selbst schon gethan, und da stehen die Steine, und so geht der Grenzzug.""
"Das ist nicht richtig, und so geht der Grenzzug. Mein Herr hat gesagt, ich hätte Recht, und ich solle nicht nachgeben." ""Wer ist denn Dein Herr? Das wird auch ein schöner Monsieur sein!""
"Der Teufel ist mein Herr! Hast Du nun Respekt?"
""Das ist nicht wahr, das ist mein Herr, und derselbe hat mir gesagt, ich habe Recht und solle nicht nachgeben. Packe Dich den Augenblick, oder es geht Dir schlecht!" "
Und so kamen die Zwei hintereinander, und zuletzt da gab der eine feurige Mann dem andern eine Maulschelle, daß ihm der Kopf herabflog und hullerte den ganzen Berg hinab. Und der feurige Mann ohne Kopf rannte hinter seinem feurigen Kopfe her und wollte ihn haschen und wollte ihn sich wieder aufsetzen. Aber er konnte ihn nicht einholen bis ganz drunten im Graben.
Wie nun der Eine dem Andern die Maulschelle gegeben hatte, und jener hinter seinem Kopfe herlief, da kam auf einmal der dritte feurige Mann dazu, und fragte den, der oben blieb: "Was hast Du da gemacht?
""Was geht es Dich an und was hast Du mir zu befehlen? Den Augenblick packe Dich Deiner Wege, oder ich mache es Dir gerade so wie jenem." "
"Hallunke! Hast Du nicht mehr Respect vor mir? Weißt Du nicht, daß ich Dein Herr, der Teufel, bin?"
""Und wenn Du zehnmal der Teufel selbst bist, so liegt mir gar nichts daran; Du kannst mich meinetwegen recht schön rein machen!""
"Diesen Gefallen will ich Dir thun, Du sollst aber Dein Lebtag daran gedenken!"
Und da fing der Teufel an und machte ihn rein, daß die Feuerputzen auf dem ganzen Bergrücken herumflogen.
Aber wie er ihn so rein machte, da ersah mein feuriger Mann den günstigen Augenblick, und griff hin und erwischte den Teufel im Nacken, hielt ihn fest und sagte ihm:
"Nun bist Du in meiner Gewalt; nun sollst Du sehen, daß Du in der Menschen Händen bist! Du hast Dein Lebenlang genug armen Leuten den Hals herumgedreht, nun sollst Du auch selbst einmal erfahren, wie es thut, wenn einem der Hals umgedreht wird!"
Und fing an, und wollte dem Teufel den Hals herumdrehen. Wie der Teufel sah, daß der feurige Mann Ernst mit ihm machte, legte er sich aufs Bitten und gab ihm die himmelbesten Worte, er solle ihn doch gehen lassen und solle ihm den Hals nicht herumdrehen; er wolle ihm auch alles thun, was er nur von ihm verlangte. Da sagte ihm der: "Weil Du also erbärmlich thust, so will ich Dich nur gehen lassen; aberzuvor mußt Du mir meine Verschreibung wieder geben, in welcher ich Dir meine Seele verschrieben habe, und mußt mir auch versprechen, ja Du mußt mir das bei Deiner Großmutter beschwören, daß Du kein Theil mehr an mir haben willst, auch all Dein Lebetage von keinem Menschen Dir wieder die Seele verschreiben lassen."
Wollte der Teufel wohl oder übel, einmal stak er in der Klemme, und wenn er los kommen wollte und wollte nicht den Hals herumgedreht haben, so mußte er in einen saueren Apfel beißen, und gab ihm seine Verschreibung wieder und versprach's ihm und verschwur sich bei seiner Großmutter, daß er keinen Theil mehr an ihm haben wolle, und, wolle auch alle sein Lebetag von keinem Menschen sich wieder lassen die Seele verschreiben. Wie er das Alles gethan hatte, ließ jener den Teufel los.
Wie aber der Teufel wieder ledig war, da that er einen Sprung zurück, daß ihn Jener nicht etwa unversehens noch einmal erwischen konnte, und stellte sich hin und sagte: " So, nun bin ich wieder ledig; wenn ich Dir, Du Schalksnarr, nun auch meine Verschreibung wieder gegeben habe und habe Dir versprochen und beschworen, daß ich kein Theil mehr an Dir haben wolle, so habe ich Dir doch nicht versprochen, daß ich Dir auch nicht den Hals umdrehen wolle, so ich wieder ledig wäre. Und auf dem Flecke d'rauf sollst Du alleweil sterben, dafür, daß Du mich gegurgelt hast, und hast mir wollen den Hals umdrehen!"
Und damit fuhr der Teufel auf ihn hinein, und wollte ihm den Garaus machen, der aber riß aus und lief zum Walde hinein. Und der Teufel immer hinter ihm her. Und endlich ersah es Jener, und kam an eine alte Buche, die war hohl und hatte unten ein Loch. Da kroch er geschwind hinein und wollte sich verstecken vor dem Teufel. Aber er war nicht weit genug hinein gekrochen, und die Fußzehe guckte ihm noch heraus. Und weil er über und über feurig war, da leuchtete die Zehe durch die Nacht, und der Teufel wurde es gewahr, wo Jener sich hin versteckt hatte, und kam und wollte ihn an der Fußzehe erwischen.
Aber der in seinem Baume hörte es, wie der Teufel getappt kam, wie er nach ihm greifen und ihn erwischen wollte, da zog er sich vollends hinein, und machte sich weiter im Baume hinauf. Da kroch der Teufel auch hinein, und Jener machte immer weiter im Baums hinauf und der Teufel immer hinter ihm her. Endlich da hatte der Baum oben in der Höhe ein weites Astloch, da kam Jener d'ran und kroch heraus. Und wie er draußen war, da nahm er etwas und verkeilte das Astloch, wo er herausgekrochen war, und stieg geschwind herab und verkeilte auch das untere Loch, und machte es mit schwarzer Kunst so fest, daß es der Teufel selbst und seine Großmutter und die ganze Hölle nicht wieder aufbringen konnten. Darnach ging er seiner Wege. [...]"
(Ludwig Bechsteins Märchen: Der Teufel ist los)

