[...] Ich spreche das Neue Testament:
"Gesucht wird
Jesus Christus. Angeklagt wegen Diebstahl, Verführung
Minderjähriger, Gotteslästerung, Schändung von Kirchen,
Beleidigung von Obrigkeiten, Missachtung der Gesetze, Widerstand
gegen die Staatsgewalt, Umgang mit Huren und Kriminellen ..."
In diesem Augenblick pöbelt jemand aus dem
Zuschauerraum. Ich kann den Kerl nicht sehen. Ich bin von
unerträglich starken Scheinwerfern geblendet, die alle auf mich
gerichtet sind. Der nichtendenwollende Zuschauerraum der
Deutschlandhalle in Berlin ist eine pechschwarze, undurchsichtige
Wand.
"Komm her, wenn du was zu sagen hast", rufe ich in
die Dunkelheit. "Sonst bleib auf deinem Hintern sitzen und halt
den Mund!"
Was will er? Will er sich wichtig tun? Hier ist
nichts wichtig als das was ich vor zu tragen habe. Ich bin gekommen
die abenteuerlichste Geschichte der Menschheit zu erzählen: das
Leben von Jesus Christus. Diesen Zigeuner und Abenteurer, der sein
Leben lieber massakrieren lässt, als lebendig mit den anderen
Menschen zu verfaulen. Dieser furchtlose, modernste aller Menschen,
der so ist, wie wir alle sein wollen. Du und ich. [...]
Ich
reiße diesem Dummkopf das Mikrofon aus der Hand und gebe ihm einen
Stoß. Denn er will mir weder das Mikro zurückgeben, noch will er
von der Bildfläche verschwinden.
Den Rest besorgen meine Jungs,
die dafür da sind, jeden der stört, rauszufeuern. Als er sich auch
mit Ihnen anlegt, werfen Sie ihn einfach die Treppe runter. (S. 9)
Kinderhölle
Ich werde in ein Heim verschickt, weil ich noch nicht zur Schule gehe und damit die anderen mehr zu essen und mehr Platz zum Schlafen
haben. Vor allem aber, weil meine Mutter so naiv ist und glaubt, dass
ich in dem sozialen Kinderheim endlich genug zu essen kriege. Dieses
so genannte Heim, das sich 50 Kilometer außerhalb Berlins befindet und das
in Wirklichkeit so etwas wie ein Zuchthaus für kleine Kinder ist,
nenne ich die Kinderhölle.
Die Folterknechte, die uns betreuen,
sind unbefriedigte sadistische Weiber. Sie schlagen uns mit
Rohrstöcken auf die Hände und über den Kopf, wenn wir den Fraß
nicht herunterwürgen können. Ich werde nie begreifen, was diese
Menschenkinder dazu treibt, uns zu zwingen, Fettstücke zu schlucken,
deren penetranter Geruch oder bloßer Anblick mich schon zum
Erbrechen bringt. (S. 44)
"Die
Paris-Bar in der Nähe der Gedächtniskirche will schließen. Ich
tanze mit einer polnischen Zigeunerin. Der Himmel hat sie mir
geschickt. Sie kam vor 10 Minuten ins Lokal. Sie ist
Schönheitstänzerin in einem Nachtklub am Savignyplatz und wohnt in
einer Pension gleich um die Ecke. gleich
um die Ecke. Ich fasse Sascha in die Tasche und nehme mir so viel,
wie ich für die Polin brauche.
Ich habe noch mit keiner
Zigeunerin geschlafen. [...] Sie
spricht ganz wenig und nur, wenn es unbedingt nötig ist. Außerdem
verstehe ich ihr Kauderwelsch kaum." (S. 94/95)
Man könnte meinen, ich
liege nur in Betten rum
Das stimmt nicht ganz. Ich
schließe mich oft wochenlang in ein Zimmer ein und gehe nicht einen
Schritt auf die Straße in dieser Zeit lerne ich Texte und mache
Sprachübungen. zehn, zwölf, vierzehn Stunden täglich. Oder die ganze Nacht. Wenn
die Nachbarn sich beschweren, und als sie tun sie immer, muss ich aus
dem jeweiligen Zimmer raus. Ich wechsel die Zimmer öfter als
die Mädchen. In einem Monat muss ich zweiunddreißig Mal umziehen. Aus einem
Zimmer muss ich noch am selben Tag wieder raus. [...] wenn ich bei
den Sprachübungen müde werde oder ein mir selbst gestelltes Pensum
nicht erreiche, schlage ich mir ins Gesicht, um mich zu bestrafen.
Ich muss es schaffen. Ich muss! Ich werde es beweisen.
