31 März 2019

Margrit Schiller: Es war ein harter Kampf um meine Erinnerung

Margrit Schiller: Es war ein harter Kampf um meine Erinnerung, 1999; Taschenbuchausgabe 2001

Wikipedia:
"Sie studierte Psychologie in Bonn und Heidelberg und wurde über ihre Teilnahme am 1970 gegründeten Sozialistischen Patientenkollektiv (SPK) zunächst Unterstützerin und anschließend aktives Mitglied der Rote Armee Fraktion. Am 22. Oktober 1971 wurde Schiller in Hamburg festgenommen, dabei wurde der Polizist Norbert Schmid erschossen, jedoch nicht mit der Waffe Schillers. Der mutmaßliche Schütze Gerhard Müller wurde später Kronzeuge der Bundesanwaltschaft.
Nach ihren eigenen Angaben befand sich Schiller im Gefängnis mehrfach in Isolationshaft. Sie beteiligte sich an mehreren Hungerstreiks. Nach ihrer Entlassung aus der Haft 1973 ging sie wieder in den Untergrund, am 4. Februar 1974 wurde sie erneut verhaftet und verbüßte bis 1979 eine Freiheitsstrafe. Die Straftatbestände, auf deren Grundlage sie verurteilt wurde, schlossen Ausweisfälschungunerlaubten Waffenbesitz sowie der Mitgliedschaft und Unterstützung der RAF ein.[1] Um einer befürchteten erneuten Verhaftung zu entgehen, ging sie 1985 nach Kuba ins Exil, wo ihr die Regierung politisches Asyl gewährte. Dort heiratete sie einen kubanischen Jazz-Musiker und brachte Zwillinge zur Welt. 1993, auf dem Höhepunkt der kubanischen Wirtschaftskrise nach dem Auslaufen der sowjetischen Hilfsleistungen (Período especial), deren Auswirkungen sie durch eine Erbschaft zunächst etwas abfedern konnte, ging sie mit ihrer Familie nach Uruguay.[1] Dort engagierte sie sich in politischen Projekten in Zusammenarbeit mit der ehemaligen bewaffneten Untergrundbewegung Tupamaros.[2] Nachdem auch Uruguay von einer Wirtschaftskrise betroffen wurde, kehrte sie 2003 mit ihren Kindern nach Deutschland zurück und lebt in Berlin. Ihre Exil-Erfahrungen verarbeitete sie in einer 2011 veröffentlichten, autobiografischen Erzählung, nachdem bereits 2000 ihre mit ihrer Haftentlassung 1979 endende Autobiografie erschienen war.[3][1]