Wie der Teufel gefangen war und es in der Hölle einsam wurde

"[...] Und da steckte nun der Teufel in der alten Buche, und konnte nicht herauskommen, und half ihm Alles nichts, er mußte d'rin stecken bleiben. Und da hat er lange Zeit darin gesteckt, und vielmal zu jener Zeit, wenn Leute des Wegs über jenen Berg gegangen sind, da haben sie ihn darin hören blöken und grunzen in seiner Buche. Endlich aber, wie der Holzschlag dort hinauf gekommen ist, da ist die Buche abgehauen worden. Da ist er endlich wieder herausgekommen und ist wieder frei geworden, der Teufel. Wie er nun wieder los war, da machte er sich auf und ging heim in die Hölle und wollte sehen, wie es aussahe? Aber da war Alles leer darin, wie es in der Kirche in der Woche ist, und war keine Seele mehr zu hören noch zu sehen. Seit der Teufel damals fortgegangen und nicht wieder gekommen war, und auch kein Mensch nicht gewußt hatte, wo er hingekommen war, da war nicht eine einzige Seele wieder in die Hölle gekommen. Und da war seine Großmutter für Herzeleid gestorben, und wie die todt war, da packten alle die armen Seelen, die dazumal in der Hölle waren, auf, und machten sich auf und davon und gingen alle mit einander in den Himmel. Und da stand er, Maus-Mutter -Stern allein in der Hölle, und wußte seines Leibes keinen Rath, wie er's wohl anfinge, daß er wieder arme Seelen bekäme, weil er es nicht mehr thun durfte, und hatte es damals bei seiner Großmutter verschwören müssen, daß er von keinem Menschen sich wieder wollte die Seele verschreiben lassen, und auf andere Weise bekam er damals keine Menschen in die Hölle. Und da stand er und wußte seines Herzeleids kein Ende, und wollte sich die Hörner aus dem Kopfe raufen vor lauter Herzeleid und Jammer. - Da fiel ihm auf einmal etwas ein.
Wie er in der alten Buche gesteckt hatte und nicht herausgekonnt, da war ihm zuletzt die Zeit lang geworden, und da hatte er über allerlei nachsimulirt und den Branntwein erdacht und erfunden. Das fiel ihm alleweit mitten in seinem Herzeleide wieder ein, und da dachte er sich, das müsse ein Mittelchen sein, wie er doch wieder arme Seelen in die Hölle bekommen könne.
Und da packte er auf der Stelle auf und ließ die Hölle Hölle sein, und ging nach Nordhausen und wurde ein Schnapsbrenner und machte Branntwein drein und drauf und schänkte ihn in die Welt hinein. Und er zeigte auch den Nordhäusern allen mit einander, wie der Schnaps gemacht wird, und versprach ihnen viel Geld und Gut, wenn sie's lernten und Branntwein brennten. Und die Nordhäuser ließen sich's auch nicht zweimal sagen, und wurden alle Schnapsbrenner, und machten Branntwein, und schänkten ihn in die Welt hinein. Seit dieser Zeit schreibt sich's her, daß bis auf den heutigen Tag so viel Branntwein in Nordhausen gebrennt wird, wie an keinem andern Orte in der ganzen Welt.
Aber wie sich's der Teufel gedacht hatte, also ging es auch. Wenn die Leute erst ein wenig Branntwein im Leibe hatten, da fingen sie an zu fluchen und zu schwören, und fluchten und schwuren ihre Seele zum Teufel, daß sie der Teufel bekam, wenn sie gestorben waren, und brauchte ihnen darum nicht zu dienen, wie er sonst hatte thun müssen, wenn er eine arme Seele hatte haben wollen. Und wenn sie sich den Kopf erst richtig vollgesoffen hatten im Branntwein, da fingen sie auch an und zankten sich und prügelten sich und brachen sich selber die Hälse, daß sich der Teufel nicht erst brauchte die Mühe zu geben und brauchte sie ihnen herum zu drehen. Und wenn der Teufel sonst mit aller Mühe und Noth hatte alle Wochen einmal eine arme Seele in die Hölle bekommen können, da kamen sie jetzt dutzend- und schockweise alle Tage hinein, und es dauerte kein Jahr, da war die Hölle zu klein geworden und konnte der Teufel die Seelen nicht mehr unterbringen und mußte ein ganz neues Stück lassen anbauen an die Hölle.
Und kurz und gut, seit der Teufel aus der alten Buche jenesmal wieder losgekommen ist, seit der Zeit ist der Branntwein aufgekommen, und seit der Branntwein in der Welt ist, da kann man erst recht eigentlich sagen:
"Der Teufel ist los!"  " (Ludwig Bechsteins Märchen: Der Teufel ist los)


Stark gekürzte Wiedergabe und Bezug auf die Finanzkrise

22 Dezember 2019

Gottfried Keller: Der grüne Heinrich: Heinrich reist nicht zu seiner Mutter weiter

Heinrich Lee macht sich auf den Weg nach Hause zu seiner Mutter. Doch obwohl er unterwegs mit reichlich Geld versorgt wird, so dass er bequem weiterreisen könnte und sich nicht mehr seines Misserfolgs schämen müsste (was ihn lange davor zurück hielt, seine Mutter unter die Augen zu treten), nimmt er die Möglichkeit nicht wahr.
Die Liebe zu Dortchen Schönfund hält ihn zurück.