Alfred
Brown, der ehemalige Star-Reporter des Berliner Rundfunks, inszeniert
mit mir Romeo und Julia. Ich bekomme für das Hörspiel dreitausend Mark. Von
dem Geld miete ich mir mein eigenes Atelier. Eigentlich ist es eine
Waschküche in einem Haus in Friedenau. Aber der Raum hat ein großes
Atelierfenster, durch das viel Licht reinflutet. Ich streiche die
Bude weiß und schrubbe den Fußboden. Ich habe ein Bett, einen
Tisch, einen Stuhl und ein eigenes Klo, auf dem ich mich unter dem
Wasserhahn wasche. Mehr brauche ich nicht. Mein bisschen Wäsche
wasche ich selbst.
Ich laufe Kilometer weit zu Fuß, um immer
Sonnenblumen bei mir zu haben. Wenn sie vertrocknet sind, lege ich
sie aufs Fensterbrett, wo sie weiterglühen. (S.95/96)
Ich mache den größten Schauspieler des 20. Jahrhunderts Platz aus
ihm
Jürgen Fehling, der genialste lebende Theaterregisseur,
ruft mich zu sich. Ich spreche 7 Stunden lang vor.
Es ist 6 Uhr
abends. Das Bühnenpersonal kommt bereits ins Hebbel-Theater, um die
Abendvorstellung vorzubereiten. Fehling gibt mir eine junge
Platzanweiserin auf die Bühne, damit ich mit ihr die Sterbeszene aus
Romeo und Julia spiele.
Du hältst den Schnabel, sagt ihr zu dem
verdatterten Mädchen. Etwa egal, was Kinski mit dir macht, du
bleibst leblos wie ein Stück Holz, gibts keinen Pieps von dir. Ich
will nur seine Stimme hören.
Es ist 7 Uhr. Wir müssen abbrechen.
Nach dem Aufschrei des Franz Moore aus den Räubern ruft
Fehling:
"Halt! Schone deine Stimme!" Nach 7
Stunden!
Aber dieser Mann ist unersättlich. Wir gehen in eine
Garderobe, und ich muss ihm aus dem Telefonbuch vorlesen. Ich lese
und lese und bringe ihn zum Lachen und zum Weinen.
Fehling lässt
mich nicht mehr aus den Krallen. Ich ziehe wochenlang Tag und Nacht
mit ihm herum, sehe seinen Proben zu, gehe mit ihm essen. Er spricht
und spricht, und ich hänge an seinen Lippen. Dieser Mann ist so
liebevoll zu mir, wie mein eigener Vater nicht liebevoller hätte
sein können. Gott strafe die großmäuligen Schweine, die dieses
Genie mit Steinen aus Berlin vertreiben!
Nach so einem
sensationellen Erfolg mit den Fliegen von Sartre hat Fehling
eine große Macht. Er soll Intendant des Hebbeltheaters
werden.
"Wenn ich Intendant bin, werde ich an allem sparen,
an Kulissen, an Kostümen, an dieser Pestilence von herum stinkenden
den Beamten und dem ganzen übrigen Plunder, er regt er sich als wir
in der Ecke einer Kneipe sitzen, nur nicht an der Garage für meine
Schauspieler. Sie sollen alles haben, was sie brauchen. Alles! Dann
werde ich alles von ihnen verlangen, und sie werden die Kraft haben,
mir alles zu geben." ( S.99/100)
"Das
Deutsche Theater ist eines der schönsten der Welt, wenn nicht das
allerschönste überhaupt. [...]
Ein
junger Schauspieler ist noch völlig chaotisch. Er muss sich langsam
aus dem Gefühl seiner Empfindungen herausarbeiten. Man glaubt, an
den Schlingpflanzen seiner Seele zu ersticken. Ich habe niemanden,
der mir hilft, keinen Lehrer, keinen, der mir wirklich etwas
beibringen kann. Das ist für mich beklemmender als die
Visionsszene.
Bei
der Premiere kommt alles von selbst. Ich habe das Geheimnis
enträtselt: man muss stillhalten. Man muss ganz ruhig werden und
sich der Situation der Szene nur unterordnen, die Umgebung, die
Personen auf sich wirken lassen, sich besinnen, wo man ist. Der Text
kommt dann ganz von allein. Und der Sinn des Textes bestimmt die
Erschütterungen deiner Seele. Das übrige besorgt das Leben, das man
leben muss ohne sich zu schonen.
