08 Dezember 2019

Schalkhaftes Lob der abstrakten Kunst

Erikson trifft Heinrich vor einem Bild aus labyrinthischen Strichen und Schraffuren an, das dieser hergestellt hatte, weil er arbeiten wollte, ohne doch recht zu wissen, welche Form er dem Ganzen geben wollte.
"»Du hast, grüner Heinrich, mit diesem bedeutenden Werke eine neue Phase angetreten und begonnen, ein Problem zu lösen, welches von größtem Einfluß auf die deutsche Kunstentwicklung sein kann. Es war in der Tat längst nicht mehr auszuhalten, immer von der freien und für sich bestehenden Welt des Schönen, welche durch keine Realität, durch keine Tendenz getrübt werden dürfe, sprechen und räsonieren zu hören, während man mit der gröbsten Inkonsequenz doch immer Menschen, Tiere, Himmel, Sterne, Wald, Feld und Flur und lauter solche trivial wirkliche Dinge zum Ausdrucke gebrauchte. Du hast hier einen gewaltigen Schritt vorwärts getan von noch nicht zu bestimmender Tragweite. Denn was ist das Schöne? Eine reine Idee, dargestellt mit Zweckmäßigkeit, Klarheit, gelungener Absicht. Die Million Striche und Strichelchen, zart und geistreich oder fest und markig, wie sie sind, in einer Landschaft auf materielle Weise placiert, würden allerdings ein sogenanntes Bild im alten Sinne ausmachen und so der hergebrachten gröblichsten Tendenz frönen! Wohlan! Du hast dich kurz entschlossen und alles Gegenständliche, schnöd Inhaltliche hinausgeworfen! Diese fleißigen Schraffierungen sind Schraffierungen an sich, in der vollkommenen Freiheit des Schönen schwebend; dies ist der Fleiß, die Zweckmäßigkeit, die Klarheit an sich, in der reizendsten Abstraktion! Und diese Verknotungen, aus denen du dich auf so treffliche Weise gezogen hast, sind sie nicht der triumphierende Beweis, wie Logik und Kunstgerechtigkeit erst im Wesenlosen ihre schönsten Siege feiern, im Nichts sich Leidenschaften und Verfinsterungen gebären und sie glänzend überwinden? Aus nichts hat Gott die Welt geschaffen! Sie ist ein krankhafter Abszeß dieses Nichtses, ein Abfall Gottes von sich selbst. Das Schöne, das Poetische, das Göttliche besteht eben darin, daß wir uns aus diesem materiellen Geschwür wieder ins Nichts resorbieren, nur dies kann eine Kunst sein, aber auch eine rechte!«"
(Keller: Der grüne Heinrich (2. Fassung) 3.Band, 15. Kapitel)

Danach spricht Erikson mit Heinrich hinter dem Bilde stehend ernsthafter über das Bild.

"»Lys kommt nicht mehr zurück; ich habe seine Bilder zusammenrollen, in Kisten packen und ihm in die Heimat schicken müssen, ebenso seine Bücher und Möbeln. Er hat mir geschrieben, er wolle als Kandidat für die Deputiertenkammer seines Landes auftreten und werde nie mehr malen, weil man die Augen dazu brauche, was ich nicht verstehe. So fällt er aus einer Torheit in die andere, und ich möchte weinen über ihn. 
Und nun komme ich daher und finde dich an einem abenteuerlichen Grillenfang stehen, wie die Welt vielleicht noch keinen zweiten geboren hat! Was soll das Gekritzel? Frisch, halte dich oben, mache dich heraus aus dem verfluchten Garne! Da ist wenigstens ein Loch!« Mit diesen Worten stieß er die Faust durch das Papier und riß es kreuz [602] und quer auseinander Ich reichte ihm dankbar die Hand; denn seine Worte und energische Bewegung bewiesen mir seine verstehende Teilnahme." (Keller: Der grüne Heinrich (2. Fassung) 3.Band, 15. Kapitel)

Sieh auch zu Kunst bei Heyse, Hauptmann, Stifter, Wiechert und Thomas Mann: https://fontanefan3.blogspot.com/search/label/Kunst

insbesondere:
"Scheinbare Zufälle sind es meist, durch die folgenschwere Wirkungen ausgelöst werden. Hätte mein Vater nicht wider seine Gepflogenheit eine Gesellschaft gegeben und, um sie anzuregen, den Inhalt seines Bücherschranks ausgelegt, so würde ich weder die Konzeption des großen Homerischen Gedichts haben fassen können, noch hätten sich jene berühmten plastischen Kunstwerke in meiner Vorstellungswelt festgesetzt. An ihnen lernte ich die Wahrheit des Satzes kennen, den Demokritos gesprochen hat, wonach die großen Freuden aus der Betrachtung schöner Werke abzuleiten sind. Hatte die von mir entdeckten eine übermenschliche Kraft geschaffen, so erfüllte sie selber in meinen Augen außer- und übermenschliche Wesenheit. Sie wurden mir in sich und an sich Kultbilder, wie es mir die Kreuzabnahme geworden war und die Raffaelische Madonna im Großen Saal."
(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, 1937)

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