"Noch gestern hatte ich geglaubt, mit meiner verschwiegenen Verliebtheit hoch über allem zu stehen, was ich je über Liebe gedacht und empfunden, und nun mußte ich erfahren, daß ich keine Ahnung gehabt von der Veränderung, die in dieser falschen Frühlingsnacht vorging.
Das Gattungsmäßige im Menschen erwachte mit aller Gewalt seines Wesens in mir; das Gefühl der Schönheit und Vergänglichkeit[787] des Lebens verdoppelte sich, und zugleich schien mir alles Heil der Welt nur auf diesen zwei schönen Augen zu stehen; während ich sie aber aus Dankbarkeit schon für ihr bloßes Dasein liebte und ehrte, verschmähte ich, sie auch nur in Gedanken mit meiner Person zu behelligen aus lauter Demut und Furcht, und doch war Demut wie Furcht wieder eine Lüge, wenn sie zwanzigmal mit unbestimmten Hoffnungen, mit Vorstellungen von Glück und Freude wechselten, statt zum Entschlusse weiser Flucht zu führen.
Mit Ruhe und Arbeit war es nun vorbei; denn so wie ich etwas in die Hand nehmen wollte, verirrten sich meine Augen in das Weite, und alle Gedanken flohen dem Bilde der Geliebten nach, welches, ohne einen einzigen Augenblick zu weichen, überall um mich her schwebte, während es zu derselben Zeit schwer wie aus Eisen gegossen in meinem Herzen lag, schön, aber unerbittlich hart und schwer. Von diesem eisernen Drucke, der mir sehr neu und grausam vorkam, war ich nur in Dortchens Gegenwart frei; kaum sah oder hörte ich sie nicht mehr, so stellte er sich wieder ein, und ich konnte ihn füglich ebensowohl als ein körperliches wie als ein moralisches Übel betrachten. Die Heftigkeit des Zustandes wurde keineswegs durch das beschämende Bewußtsein gemildert, daß ich an dem eben verbannten Peter Gilgus einen drolligen Genossen besaß; wie ich überhaupt nicht viel von der Meinung halte, physische oder geistige Leiden seien leichter zu tragen, wenn sie mit andern geteilt werden. War Gilgus auch in seiner Art von mir verschieden, so standen wir uns doch darin gleich, daß beide als arme Zuflüchtige in das Haus gekommen und mit dem Begehren nach der Tochter endeten.
Der unzeitige Frühling hielt wochenlang an; in den Gehölzen blühte schon der Zeidelbast, so daß ich am Weihnachtsabend, da ich nichts anderes hatte, eine Handvoll der roten duftenden Zweige auf den Bescherungstisch legen konnte. Es wurde übrigens nur den Angestellten und Dienstleuten beschert und ohne[788] weitere Festlichkeit; denn der Graf sagte, es zieme sich nicht, mit den Kirchlichen nur die Lustbarkeiten, nicht aber die Peinlichkeiten und die Andachten zu teilen. Als der Tisch geleert und das Volk abgezogen war, lag mein Strauß noch da. Dorothea ergriff ihn und sagte: »Wem gehört denn eigentlich die schöne Daphne? Gewiß mir, ich seh's ihr an!«
»Wenn Ihnen die Jahrszeit nicht allzu verdächtig ist«, sagte ich, »so erbarmen Sie sich dieser zu früh gekommenen Sendboten!«
»Ei was, man muß das Gute nehmen, wie's kommt. Haben Sie Dank; wir wollen die Zweige gleich ins Wasser stellen, sie sollen uns das ganze Haus durchduften!«
Dorothea war nicht nur an diesem Abend, sondern über die ganze Festzeit aufgeräumt und von lieblichster Laune, besonders am Neujahrstage, wo zum ersten Male, seit ich im Hause war, sich eine größere Gesellschaft zu einem Festmahle einfand. Nicht nur der Kaplan, sondern auch der Pfarrherr, der Arzt, ein Oberamtmann und einige Edelleute! Jugendgenossen des Grafen, welche trotz seiner verpönten Gesinnungen ihm zugetan blieben, waren da. Selbst ein paar aufgeweckte ältere Damen kamen angefahren und verbreiteten sogleich den guten freien oder den freien guten Ton, der in gewissen Zeiten oft nur noch in der Gewalt der alten Frauen steht, die andere Tage gesehen haben und für sich nichts mehr fürchten noch hoffen. Es wurde nichts gesagt, was der einzelne nicht hören durfte, und doch auch nichts verschwiegen, was irgend mit wohlwollender Heiterkeit anzubringen war. Jeder fand seine Gelegenheit, ein Wort mitzusprechen, und keiner mißbrauchte sie, weil das Treffendere und deshalb scheinbar Neuere schon gesagt war, sofern einer darauf ausging, dergleichen zu leisten. Selbst der Kaplan übte seine Künste mit höflicher Mäßigkeit, und der Pfarrherr, ein rechtgläubiger, aber nicht bösartiger Katholik, zog von vornherein eine so generose Linie des allenfalls zu Dulden den um seine behagliche Person, daß die Überschreitung[789] der Grenzwehr niemandem einfiel und sogar nicht einmal eine merkliche Annäherung versucht wurde.
Ungeachtet dieses heitern Daseins nahm ich meine Zeit wahr, um mich für einmal zurückzuziehen, da ich durch mein Dableiben weder aufzufallen noch zu stören wünschte. Für den Augenblick etwas ruhiger geworden, begab ich mich in die alte Hauskapelle und machte mir dort einiges mit meinen Bildern zu schaffen, die halb eingetrocknet dastanden.
Wie ich mich so in der Stille befand, kam mir plötzlich die Mutter in den Sinn, welche in der fernen Heimat saß und nicht wußte, wo ich war, indessen es mir hier wohlerging. Längst hätte ich ihr nun Nachricht geben können und sollen, da sich die Umstände ja für einmal tröstlich verändert hatten; daß ich es dennoch immer verschob, geschah aus unklar ineinanderfließenden Ursachen. Erstlich hielt ich allerdings meine Angelegenheiten nicht mehr für so sehr wichtig und besprechenswert, seit ich aus der Not erlöst war; dann dachte ich wieder, durch die Freude einer unvermuteten Ankunft alles gutzumachen, bis wohin die kurze Spanne Zeit, gegenüber den verflossenen Jahren, nicht mehr in Betracht käme; endlich aber scheute ich mich unbewußt, bei dem jetzigen innern Zustande irgendeinen Laut von mir zu geben, zumal die geheime Selbstliebe trotz aller gegenteiligen Gedankengänge und Vorsätze sich doch nicht eingestehen wollte, daß jede Entscheidung undenkbar sei. Als ich nun in einiger Ruhe dies Wirrsal beschaute, faßte ich doch den Entschluß, die stille Stunde zu benützen und der Mutter zu schreiben, wo ich sei, wie es mir gehe und daß ich bald heimkehren werde. Zu diesem Zwecke ging ich nach dem Gartenhause hinüber, wo ich etwas Bücher und Schreibzeug liegen hatte. Auf dem Wege dahin bemerkte ich, daß die Gesellschaft sich in dem wie im Frühlingslichte ruhenden Park erging; das konnte mir als merkwürdiges Bild eines Neujahrstages und meines Aufenthaltes gleich zum Eingange des Briefes dienen. Kaum war ich aber in meinem Zimmer oder Schlafsälchen angelangt, so klopfte es, und Röschen die Gärtnerin erschien in der Sonntagstracht der Landesgegend vom zierlichsten Schnitte; die wollene pelzverbrämte Jacke trug sie der warmen Luft wegen nur am Arme, so daß die Brustbekleidung von grüner Seide mit ihren silbernen Häkchen und Knöpfchen den Wuchs des hübschen Mädchens um so feiner zeichnete. Ein kleines Gehäube, von schwarzem Samt und Spitzen zusammengesetzt, bekleidete den Ausgang der starken goldenen Zöpfe, von denen der eine wie aus Übermut über die Schulter nach vorn gezogen war und mit der Jacke auf dem Arme lag. [...]" 
 (Gottfried Keller: Der grüne Heinrich, 4. Teil, 13. Kapitel )