Zitate:
"Oft machte ich die Erfahrung, dass ich in linken Gruppen wie ein exotisches Wesen betrachtet wurde. Ohne dass ich es merkte, hatte hier ein Teil der Mythologisierung der RAF bereits begonnen. Ich war halt die Vorzeige-"Revolutionärin", eine, die wirklich Erfahrungen gemacht hatte, weil ich eine der ersten politischen Gefangenen war. Aber nur noch wenige wollten hören, was jemand wie ich dachte. Viele hatten Angst, waren auf dem Rückzug, gingen auf Abstand zur Guerilla. 
Mir wurde auch jetzt jetzt auch bewusst, dass die Verhaftungen der Gründer der RAF, dass die Denunziationen der Personen und der Ideen der Guerilla und dass die Bedingungen der Isolisationsfolter im Gefängnis Spuren hinterließen. Angst machte sich breit. Es wurde allen klar: Revolutionärer Kampf konnte persönliche Konsequenzen bis zum Tod bedeuten.
Für viele Linke war das Konzept der 
Guerilla ein abgeschlossenes, ein gescheitertes Unternehmen. Mit der Verhaftung ihre Gründer gab es niemanden mehr, der den Kampf vorantrieb. Die Angst um die eigene Haut saß ihnen im Nacken. War das Konzept der Stadtguerilla ein Fehlschlag, der Staat zu stark, um besiegt werden zu können? Die RAF hatte eine Konfrontation gesucht, deren Konsequenzen sie nicht aushalten konnte. Waren deswegen die Ideen falsch? Oder stimmte die Umsetzung nicht?
Viele, und nicht nur Linke, hatten in den Anfangsjahren der 
Guerilla großen Respekt bis hin zu Bewunderung für diejenigen empfunden, die den Kampf gegen diesen Staatsapparat begonnen, den Schritt von Analyse und Reden zur Praxis unter Einsatz des eigenen Lebens gewagt hatten. Dieser Respekt und diese Bewunderung wurden auch mir entgegengebracht. Aber im Gegensatz zu den Jahren von 1970-1972 sah fast niemand mehr eine Perspektive für sich selbst im Guerillakampf.
Mir selbst ging es anders. Trotz der Gefängniszeit fühlte ich keine Angst vor Konsequenzen. Für mich hieß es, dass der bewaffneten Kampf gerade erst begonnen hatte und die Zeit seit Beginn der RAF noch viel zu kurz war, um zu wissen, ob das Konzert Stadtg
uerilla in den Metropolen des Kapitalismus wirklich eine Chance hatte. Mir war klar, dass mir noch viele politische Erfahrungen fehlten und dass der bewaffneten Kampf ein Höchstmaß an speziellen Fähigkeiten, Kenntnissen und politischem Bewusstsein erforderte, um erfolgreich zu sein. Aber wer sonst würde in der BRD einen revolutionären Kampf führen?" (S.117/18)

"Während der der ganzen Jahre im Gefängnis hatte meine Mutter nie aufgehört, mir zu schreiben, und irgendwann überzeugte mich das. Es wurde mir klar, dass sie mich auf ihre Art liebte und nie aufhörte, mich zu suchen. Mein Vater hat im Gegensatz dazu nie eine Anstrengung gemacht. Er war unfähig, einen Schritt auf mich zuzugehen, obwohl er mich auch auf seine Weise liebte. In Preungesheim stand ich nicht mehr unter ständigen Druck wie vorher in der Isolationshaft, und so konnte ich mich dazu entschließen, Besuche meine Familie zu akzeptieren. [...]
Wir hatten alle gelernt. Meine Eltern wussten nach all den abgebrochenen Kontaktversuchen, dass sie sich nicht in meine Entscheidungen einmischen konnten, und sie versuchten es auch nicht nie mehr. Meine Mutter rief inzwischen bei Zeitungen an, wenn dort das Wort Isolationsfolter in Anführungszeichen gedruckt wurde, um sich zu beschweren: es sei tatsächlich Folter durch Isolation. Als sie von mir erfuhr, dass ich eine Frau liebte, schrieb sie mir, dass sie mich gut verstehe, weil es ihr selbst auch einmal so gegangen sei. Sie habe sich dann aber für meinen Vater und eine Familie entschieden. Diese Offenheit rechnete ich ihr hoch an, weil ich wusste, wie sehr das in ihrem Umfeld verachtet wurde. Sie blieb die einzige aus meiner Familie, mit der ich wieder ein engeres Verhältnis herstellen konnte. Ein Jahr nach meiner Haftentlassung starb sie." (S.201/202)
(Margrit Schiller: Es war ein harter Kampf um meine Erinnerung, 1999; Taschenbuchausgabe 2001)



"Die Vorstellung von der Welt entwickelt sich von dem Moment an, wo du einfährst, nicht mehr weiter. Auf einer bestimmten Ebene bleibt man stehen wird man eingebunkert, auch wenn man vielleicht intellektuell eine Menge Informationen bekommt. Das spüre ich hier bei den ehemaligen politischen Gefangenen in Uruguay: Frauen, die unter der Militärdiktatur zehn Jahre im Knast saßen, haben bis heute manchmal sehr harte Selbstverteidigungsmechanismen drauf. Die Männer haben oft Alkoholprobleme. Viele suchen sich junge Frauen und setzen da an, wo es mal für sie aufgehört hat. Die Frauen kriegen noch sehr spät Kinder, genauso wie ich.
Was ist mit Ihren Selbstverteidigungsmechanismen?
Kuba hat mir sehr geholfen, mich selbst in Frage stellen zu lassen. Auch mal zuzugeben, dass jemand Recht hat, der mich kritisiert. Dort habe ich eine neue Form von Bescheidenheit gelernt, für die in der ständigen Konfrontation in Deutschland gar keine Luft war. Da gab es nur Angriff und Verteidigung. Wenn du ständig als Staatsfeind in die Ecke gestellt wirst und in die Fresse kriegst, dann springst du natürlich jedem sofort ins Gesicht."
(Interview mit Margrit Schiller, aus: tazmag 29./30. APRIL 2000)

