01 Dezember 2019

Keller: Der grüne Heinrich - Annäherung von Heinrich und Anna

"Anna erblickte ein weißes Blümchen, ich weiß nicht, was für eines, brach es und trat auf mich zu, es auf meinen Hut zu stecken; ich sah und hörte jetzt nichts mehr, als wir uns zum dritten Male küßten. Zugleich umschlang ich sie mit den Armen, drückte sie mit Heftigkeit an mich und fing an, sie mit Küssen zu bedecken. Erst hielt sie zitternd einen Augenblick still, dann legte sie ihre Arme um meinen Hals und küßte mich wieder; aber bei dem fünften oder sechsten Kusse wurde sie totenbleich und suchte sich loszumachen, indessen ich ebenfalls eine sonderbare Wandlung fühlte. Die Küsse erloschen wie von selbst, es war mir, als ob ich einen urfremden, wesenlosen Gegenstand im Arme hielte, wir sahen uns fremd und erschreckt ins Gesicht, unentschlossen hielt ich meine Arme immer noch um sie geschlungen und wagte sie weder loszulassen, noch fester an mich zu ziehen. Mich dünkte, ich müßte sie in eine grundlose Tiefe fallen lassen, wenn ich sie losließe, und töten, wenn ich sie ferner gefangen hielt; eine große Angst und Traurigkeit senkte sich auf unsere kindischen Herzen. Endlich wurden mir die Arme locker und fielen auseinander, beschämt und niedergeschlagen standen wir da und blickten auf den Boden. Dann setzte sich Anna auf einen Stein, dicht an dem klaren tiefen Wasser, und fing bitterlich an zu weinen. Erst als ich dies sah, konnte ich mich wieder mit ihr beschäftigen, so sehr war ich in meine eigene Verwirrung und in die eisige Kälte versunken, die uns überfallen hatte. Ich näherte mich dem schönen, trauernden Mädchen und suchte eine Hand zu fassen, indem ich zaghaft ihren Namen nannte. Aber sie hüllte ihr Gesicht fest in die Falten des langen grünen Kleides, fortwährend reichliche Tränen vergießend. Endlich erholte sie sich ein wenig und sagte bloß: »Oh! wir waren so froh bis jetzt!« Ich glaubte sie zu verstehen, weil ich ziemlich das gleiche fühlte, nur nicht so tief wie sie; daher erwiderte ich nichts, sondern setzte mich still etwas von ihr entfernt halb gegenüber, und so blickten wir mit düsterm Schweigen in das feuchte Element. Von dessen Grunde sah ich ihr Spiegelbild mit dem Krönchen heraufleuchten wie aus einer andern Welt, wie eine fremde Wasserfei, die nach einem Vertrauensbruch in die Tiefe zu fliehen droht. Indern ich sie so gewaltsam an mich gedrückt und geküßt und sie in der Verwirrung dies erwidert, hatten wir den Becher unserer unschuldigen Lust zu sehr geneigt; sein Trank überschüttete uns mit plötzlicher Kälte, und das fast feindliche Fühlen des Körpers riß uns vollends aus dem Himmel. Diese Folgen einer so unschuldigen und herzlichen Aufwallung zwischen zwei jungen Leutchen, welche einst als Kinder schon genau dasselbe getan ohne alle Bekümmernis, würden vielen närrisch vorkommen; uns aber dünkte die Sache nicht spaßhaft, und wir saßen mit wirklichem Grame an dem Wasser, das um keinen Grad reiner war als Annas Seele. Den wahren Grund der schreckhaften Begebenheit ahnte ich gar nicht; denn ich wußte nicht, daß in jenem Alter das rote Blut weiser sei als der Geist und sich von selbst zurückdämme, wenn es in ungehörige Wellen geschlagen worden. Anna hingegen mochte sich hauptsächlich vorwerfen, daß sie nun doch für ihr Nachgeben, dem Feste beizuwohnen, bestraft und ihre eigene Art und Weise gröblich und roh gestört worden sei.
Ein gewaltiges Rauschen in den Baumkronen ringsumher weckte uns aus der melancholischen Versenkung, die eigentlich schon wieder an eine andere Art von schönem Glück streifte; denn meiner Erinnerung sind die letzten Augenblicke, ehe uns der starke Südwind wachrauschte, nicht weniger lieb und kostbar[347] als jener Ritt auf der Höhe und durch den Tannenwald. Auch Anna schien sich zufriedener zu fühlen; als wir uns erhoben, lächelte sie flüchtig gegen mein eigenes verschwindendes Bild im Wasser; doch schienen ihre anmutig entschiedenen Bewegungen zugleich zu sagen Wage es ferner nicht, mich zu berühren!  [...]"

(Keller: Der grüne Heinrich, 2. Buch, 16. Kapitel)

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