Gottfried Keller: Der grüne Heinrich: Die Situation von Heinrichs Mutter

Der Bekannte aus dem Dorf berichtet Heinrich über die Situation seiner Mutter:

"Sie sitzt den ganzen Tag am Fenster und spinnt; sie spinnt jahraus und -ein, als ob sie sieben Töchter auszusteuern hätte, damit doch mittlerweile etwas angesammelt würde, wie sie sagt, und wenigstens der Sohn für sein Leben lang und für sein ganzes Haus genug Leinwand finde. Wie es scheint, glaubt sie durch diesen Vorrat weißen Tuches, das sie jedes Jahr weben läßt, Ihr Glück herbeizulocken, gleichsam wie in ein aufgespanntes Netz, damit es durch einen tüchtigen Hausstand ausgefüllt werde, wie die Gelehrten und Schriftsteller etwan durch ein Buch weißes Papier gereizt werden sollen, ein gutes Werk darauf zu schreiben, oder die Maler durch eine ausgespannte Leinwand, ein Bild darauf zu malen.« Bei diesem letzteren Vergleich des wackern Redners konnte ich mich eines bitteren Lächelns nicht enthalten. Das schien ihm wohl die Richtigkeit seiner Vermutungen zu bestätigen, und er fuhr fort: »Zuweilen stützt sie ausruhend den Kopf auf die Hand und blickt unverwandt in das Feld hinaus, über die Dächer weg oder in die Wolken; wenn es aber dämmert, so läßt sie das Rad stillstehen und bleibt so im Dunkeln sitzen, ohne Licht anzuzünden, und wenn der Mond oder ein fremder Lichtstrahl auf ihr Fenster fällt, so kann man alsdann unfehlbar ihre Gestalt in demselben sehen, wie sie immer gleicherweise ins Weite schaut. Wahrhaft melancholisch aber ist es anzusehen, wenn sie die Betten sonnt; anstatt sie mit Hilfe anderer auf unsern Platz hinauszutragen, wo der große Brunnen steht, schleppt sie dieselben auf das hohe schwarze Dach Eueres Hauses, breitet sie dort an der Sonnenseite aus, geht emsig auf dem abschüssigen Dache umher, ohne Schuhe zwar, aber bis an den Rand hin, klopft die Kissen und Pfühle aus, kehrt sie, schüttelt sie und hantiert so seelenallein in der Höhe unter dem offenen Himmel, daß es höchst verwegen und sonderbar anzusehen ist, zumal wenn sie innehaltend die Hand über die Augen hält und droben, in der Sonne stehend, nach der Ferne hinausblickt. Ich konnt es einst nicht länger ansehen von meinem Hof aus, wo ich bei den Gesellen stand; ich ging hinüber, stieg bis unter das Dach hinauf und hielt unter der Luke eine Anrede an sie, indem ich ihr die Gefahr ihres Tuns vorstellte. Sie lächelte aber nur und bedankte sich für die gute Meinung. Es ist daher meine Ansicht, daß Sie nach Hause reisen sollten, je eher, je lieber! Kommen Sie gleich mit uns!« Ich schüttelte aber den Kopf, denn ich konnte mich nicht entschließen, meinen Schiffbruch kundzutun und so aus der Schule zu laufen. Ich gedachte das Übel allein zu verwinden und mit geklärtem Schicksal, so oder anders, zur geeigneten Zeit zurückzukehren. Mit unbestimmten Reden, in denen ich weder ein zu großes Selbstvertrauen heuchelte, noch meine wirkliche Lage eingestand, behalf ich mir den übrigen Teil des Tages, bis ich am späten Abend von den Landsleuten Abschied nahm, die am frühen Morgen wegreisen wollten."