Margrit Schiller - eine Biografie mit Brüchen. Untergrund. Gefängnis. Exil (Interview SWR 16.11.2015 mp3-Datei)

Klaus Kinski: Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund


KlausKinski:  Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund

[...] Ich spreche das Neue Testament:
"Gesucht wird Jesus Christus. Angeklagt wegen Diebstahl, Verführung Minderjähriger, Gotteslästerung, Schändung von Kirchen, Beleidigung von Obrigkeiten, Missachtung der Gesetze, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Umgang mit Huren und Kriminellen ..."
In diesem Augenblick pöbelt jemand aus dem Zuschauerraum. Ich kann den Kerl nicht sehen. Ich bin von unerträglich starken Scheinwerfern geblendet, die alle auf mich gerichtet sind. Der nichtendenwollende Zuschauerraum der Deutschlandhalle in Berlin ist eine pechschwarze, undurchsichtige Wand.
"Komm her, wenn du was zu sagen hast", rufe ich in die Dunkelheit. "Sonst bleib auf deinem Hintern sitzen und halt den Mund!"
Was will er? Will er sich wichtig tun? Hier ist nichts wichtig als das was ich vor zu tragen habe. Ich bin gekommen die abenteuerlichste Geschichte der Menschheit zu erzählen: das Leben von Jesus Christus. Diesen Zigeuner und Abenteurer, der sein Leben lieber massakrieren lässt, als lebendig mit den anderen Menschen zu verfaulen. Dieser furchtlose, modernste aller Menschen, der so ist, wie wir alle sein wollen. Du und ich. [...]
Ich reiße diesem Dummkopf das Mikrofon aus der Hand und gebe ihm einen Stoß. Denn er will mir weder das Mikro zurückgeben, noch will er von der Bildfläche verschwinden.
Den Rest besorgen meine Jungs, die dafür da sind, jeden der stört, rauszufeuern. Als er sich auch mit Ihnen anlegt, werfen Sie ihn einfach die Treppe runter. (
S. 9)

Kinderhölle
Ich werde in ein Heim verschickt, weil ich noch nicht zur Schule gehe und damit die anderen mehr zu essen und mehr Platz zum Schlafen haben. Vor allem aber, weil meine Mutter so naiv ist und glaubt, dass ich in dem sozialen Kinderheim endlich genug zu essen kriege. Dieses so genannte Heim, das sich 50 Kilometer außerhalb Berlins befindet und das in Wirklichkeit so etwas wie ein Zuchthaus für kleine Kinder ist, nenne ich die Kinderhölle.
Die Folterknechte, die uns betreuen, sind unbefriedigte sadistische Weiber. Sie schlagen uns mit Rohrstöcken auf die Hände und über den Kopf, wenn wir den Fraß nicht herunterwürgen können. Ich werde nie begreifen, was diese Menschenkinder dazu treibt, uns zu zwingen, Fettstücke zu schlucken, deren penetranter Geruch oder bloßer Anblick mich schon zum Erbrechen bringt. (
S. 44)
"Die Paris-Bar in der Nähe der Gedächtniskirche will schließen. Ich tanze mit einer polnischen Zigeunerin. Der Himmel hat sie mir geschickt. Sie kam vor 10 Minuten ins Lokal. Sie ist Schönheitstänzerin in einem Nachtklub am Savignyplatz und wohnt in einer Pension gleich um die Ecke. gleich um die Ecke. Ich fasse Sascha in die Tasche und nehme mir so viel, wie ich für die Polin brauche.
Ich habe noch mit keiner Zigeunerin geschlafen. [...] Sie spricht ganz wenig und nur, wenn es unbedingt nötig ist. Außerdem verstehe ich ihr Kauderwelsch kaum." (S. 94/95)

