01 Dezember 2019

Keller: Der grüne Heinrich - der Statthalter

Anna ist umworben, aber bevorzugt Heinrich
"[...] ich mußte zu meiner großen Bekümmernis sehen, wie der Platz, wo sie saß, von allerhand hoffnungsvollen Gesellen belagert wurde, ja wie fast alle vier Fakultäten sich bestrebten, dem gravitätischen Schulmeister zu Gefallen zu leben, da ein junger Landarzt, ein Gerichtsschreiber, ein Pfarrvikar und ein studierter Landwirt sich herbeigemacht hatten und schließlich alle der Anna ihre Visitenkarten schenkten, die sie beim Abgang von der Schule hatten stechen lassen. Alle waren stattliche blühende Bursche mit einer behaglichen Zukunft, während ich einen Beruf gewählt hatte, der nach allgemeinen Begriffen mit ewiger Armut verbunden sein sollte. Ich entdeckte daher zum erstenmal mit Schrecken, welch einer geschlossenen Macht ich gegenüberstand, und ich geriet, hinter Annas Sitz stehend, in eine trübe Verfinsterung und wollte mich wegwenden. Auf einmal kehrte sich Anna um und bat mich, ihr die Karten aufzubewahren; sie bemerkte lächelnd, ich möchte ja recht Sorge dazu tragen, und als ich sie einsteckte, war mir, als ob ich alle vier Helden in der Tasche trüge. [...]

Die Nöte des Statthalters
Der Statthalter eifert nur darum so sehr gegen das, was er Entsagung nennt, weil er selbst eine Art Entsagender ist, das heißt, weil er selbst diejenige Wirksamkeit geopfert hat, die ihn erst glücklich machen würde und seinen Eigenschaften entspräche. Obgleich diese Selbstverleugnung in meinen Augen eine Tugend ist und er in seiner jetzigen Wirksamkeit so verdienstlich und nützlich dasteht, als er kaum anderswie könnte, so ist er doch nicht dieser Meinung, und er hat manchmal so düstere und prüfungsreiche Stunden, wie man es seiner heiteren und freundlichen Weise nicht zumuten würde. Von Natur nämlich ist er ebenso feuriger Gemütsart, als von einem großen und klaren Verstande begabt, und daher mehr dazu geschaffen, im Kampfe der Grundsätze beim Aufeinanderplatzen der Geister einen tapferen Führer abzugeben und im Großen Menschen zu bestimmen, als in ein und demselben Amte ein stehender Verwalter zu sein. Allein er hat nicht den Mut, auf einen Tag brotlos zu werden; er hat gar keine Ahnung davon, wie sich die Vögel und Lilien des Feldes ohne ein fixes Einkommen nähren und kleiden, und daher hat er sich der Geltendmachung seiner eigenen Meinungen begeben. Schon mehr als einmal, wenn durch den Parteikampf Regierungswechsel herbeigeführt wurden und der siegende Teil den unterlegenen durch ungerechte Maßregeln zwacken wollte, hat er sich wie ein Ehrenmann in seinem Amte dagegen gestemmt; aber das, was er seinem Temperament nach am liebsten getan hätte, nämlich der Regierung sein Amt vor die Füße zu werfen, sich an die Spitze einer Bewegung zu stellen und mittels seiner Einsicht und seiner Energie die Gewalthaber wieder dahin zu jagen, von wannen sie gekommen: das hat er unterlassen, und dies Unterlassen kostet ihn zehnmal mehr Mühe, als seine ununterbrochene arbeitsvolle Amtsführung. Den Landleuten gegenüber braucht er nur zu leben, wie er es tut, um in seiner Würde fest zu stehen. Bei den Behörden aber und in der Hauptstadt braucht es manches verbindliche Lächeln, manche, wenn auch noch so unschuldige Schnörkelei, wo er lieber sagen würde: Herr! Sie sind ein großer Narr! oder: Herr! Sie scheinen ein Spitzbube zu sein! Denn wie gesagt, er hat ein dunkles Grauen vor dem, was man Brotlosigkeit nennt.« [...]"
(Keller: Der grüne Heinrich, 2. Band, 15. Kapitel)
Keller greift hier auf seine eigenen Erfahrungen als Staatsschreiber des Kantons Zürich (ab 1861) zurück.

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