12 Dezember 2019

Gottfried Keller: Der grüne Heinrich: Heinrichs Aufbruch (Vergleich der beiden Fassungen)

"[...] »Da habe ich schon angefangen, deinen Koffer zu packen, weil du sonst vor Abgang der Post nicht mehr fertig würdest.«
Heinrich guckte in den Koffer; mit richtigem Sinn hatte die gute Frau Mappen und Bücher auf den Boden gebreitet; nur [16] hatte sie mit weniger Zartheit verschiedene Bogen und Papiere nicht genugsam zusammengeschichtet, so daß einige derselben an den Wänden des Koffers gekrümmt wurden, was der Sohn eifrig verbesserte. Für Papier haben die meisten Hausfrauen überhaupt nicht viel Gefühl, weil es nicht in ihren Bereich gehört. Die weiße Leinwand ist ihr Papier, die muß in großen, wohlgeordneten Schichten vorhanden sein, da schreiben sie ihre ganze Lebensphilosophie, ihre Leiden und ihre Freuden darauf. Wenn sie aber einmal ein wirkliches Briefchen schreiben wollen, so findet sich kaum ein veraltetes Blatt dazu, und man kann sich alsdann mit einem hübschen Bogen Postpapier und einer wohlgeschnittenen Feder sehr beliebt bei ihnen machen.
Auch hier erwies es sich, daß die Mutter eigentlich die schweren Gegenstände zuunterst gepackt hatte, um die zwölf schönen neuen Hemden zu schonen, welche sie jetzt hineinlegte.
»Trage doch recht Sorge für deine Hemden«, sagte sie, »ich habe das Tuch selbst gesponnen; siehst du, diese sechs sind fein und schön, sie stammen aus meinen jüngeren Jahren, diese sechs hingegen sind schon gröber, meine Augen sind eben nicht mehr so scharf. Alle aber sind schneeweiß, und wenn du auch, während sie noch gut sind, feinere Kleider anschaffen könntest, so darfst du doch meine Wäsche dazu tragen, weil es anständige und ehrbare Leinwand ist. Wechsle recht gleichmäßig ab, wenn du sie der Wäscherin gibst, damit nicht ein Teil zuviel gebraucht wird, und verfasse immer einen genauen Waschzettel. Und daß du mir nur das Weißzeug und dergleichen mehr estimierst als bisher und nichts verzettelst! Denn bedenke, daß du von nun an für jedes Fetzchen, das dir abgeht, bares Geld in die Hand nehmen mußt und es doch nicht so gut bekömmst, als ich es verfertigt habe. Wenigstens untersteh dich nicht mehr und wische deine kotigen Schuhe auf Spaziergängen mit neuen Taschentüchern ab, welche du nachher wegwirfst, wie du neulich getan hast! Halte auch deine zwei Röcklein gut und ordentlich und hänge sie immer in den Schrank, anstatt sie zu Hause anzubehalten [17] und halbe Tage lang so zu lesen, wie ich dich schon oft ertappt habe. Besonders wenn du sie ausbürstest, fahre nicht mit der Bürste darauf herum wie der Teufel im Buch Hiob, daß du alle Wolle abschabst!«
»Das verwünschte Kleiderputzen«, entgegnete hierauf der Sohn, welcher unterdessen beim Ausbreiten der Kleidungsstücke seine Hände auch immer unnützerweise im Koffer hatte, »das verwünschte Kleiderputzen wird überhaupt nun ein Ende nehmen; denn wenn man in der Fremde ist und sich eine ordentliche Wohnung mieten muß, so bekommt man die Bedienung mit in den Kauf. Es reut mich jeder Augenblick, den ich mit dem widerlichen Geschäft zugebracht habe.«
»Das ist wieder der Hans Obenhinaus!« rief etwas heftig die Mutter, »Bedienung! ich sage dir, lasse dich lieber nicht bedienen, wenn du dich dadurch billiger einrichten kannst. Ich sehe nicht ein, warum du nicht selbst deine Sachen in Ordnung halten solltest, während du sonst stundenlang in die Berge hineinstarrst!«
»Das verstehst du halt nicht!« hätte Heinrich fast gesagt, fand es aber für gut, die Worte zu verschlucken und sich dafür mit dem festen Vorsatze zu wappnen, hinfüro keine Schuhbürste mehr anrühren zu wollen. Das undankbare Kind vergaß hiebei gänzlich, wie rührend ihn die Mutter oft überrascht hatte, wenn er beim Antritt irgendeiner kleinen Reise, oder wenn Fremde im Hause waren, seine Schuhe glänzend gewichst fand, just wenn er mit Seufzen und falscher Scham vor dem Besuche an das verhaßte Geschäft gehen wollte.
Indessen war Frau Lee besorgt, noch eine Menge Kleinigkeiten auf die geschickteste Weise in dem Koffer unterzubringen. Dann brachte sie ein mächtiges Stück feine Seife, wohl eingewickelt, eine zierliche Nadelbüchse, Faden und Knöpfe aller Art in einem artigen Schächtelchen, eine Schere, eine gute neue Kleiderbürste, unterschiedliche Tuchabschnitzel, welche seinen Kleidungsstücken entsprachen, zusammengerollt und mit einem[18] Bindfaden vielfach umwunden, und die sie ihm ja nicht zu verlieren empfahl, indem ein gewandter Schneider die Existenz eines Rockes mit dergleichen manchmal um ein volles Jahr zu fristen vermöge. Sie geriet hiebei wieder in einigen Konflikt mit dem Sohne, welcher alle vorhandenen Lücken für die verschiedenen Bruchstücke einer alten Flöte, für ein Lineal, eine Farbenschachtel, einen baufälligen Operngucker usw. in Beschlag nehmen wollte. Ja, er machte, obgleich er kein Mediziner war, doch einen vergeblichen Versuch, einen defekten Totenschädel, mit welchem er seinem Kämmerchen ein gelehrtes Ansehen zu geben gewußt hatte, noch unter den Deckel zu zwängen. Die Mutter jagte ihn aber mit widerstandsloser Energie von dannen, und man behauptet, daß das greuliche Möbel nicht lange nachher einem ehrlichen Totengräber bei Nacht und Nebel nebst einem Trinkgelde übergeben worden sei. [...] 
Endlich saß er seiner Mutter beim Frühstück gegenüber, auf dem Stuhle, auf welchem der dreijährige Knabe schon geschaukelt hatte. Es war nun alles getan und vorbereitet; ein Mann hatte den Koffer nach der Post geholt – es war eine Totenstille in der Stube. Die Morgensonne umzirkelte die altertümlichen, ererbten Porzellantassen, welche Heinrich schon zwanzig Jahre lang durch die Hände seiner Mutter gehen sah, ohne daß je eine zerbrochen wäre. Es war ein feierlicher Moment gewesen, als er für würdig erfunden ward, sein Kinderschüsselchen mit einer dieser bunten und vergoldeten Tassen versuchsweise zu vertauschen.
Frau Lee hätte ihrem Sohne noch gern allerlei gesagt; aber sie konnte mit ihm gar nicht sentimental sprechen, sowenig als er mit ihr. Endlich sagte sie schüchtern und abgebrochen:[20]
»Werde nur nicht leichtsinnig und vergiß nicht, daß wir eine Vorsehung haben! Denke an den lieben Gott, so wird er auch an dich denken, und mach, daß du bald etwas lernst und endlich selbständig werdest; denn du weißt genau, wieviel du noch zu verbrauchen hast und daß ich dir nachher nichts mehr werde schicken können, das heißt, wenn es dir übel ergehen sollte, so schreibe mir ja, solange du weißt, daß ich selbst noch einen Pfennig besitze, ich könnte es doch nicht ertragen, dich im Elend zu wissen.«
Der Sohn schaute während dieser Anrede stumm in seine Tasse und schien nicht sehr gerührt zu sein. Die Mutter erwartete aber keine andern Gebärden, sie wußte schon, woran sie war, und fühlte sich etwas erleichtert. Ach, du lieber Himmel! dachte sie, eine Witwe muß doch alles auf sich nehmen; diese Ermahnungen zu erteilen, dazu gehört eigentlich ein Vater, eine Frau kann solche Dinge nicht auf die rechte Weise sagen; wenn das arme Kind nicht zurechtkommt, wie werde ich die Sorge mit dem gehörigen klugen Ernste vereinigen können?"
(Keller Heinrich 1. Fassung 1. Band 1. Kapitel)