Man könnte meinen, ich liege nur in Betten rum
Das stimmt nicht ganz. Ich schließe mich oft wochenlang in ein Zimmer ein und gehe nicht einen Schritt auf die Straße in dieser Zeit lerne ich Texte und mache Sprachübungen. zehn, zwölf, vierzehn Stunden täglich. Oder die ganze Nacht. Wenn die Nachbarn sich beschweren, und als sie tun sie immer, muss ich aus dem jeweiligen Zimmer raus. Ich wechsel die Zimmer öfter als die Mädchen. In einem Monat muss ich zweiunddreißig Mal umziehen. Aus einem Zimmer muss ich noch am selben Tag wieder raus. [...] wenn ich bei den Sprachübungen müde werde oder ein mir selbst gestelltes Pensum nicht erreiche, schlage ich mir ins Gesicht, um mich zu bestrafen. Ich muss es schaffen. Ich muss! Ich werde es beweisen.
Alfred Brown, der ehemalige Star-Reporter des Berliner Rundfunks, inszeniert mit mir Romeo und Julia. Ich bekomme für das Hörspiel dreitausend Mark. Von dem Geld miete ich mir mein eigenes Atelier. Eigentlich ist es eine Waschküche in einem Haus in Friedenau. Aber der Raum hat ein großes Atelierfenster, durch das viel Licht reinflutet. Ich streiche die Bude weiß und schrubbe den Fußboden. Ich habe ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl und ein eigenes Klo, auf dem ich mich unter dem Wasserhahn wasche. Mehr brauche ich nicht. Mein bisschen Wäsche wasche ich selbst.
Ich laufe Kilometer weit zu Fuß, um immer Sonnenblumen bei mir zu haben. Wenn sie vertrocknet sind, lege ich sie aufs Fensterbrett, wo sie weiterglühen. (S.95/96) 

Ich mache den größten Schauspieler des 20. Jahrhunderts Platz aus ihm

Jürgen Fehling, der genialste lebende Theaterregisseur, ruft mich zu sich. Ich spreche 7 Stunden lang vor.
Es ist 6 Uhr abends. Das Bühnenpersonal kommt bereits ins Hebbel-Theater, um die Abendvorstellung vorzubereiten. Fehling gibt mir eine junge Platzanweiserin auf die Bühne, damit ich mit ihr die Sterbeszene aus Romeo und Julia spiele.
Du hältst den Schnabel, sagt ihr zu dem verdatterten Mädchen. Etwa egal, was Kinski mit dir macht, du bleibst leblos wie ein Stück Holz, gibts keinen Pieps von dir. Ich will nur seine Stimme hören.
Es ist 7 Uhr. Wir müssen abbrechen. Nach dem Aufschrei des Franz Moore aus den Räubern ruft Fehling:
"Halt! Schone deine Stimme!" Nach 7 Stunden!
Aber dieser Mann ist unersättlich. Wir gehen in eine Garderobe, und ich muss ihm aus dem Telefonbuch vorlesen. Ich lese und lese und bringe ihn zum Lachen und zum Weinen.
Fehling lässt mich nicht mehr aus den Krallen. Ich ziehe wochenlang Tag und Nacht mit ihm herum, sehe seinen Proben zu, gehe mit ihm essen. Er spricht und spricht, und ich hänge an seinen Lippen. Dieser Mann ist so liebevoll zu mir, wie mein eigener Vater nicht liebevoller hätte sein können. Gott strafe die großmäuligen Schweine, die dieses Genie mit Steinen aus Berlin vertreiben!
Nach so einem sensationellen Erfolg mit den Fliegen von Sartre hat Fehling eine große Macht. Er soll Intendant des Hebbeltheaters werden.
"Wenn ich Intendant bin, werde ich an allem sparen, an Kulissen, an Kostümen, an dieser Pestilence von herum stinkenden den Beamten und dem ganzen übrigen Plunder, er regt er sich als wir in der Ecke einer Kneipe sitzen, nur nicht an der Garage für meine Schauspieler. Sie sollen alles haben, was sie brauchen. Alles! Dann werde ich alles von ihnen verlangen, und sie werden die Kraft haben, mir alles zu geben." ( S.99/100)