Nie
vergesse ich auf einer Bühne ein einziges Wort von meinem Text oder
brauche einen Souffleur. Nicht nur, weil mein Gedächtnisses nie
aussetzt, sondern weil die Worte sich aus dem Geschehen formen. Dazu
gehört natürlich eine grenzenlose Fantasie, die man, wenn sie sich
zu entfalten beginnt, gegen alle äußeren Einflüsse abkapseln muss,
um sie nicht zu irritieren. Das fordert seinen Preis. Man wird so
über sensibel, dass man unter normalen Umständen gar nicht mehr
leben kann. Deshalb sind die Stunden zwischen den Vorstellungen die
schlimmsten. Oder man hat das mörderische Pech, an ein Theater oder
einen Partner zu geraten, die durch ihre Grobheit dieses feine
Gewebe, aus dem die größte Kraft des Schauspielers erwächst,
zerstören. Dann wird man entweder das Opfer oder man wehrt sich
seiner Haut. In beiden Fällen leidet man wie ein Vieh. Auch das
Publikum ist sich dessen oft nicht bewusst, begreift oft nicht, dass
es zusammen arbeiten muss mit dem Schauspieler, der bereit ist, vor
ihm zu verbluten. Dass die Zuschauer ihm durch ihre Andacht helfen
müssen, die letzte Scham, die letzte Angst abzuwerfen. Dass sie an
dem Erfolg beteiligt sind. Dass sie selbst bestimmen, ob ein
Schauspieler das Höchste geben kann, was Sie von ihm verlangen, oder
ob er sich in sich selbst zurückzieht, um nicht aus der schwindenden
Höhe in die Tiefe zu stürzen, aus der ihn niemand herauf holen
kann.
Das
sind keine Phrasen. So ist es und nicht anders! [...]" (S.106/07)
Das Geschwür
[...]
In Marseille gehe ich zuerst du auf den arabischen Markt, um meinen Anzug zu verscheuern. Von dem Geld will ich mir Marinezeug kaufen und von dem, was übrig bleibt, was Warmes essen. Die Araber reißen mir den Anzug förmlich vom Leib und bieten mir (umgerechnet) 20 Mark. Die sind ja verrückt! Der Anzug ist fast neu und hat 600 Mark gekostet. Ich gehe ins Leihhaus, um zu fragen, was ich dafür bekommen würde. Vor dem Leihhaus, das noch nicht geöffnet hat, steht eine endlose Schlange. Als ich endlich dran bin, wird schon wieder geschlossen. Aber die Ratte am Schalter sagt, dass er denselben Preis bietet wie die Araber auf dem Markt. Also gehe ich zu den Arabern zurück, schließe den Handel ab, suche mir an einer Verkaufsbude gebrauchte Arbeitshose, Pullover und Jacke aus, lass den Araber für mich bezahlen und gehe mit ihm in eine öffentliche Pinkelbude, wo ich mich umziehe und das restliche Geld für den Anzug in Empfang nehme. [...]
Ab jetzt habe ich nichts anderes mehr im Sinn als ein Schiff zu finden, so schnell wie möglich. Aber das ist nicht leicht. In den Hafen darf man nicht ohne spezielle Genehmigung, und die Schifffahrtbüros, die Matrosen anheuern, sind überfüllt von arbeitslosen Matrosen, die sich um die freien Plätze schlagen. Mich guckt überhaupt keiner an, geschweige, dass einer mit mir spricht. Ich versuche es bei englischen und amerikanischen Gesellschaften, aber die nehmen nur Engländer oder Amerikaner. Ich versuche es als Hafenarbeiter und schleppe elf Tage gemeinsam mit afrikanischen Negern Säcke.. Mit dem Geld gehe ich zu den Huren von Marseille. Obwohl diese Mädchen nicht wählerisch sein können und mit Matrosen und Arbeitern aller Rassen schlafen, die aus allen Winkeln der Erde kommen und sicher alle erdenkbaren Krankheiten einschleppen, ficke ich sie nicht nur ohne Gummi, sondern lecke sie auch. Ich weiß, das es unverantwortlich leichtsinnig ist, was ich tue. Aber ich will sie lieben, ich will, dass sie fühlen, dass ich sie liebe und dass ich Liebe brauche. Dass ich krank bin nach Liebe." (S.168/69)
Wenn man Klaus Kinskis Autobiographie folgt, dann glaubt er wirklich daran, dass "man leben muss ohne sich zu schonen", weil nur das bewirkt, dass auf der Bühne der Text die notwendigen "Erschütterungen deiner Seele" hervorrufen kann. Zumindest will er im Leser den Eindruck erwecken.
Dafür stellt er sich unter Verwendung aller üblichen Klischees der Pornoliteratur als so sexgetrieben dar, dass man nicht recht glauben kann, dass er seine Sexualpartnerinnen wirklich so hemmungslos missbraucht.
Nach der #MeToo-Debatte fällt es schwer sich klar zu machen, dass er so schreiben konnte, ohne ernsthaft zu befürchten, dass der sexuelle Missbrauch seiner Tochter Pola ihn seine Karriere kosten würde.
Sie schrieb erst als 60-Jährige darüber.