"[...] Dort harrte die Mutter mit der letzten kleinen gemeinsamen Mahlzeit, die sie bereitet; die nächste sollte sie nun allein verzehren. Die Morgensonne erfüllte das Gemach mit ihrem [478] Scheine, und ich betrachtete, als wir einsilbig am Tische saßen, durch die Stille wie befremdet, die schlichten weißen Vorhänge, das alte Wandgetäfer, das Hausgeräte, wie wenn ich alles dies nie wiedersehen sollte. Das Frühstück war etwas reichlicher als gewöhnlich bedacht, hauptsächlich damit ich nicht in den nächsten Stunden Schon hungrig zu werden und Geld auszugeben brauchte, aber auch weil die Mutter sich mit dem Reste den übrigen Tag hindurch nähren und heute für sich allein nicht mehr kochen wollte. Als sie das beiläufig sagte, ward ich ganz betreten und wollte erwidern, sie müsse das ja nicht tun, wenn ich nicht eine traurige Vorstellung mit mir nehmen solle. Allein ich brachte kein Wort hervor, an dergleichen Äußerungen nicht gewöhnt, indessen die Mutter nach Worten suchte, um diejenigen letzten Ermahnungen an mich zu richten, die sonst einem Vater obliegen. Da sie aber die Welt nicht kannte noch die Tätigkeiten und Lebensarten, denen ich entgegenging, und doch wohl fühlte, daß etwas nicht richtig sei in meinen Geschichten und Hoffnungen, ohne daß sie nachweisen konnte, worin es lag, so beschränkte sie sich schließlich auf den kurzen Zuspruch, ich solle Gott nie vergessen. Dieses Allgemeine, welches freilich alles umfaßte und ausdrückte, was sie mir hätte sagen können, weil ich ein ungebrochenes theistisches Glauben und Fühlen in mir trug, nahm ich mit dem Schweigen entgegen, das von selbst eine Bejahung ist. Und da zugleich die Kirchenglocken einfielen und eine um die andere rasch zusammenklangen, so blieb jenes Wort das letzte zwischen uns gesprochene; denn die Minute war da, wo ich aufzubrechen hatte. Ich sprang auf, nahm Mantel und Tasche und gab der Mutter die Hand zum Lebewohl. Unter der Stubentüre, als sie mich begleiten wollte, drängte ich sie sanft zurück, zog die Türe zu und eilte allein auf die Post, von wo ich bald darauf in einem der schweren, mit fünf Pferden bespannten Eilwagen saß, die jeden Morgen im Trabe die steilen, schlecht gepflasterten Gassen der Bergstadt hinunterrasselten. [...]" (Keller: Der grüne Heinrich, 2. Fassung, 3. Band  10. Kapitel

Aus der Sicht des Ich-Erzählers braucht auf Einzelheiten des Kofferpackens nicht eingegangen zu werden. Statt dessen wird der Totenschädel, "
das greuliche Möbel", zu einer etwa 18 Seiten umfassenden Erzählung von Zwiehahn ausgebaut, die ein merkwürdiges Licht auf Heinrichs gesamtes Unternehmen in Deutschland wirft.  

sieh auch: 
http://www.waltermorgenthaler.ch/keller/GH/GH_Parallel.htm (Text des Romans: die beiden Fassungen parallel)

Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (1. Fassung) - Vorwort und 1. Kapitel

Die Unterschiede zwischen der ersten und der zweiten Fassung des Romans sind so groß - und im Vorwort zur ersten Fassung wird so deutlich darauf hingewiesen -, dass ich - nachdem mir die zweite Fassung nach einiger Lektüre vertrauter vorkommt - jetzt zur ersten Fassung gewechselt habe, um mir die Unterschiede vor Augen zu führen. Sie gehört zum Frühwerk und lässt durch den Vergleich mit der zweiten deutlich die Unterschiede erkennen: größere Ausführlichkeit, direkte Rede, wo in der zweiten Fassung nur berichtet würde. Die Ausführlichkeit und die Bildhaftigkeit der Landschaftsschilderung erinnert mich etwas an Jean Paul.