"Das Deutsche Theater ist eines der schönsten der Welt, wenn nicht das allerschönste überhaupt. [...]
Ein junger Schauspieler ist noch völlig chaotisch. Er muss sich langsam aus dem Gefühl seiner Empfindungen herausarbeiten. Man glaubt, an den Schlingpflanzen seiner Seele zu ersticken. Ich habe niemanden, der mir hilft, keinen Lehrer, keinen, der mir wirklich etwas beibringen kann. Das ist für mich beklemmender als die Visionsszene.
Bei der Premiere kommt alles von selbst. Ich habe das Geheimnis enträtselt: man muss stillhalten. Man muss ganz ruhig werden und sich der Situation der Szene nur unterordnen, die Umgebung, die Personen auf sich wirken lassen, sich besinnen, wo man ist. Der Text kommt dann ganz von allein. Und der Sinn des Textes bestimmt die Erschütterungen deiner Seele. Das übrige besorgt das Leben, das man leben muss ohne sich zu schonen.
Nie vergesse ich auf einer Bühne ein einziges Wort von meinem Text oder brauche einen Souffleur. Nicht nur, weil mein Gedächtnisses nie aussetzt, sondern weil die Worte sich aus dem Geschehen formen. Dazu gehört natürlich eine grenzenlose Fantasie, die man, wenn sie sich zu entfalten beginnt, gegen alle äußeren Einflüsse abkapseln muss, um sie nicht zu irritieren. Das fordert seinen Preis. Man wird so über sensibel, dass man unter normalen Umständen gar nicht mehr leben kann. Deshalb sind die Stunden zwischen den Vorstellungen die schlimmsten. Oder man hat das mörderische Pech, an ein Theater oder einen Partner zu geraten, die durch ihre Grobheit dieses feine Gewebe, aus dem die größte Kraft des Schauspielers erwächst, zerstören. Dann wird man entweder das Opfer oder man wehrt sich seiner Haut. In beiden Fällen leidet man wie ein Vieh. Auch das Publikum ist sich dessen oft nicht bewusst, begreift oft nicht, dass es zusammen arbeiten muss mit dem Schauspieler, der bereit ist, vor ihm zu verbluten. Dass die Zuschauer ihm durch ihre Andacht helfen müssen, die letzte Scham, die letzte Angst abzuwerfen. Dass sie an dem Erfolg beteiligt sind. Dass sie selbst bestimmen, ob ein Schauspieler das Höchste geben kann, was Sie von ihm verlangen, oder ob er sich in sich selbst zurückzieht, um nicht aus der schwindenden Höhe in die Tiefe zu stürzen, aus der ihn niemand herauf holen kann.
Das sind keine Phrasen. So ist es und nicht anders! [...]" (S.106/07)


Das Geschwür
[...] 
In Marseille gehe ich zuerst du auf den arabischen Markt, um meinen Anzug zu verscheuern. Von dem Geld will ich mir Marinezeug kaufen und von dem, was übrig bleibt, was Warmes essen. Die Araber reißen mir den Anzug förmlich vom Leib und bieten mir (umgerechnet) 20 Mark. Die sind ja verrückt! Der Anzug ist fast neu und hat 600 Mark gekostet. Ich gehe ins Leihhaus, um zu fragen, was ich dafür bekommen würde. Vor dem Leihhaus, das noch nicht geöffnet hat, steht eine endlose Schlange. Als ich endlich dran bin, wird schon wieder geschlossen. Aber die Ratte am Schalter sagt, dass er denselben Preis bietet wie die Araber auf dem Markt. Also gehe ich zu den Arabern zurück, schließe den Handel ab, suche mir an einer Verkaufsbude gebrauchte Arbeitshose, Pullover und Jacke aus, lass den Araber für mich bezahlen und gehe mit ihm in eine öffentliche Pinkelbude, wo ich mich umziehe und das restliche Geld für den Anzug in Empfang nehme. [...]
Ab jetzt habe ich nichts anderes mehr im Sinn als ein Schiff zu finden, so schnell wie möglich. Aber das ist nicht leicht. In den Hafen darf man nicht ohne spezielle Genehmigung, und die Schifffahrtbüros, die Matrosen anheuern, sind überfüllt von arbeitslosen Matrosen, die sich um die freien Plätze schlagen. Mich guckt überhaupt keiner an, geschweige, dass einer mit mir spricht. Ich versuche es bei englischen und amerikanischen Gesellschaften, aber die nehmen nur Engländer oder Amerikaner. Ich versuche es als Hafenarbeiter und schleppe elf Tage gemeinsam mit afrikanischen Negern Säcke.. Mit dem Geld gehe ich zu den Huren von Marseille. Obwohl diese Mädchen nicht wählerisch sein können und mit Matrosen und Arbeitern aller Rassen schlafen, die aus allen Winkeln der Erde kommen und sicher alle erdenkbaren Krankheiten einschleppen, ficke ich sie nicht nur ohne Gummi, sondern lecke sie auch. Ich weiß, das es unverantwortlich leichtsinnig ist, was ich tue. Aber ich will sie lieben, ich will, dass sie fühlen, dass ich sie liebe und dass ich Liebe brauche. Dass ich krank bin nach Liebe." (S.168/69)

Wenn man Klaus Kinskis Autobiographie folgt, dann glaubt er wirklich daran, dass "man leben muss ohne sich zu schonen", weil nur das bewirkt, dass auf der Bühne der Text die notwendigen "Erschütterungen deiner Seele" hervorrufen kann. Zumindest will er im Leser den Eindruck erwecken. 

Dafür stellt er sich unter Verwendung aller üblichen Klischees der Pornoliteratur als so sexgetrieben dar, dass man nicht recht glauben kann, dass er seine Sexualpartnerinnen wirklich so hemmungslos missbraucht. 
Nach der #MeToo-Debatte fällt es schwer sich klar zu machen, dass er so schreiben konnte, ohne ernsthaft zu befürchten, dass der sexuelle Missbrauch seiner Tochter Pola ihn seine Karriere kosten würde. 
Sie schrieb erst als 60-Jährige darüber

29 März 2019

Erich Kästner: Fabian und seine Urfassung

Vielleicht hat es letztlich zu Kästners Breitenwirkung beigetragen, dass er durch die NS-Herrschaft dazu gezwungen wurde, sein Talent weitgehend als Kinderbuchautor und Autor heiterer harmloser Romane zu beweisen.
Schließlich hat der Bundesverfassungsgerichtspräsident Voßkuhle, vielleicht der bedeutendste in der Geschichte der BRD, die Weckung seines Gerechtigkeitssinns wesentlich auf Kästners Kinderbuch "Das fliegende Klassenzimmer" zurückgeführt.

Aber man verkennt Kästner, wenn man nicht weiß, dass er mit Fabian auch einen bedeutenden zeitkritischen Großstadtroman geschrieben hat, dessen Urfassung sein Lektor erst nach einigen Entschärfungen akzeptierte.

28 März 2019

Matthias Claudius: Die süßen Lippen der Mädchen

 "Vor der Geburt des Amors wußte man nichts von Küssen, und der liebende Jüngling kannte die unaussprechliche Wollust nicht, die ich empfinde, wenn ich meine Lippen sanft auf die Lippen meiner Chloe drücke.

Die Mädchenlippen waren schön, doch waren sie nicht süß, 
Bis Venus Göttertrank auf sie durch Amors träufeln ließ.