Vorwort 
"[...] Von diesem Buche liegt der erste Band schon seit zwei Jahren, der zweite seit einem Jahre fertig gedruckt, während die Beendigung des dritten und vierten Bandes durch verschiedenes Ungeschick bis vor kurzem verzögert wurde. Absicht und Motive blieben dabei unverändert dieselben wie am ersten Tage der Konzeption, während in der Ausführung während mehrerer Jahre der Geschmack des Verfassers sich notwendig ändern mußte, oder ehrlich herausgesagt: ich lernte über der Arbeit besser schreiben. Die ersten Bogen dieses Romanes datieren noch aus dem Jahr 1847, die letzten entstanden in diesen Tagen, und die Entstehungsweise des Ganzen gleicht derjenigen eines ausführlichen und langen Briefes, welchen man über eine vertrauliche Angelegenheit schreibt, oft unterbrochen durch den Wechsel und Drang des Lebens. Man läßt den Brief ganze Zeiträume hindurch liegen, man wird vielfältig ein anderer; aber wenn man das Geschriebene wieder zur Hand nimmt, fährt man genau da fort, wo man aufgehört hatte, und wenn sich auch in dem, was man betont oder verschweigt, der Wechsel des Lebens kund tut, findet sich doch, daß man gegen den, an welchen der Brief gerichtet, und in dieser Sache der alte geblieben ist. Man hat den Brief mit einer gewissen, redseligen Breite begonnen, welche eher von Bescheidenheit zeugt, indem man sich kaum Stoffes genug zutraute, um den ganzen schönen Bogen zu füllen. Bald aber wird die Sache ernster; das Mitzuteilende macht sich geltend und verdrängt die gemütlich ausgeschmückte Gesprächigkeit, und endlich zwingt sich von selbst, und noch gedrängt durch die äußeren Ereignisse und Schicksale, nicht eine theoretische, sondern im Augenblick praktische Ökonomie in die in der Eile besonnene Feder, so daß nur das Wesentliche sich lösen darf aus dem Fluge der Gedanken, um sich gegen den Schluß des Briefes hin wenigstens so viel Raum zu erkämpfen, als nötig ist, mit der warmen Liebe des Anfanges zu endigen. So entsteht freilich nicht ein streng gegliedertes Kunstwerk, aber vielleicht ein um so treuerer Ausdruck dessen, was man war und wollte mit dem Briefe. Eine andere Frage aber ist es nun, ob das Gleichnis hinreiche, eine gewisse Unförmlichkeit vorliegenden Romanes zu entschuldigen oder zu beschönigen. [...]"
(Keller: Heinrich 1. Fassung, VorwortHervorhebungen von Fontanefan)