Als Amor geboren wurde, hielten die Götter ein Fest, da waren so vergnügt, als sie noch nie gewesen waren. Selbst aus dem Gesichte des Mavors was hatten die goldenen Schüssel den Krieg verscheucht. "Laßt uns", fing er gefällig an, "den Menschen heute eine Wohltat erweisen," "und zwar diese", sprach die schöne Königin von Cypern, die in den halb ausgeleerten Becher freundlich hineinsah, "sie sollen unser Nektar kosten."
Venus fand Beifall, und gab den Liebesgöttern den Nektar, mit dem Befehl, ihn auf die Lippen der Mädchen zu träufeln.

"Ich schmeck ihn, wenn ich Chloe küsse,

Wie sanft, wie angenehm, wie süß?
O Chloe, Chloe gib mir Küsse, 
Der Gottestrank ist gar zu süß."

Vom selben Autor:
Matthias Claudius:

24 März 2019

Hanya Yanagihara über "Das Volk der Bäume" und "Ein wenig Leben"

"Ich glaube, es hilft, wenn man nicht auf einer Schreibschule war. Jeder Künstler, der auf einer Kunstschule war, nimmt ein bisschen von der Ästhetik dieser Schule und den akademischen Lehren der jeweiligen Zeit mit. Und in den vergangenen zehn, zwanzig Jahren ging der Trend in der amerikanischen Prosa in Richtung einer Art Distanziertheit, einer affektlosen Trockenheit, einer gewissen Innerlichkeit. Das interessiert mich einfach nicht, als Leserin."
https://www.zeit.de/kultur/literatur/2019-03/hanya-yanagihara-schriftstellerin-ein-wenig-leben-rassismus-melodrama/komplettansicht

Christentum und Kapitalismus

"Bucher, Rainer: CHRISTENTUM IM KAPITALISMUS Wider die gewinnorientierte Verwaltung der Welt

"Gegen die „gewinnorientierte Verwaltung der Welt“ hat das Christentum die paradoxalen Spannungen menschlicher Existenz freizulegen: zwischen Jetzt und Noch-nicht, Individuellem und Gesellschaftlichem, Freiheit und Gnadenbedürftigkeit."

http://www.libinst.ch/?i=christentum-und-kapitalismus-ein-pladoyer-wider-die-instrumentalisierung

http://www.balkanforum.info/f26/christentum-kapitalismus-jesus-befuerworter-kapitalismus-223007/

Leben in der Anderswelt

Johanna Haberer: Leben in der Anderswelt Ein spiritueller Ratgeber durch das Netz

"Das Leben der anderen wird in nie dagewesener Weise durchsichtig." 
Unser eigenes aber undurchsichtig.  
"Was macht das [Internet] mit uns, mit unserem Denken, unserer Wahrnehmung, unseren Wahrheiten und unserer Wahrhaftigkeit, unseren Bindungen?"

16 März 2019

Versuch mit Mosebach

Martin Mosebach: "Der Mond und das Mädchen" *

"Etwas Luftiges Leichtes" die Ankündigung durch Ijoma Mangold. 
Ein halbes schönes Frauengesicht auf dem Cover. Gekonnte Sprache, Beschreibung, aber weder Inhalt noch Stil*

Neuer Blick auf das Cover: "Spiegel Bestseller". Wie das? Stifter erschreckt wenigstens bei aller Langeweile durch Stil. Aber hier? Welcher Spiegelleser mag so etwas lesen? [Erklärung: Büchner-Preis]

"Etwas Luftiges Leichtes" - wie war das doch? Fontane sprach vom englischen "Luftbrot" im Unterschied zu handfesten deutschen Schrippen. 
Dann doch lieber Raabe "Chronik der Sperlingsgasse", auch wenn der geschwätzige Erzähler-Greis des 25-jährigen Raabe auch viele Wörter macht. 
Also: nicht konservativ, sondern Epigon der Epigonen des 19. Jh. ist mein Eindruck nach den ersten Seiten.
Jetzt ein neuer Versuch ab S.76:
Das ist nicht trivial, das ist sprachlich gekonnte Inhaltsleere.
Bisher gibt es keine Person, nur flache Charaktere.