"[...] Besagte Unförmlichkeit hat ihren Grund hauptsächlich in der Art, wie der Roman in zwei verschiedene Bestandteile auseinanderfällt, nämlich in eine Selbstbiographie des Helden, nachdem er eingeführt ist, und in den eigentlichen Roman, worin sein weiteres Schicksal erzählt und die in der Selbstbiographie gestellte Frage gewissermaßen gelöst wird. Der eine dieser Teile ist viel zu breit, um als Episode des andern zu gelten, und so bleibt nur zu wünschen, daß die Einheit des Inhaltes beide genugsam möge verbinden und die getrennte Form vergessen lassen. – [...]"
1. Kapitel
"[...] Denkt man sich eine persönliche Schutzgöttin des Landes, so kann die durchmessene Wasserbahn allegorischer Weise als ihr kristallener Gürtel gelten, dessen Schlußhaken die beiden alten Städtchen sind und dessen Mittelzier Zürich ist, als größere edle Rosette.
[...]
Unser See bildet scheinbar ein weites ovales Becken, welches aus den bläulichen Farbenabstufungen des umgebenden Gebirges nur ahnen läßt, daß in der Ferne da und dort das Wasser in Buchten ausläuft und in den verschiedenen Seitentälern neue Seen bildet. Aus dem Hintergrunde der klaren Gewässer steigt die mächtige Gletscherwelt empor, senkt sich dann, im Kranze um den See herum, zum flacheren Gebirge herab, bis sich dieses in zwei schönen Bergen schließt, welche den mäßigen Strom zwischen sich durchtreten lassen, in das ebene Land hinaus. Am jenseitigen Berge, der seinen sonnigen runden Abhang, dem Süden zugewendet, aus dem See erhebt, liegt die Stadt hingegossen, fast von seinem Scheitel bis in das Wasser herunter, daß ihr steinerner Fuß sich noch in die spülende Flut hineintaucht. Vom diesseitigen Berge aber, welcher aus schroffen waldbewachsenen Felsen besteht, kann man in die Stadt hinein und hinüber schauen, wie in einen offenen Raritätenschrein, so daß die kleinen fernen Menschen, die in den steilen alten Gassen herumklimmen, sich kaum vor unserm Auge verbergen können, indem sie sich in ein Quergäßchen flüchten oder in einem Hause verschwinden. Es ist eine seltsame Stadt, mit einem altersgrauen Haupte und neuen glänzenden Füßen. Denn der Verkehr und das tätige Leben haben unten am Ufer, wo die befrachteten Schiffe ab- und zugehen, nichts Altes und Unbequemes gelassen und die Steinmasse fortwährend erneuert, während das Alter sich am Berge hinauf flüchtete, mitten an demselben, auf einem platten Vorsprunge in der kühlen byzantinischen Stadtkirche ausruhte und oben zuletzt auf der halbzerfallenen Burg stehen blieb. Seinen innigen Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Leben beweist es jedoch in den riesenhaften Burglinden, welche ewig grün ihre Äste zu einem mächtigen Kranze verschlingen hoch über der Stadt, unmittelbar unter dem Himmel. [...]
Die Gebäude aber enthalten ein Irrenhaus, ein Armenhaus oder Hospital und dergleichen mehr. Seltsam und düster haben sich Tod und Elend zwischen dem alten winklichten Gemäuer eingenistet, aus dessen Dunkelheiten die herrliche schimmervolle Landschaft das Auge umso mehr blendet. Und über die Gräber hin führt der Weg dann vollends, sich durch epheubewachsene Nagelflühe empor windend, auf den Berg, wo er sich in einem weitgedehnten prächtigen Buchenwalde verliert. 
Unter einer offenen Halle dieses Waldes ging am frühsten Ostermorgen ein junger Mensch; er trug ein grünes Röcklein mit übergeschlagenem schneeweißen Hemde, braunes dichtwallendes Haar und darauf eine schwarze Samtmütze, in deren Falten ein feines weiß und blaues Federchen von einem Nußhäher steckte. Diese Dinge, nebst Ort und Tageszeit, kündigten den zwanzigjährigen Gefühlsmenschen an. Es war Heinrich Lee, der heute von der bisher nie verlassenen Heimat scheiden und in die Fremde nach Deutschland ziehen wollte; hier herausgekommen, um den letzten Blick über sein schönes Heimatland zu werfen, beging er zugleich den Akt eines Naturkultus, wie es häufig bei hoffnungsreichen und enthusiastischen Jünglingen geschieht. So wenig, außer dem tiefen ruhigen Strömen des Flusses, ein Ton in dieser Frühe hörbar wurde, ebenso wenig war an der weiten tiefen himmlischen Kristallglocke der leiseste Hauch eines Wölkleins zu sehen. Der weite See verschmolz mit den Füßen des Hochgebirges in eine blaugraue Dämmerung; die Schneekuppen und Hörner standen milchblaß in der Frühe. Als Heinrich an den Rand des Waldes trat, überflog der erste Rosenschimmer der nahenden Sonne die geisterhaften Gebilde; über dem letzten einsamen Eisaltar glimmte noch der Morgenstern.
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Heinrich Lee sah in seine Vaterstadt hinüber. Die alte Kirche badete im Morgenschein, hie und da blitzte auch ein geöffnetes Fenster, ein Kind schaute heraus und sang, und man konnte aus der Tiefe der Stube die Mutter sprechen hören, die es zum Waschen rief. Die vielen Gäßchen, durch mannigfaltiges steinernes Treppenwerk unterbrochen und verbunden, lagen noch alle im Schatten und nur wenige freiere Kinderspielplätze leuchteten bestreift aus dem Dunkel. Auf allen diesen Stufen und Geländern hatte Heinrich gesessen und gesprungen, und die Kinderzeit dünkte ihm noch vor der Türe des gestrigen Abends zu liegen. Schnell ließ er seine Augen treppauf und ab in allen Winkeln der Stadt herum springen, die traulichen Kinderplätze waren alle still und leer wie Kirchenstühle am Werktag. [...]
Dieser reiche Brunnen stand auf dem hohen Platze vor dem noch reicheren Kirchenportale und sein Wasser entsprang auf dem Berge diesseits des Flusses, auf welchem Heinrich jetzt stand. Es war früher sein liebstes Knabenspiel gewesen, hier oben ein Blatt oder eine Blume in die verborgene Quelle zu stecken, dann neben den hölzernen Röhren hinab, über die lange Brücke die Stadt hinauf zu dem Brunnen zu laufen und sich zu freuen, wenn zu gleicher Zeit oben das Zeichen aus der Röhre in das Becken sprang; manchmal kam es auch nicht wieder zum Vorschein. Er pflückte eine eben aufgehende Primel und eilte nach der Brunnenstube, deren Deckel er zu heben wußte; dann eilte er die unzähligen Stufen zwischen wucherndem Epheugewebe hinunter, über den Kirchhof, wieder hinunter, durch das Tor über die Brücke, unter welcher die Wasserleitung auch mit hinüberging. Doch auf der Mitte der Brücke, von wo man unter den dunklen Bogen des Gebälkes die schönste Aussicht über den glänzenden See hin genießt, selbst über dem Wasser schwebend, vergaß er seinen Beruf und ließ das arme Schlüsselblümchen allein den Berg wieder hinaufgehen. Als er sich endlich erinnerte und zum Brunnen hinanstieg, drehte es sich schon emsig in dem Wirbel unter dem Wasserstrahle herum und konnte nicht hinaus kommen. Er steckte es zu dem Federchen auf seiner Mütze und schlenderte endlich seiner Wohnung zu durch alle die Gassen, in welche überall die Alpen blau und silbern hineinleuchteten. Jedes Bild, klein oder groß, war mit diesem bedeutenden Grunde versehen; vor der niedrigen Wohnung armer Leute stand Heinrich still und guckte durch die Fensterlein, die, einander entsprechend, an zwei Wänden angebracht waren, quer durch das braune Gerümpel in die blendende Ferne, welche durch das jenseitige Fenster der Stube glänzte. Er sah bei dieser Gelegenheit den grauen Kopf einer Matrone nebst einer kupfernen Kaffeekanne sich dunkel auf die Silberfläche einer zehn Meilen fernen Gletscherfirne zeichnen und erinnerte sich, daß er dieses Bild unverändert gesehen, seit er sich denken mochte. So spielte dieser Jüngling wie ein Kind mit der Natur und schien seine bevorstehende, für seine kleinen Verhältnisse bedeutungsvolle Abreise ganz zu vergessen. Allein plötzlich fiel es ihm schwer aufs Herz, als er nun vor seinem düstern Vaterhause stand und die Mutter ihm ungeduldig aus dem Fenster winkte. Schnell eilte er die engen Treppen hinauf, den Wohngemächern der Haushaltungen vorbei, die alle im Hause wohnten. »Wo bleibst du denn so lang?« empfing ihn die Frau Lee, eine geringe Frau von etwa fünfundvierzig Jahren, an welcher weiter nichts auffiel als daß sie noch kohlschwarze schwere Haare hatte, was ihr ein ziemlich junges Ansehen gab; auch war sie um einen Kopf kleiner als ihr Sohn. [....] (Keller: Der grüne Heinrich 1. Fassung 1. Band 1. Kapitel)