Doch hier: Ein originelles Bild habe ich gefunden. In dem dicken halslosen Mann Sieger stellt sich Ina seine Seele vor:
"Sie stellte sich vor, dass in seinem Leib eine kleine hochbewegliche Seele wie ein Flaschenteufelchen eingesperrt war, die zwischen seinen Füßen und dem Kopf auf sanftesten Druck hin auf- und abtanzte." (S.149/50)

Vielleicht habe ich mit einem anderen Buch Mosebachs mehr Glück. 

* Lesern, die sich durch meine verständnislose Lektüre nicht abschrecken lassen wollen, empfehle ich diesen sorgfältigen Wikipediaartikel. 
Das Schreiben hinwiederrum, wie anders kann einer es erlernen denn in eigener Person? Nur für sich kann einer den jeweils vorläufigen Verhandlungsfrieden finden zwischen der vorgefundenen Sprache und seinen Ansprüchen an ihre Ausdrucksmöglichkeiten; was manchmal in dem Terminus Personalstil begriffen wird. (Uwe Johnson: BegleitumständeFrankfurt 1980, S. 334) 

14 März 2019

Christoph Hein: Gegenlauschangriff

Eine Besprechung, der es gelingt, den Untertitel "Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege" unbeachtet zu lassen:
https://www.mdr.de/kultur/gegenlauschangriff-christoph-hein-100.html

Eine Besprechung, die die Anekdoten aus diesem Kriege übergeht, um einen Angriff gegen den Autor fahren zu können:
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/christoph-hein-greift-donnersmarck-an-16012665.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0

Verharmlost der Schriftsteller Christoph Hein die DDR? ZEIT 31.1.19

Interview zum "Gegenlauschangriff" ZEIT 27.3.19

Rezension von Adam Soboczynski ZEIT 20.3.19

Eine Leseprobe aus dem Buch
Auch hier nichts über den Gegensatz zwischen alten und neuen Bundesländern.

Eine Besprechung von Heins "Verwirrnis", wo seine Position noch besser zur Geltung kommt.

Christoph Hein in der Wikipedia

Tweets zu Christoph Hein

Hein im Interview über "Gegenlauschangriff" FR 12.3.2019, S. 32/33

10 März 2019

Ein Volksfest mit Stau an einer Engstelle, aber ohne Tote wie in Duisburg

"[...] Eine wogende Menge erfüllt die Straßen. Geräusch von Fußtritten, Gemurmel von Sprechenden, das hie und da ein lauter Ausruf durchzuckt. Der Unterschied der Stände ist verschwunden, Bürger und Soldat teilt die Bewegung. An den Toren der Stadt wächst der Drang. Genommen, verloren und wiedergenommen, ist endlich der Ausgang erkämpft. Aber die Donaubrücke bietet neue Schwierigkeiten. Auch hier siegreich, ziehen endlich zwei Ströme, die alte Donau und die geschwollnere Woge des Volks, sich kreuzend quer unter- und übereinander, die Donau ihrem alten Flußbette nach, der Strom des Volkes, der Eindämmung der Brücke entnommen, ein weiter, tosender See, sich ergießend in alles deckender Überschwemmung. Ein neu Hinzugekommener fände die Zeichen bedenklich. Es ist aber der Aufruhr der Freude, die Losgebundenheit der Lust.
Schon zwischen Stadt und Brücke haben sich Korbwagen aufgestellt für die eigentlichen Hierophanten dieses Weihfestes: die Kinder der Dienstbarkeit und der Arbeit. Überfüllt und dennoch im Galopp durchfliegen sie die Menschenmasse, die sich hart vor ihnen öffnet und hinter ihnen schließt, unbesorgt und unverletzt. Denn es ist in Wien ein stillschweigender Bund zwischen Wagen und Menschen: nicht zu überfahren, selbst im vollen Lauf; und nicht überfahren werden, auch ohne alle Aufmerksamkeit.
Von Sekunde zu Sekunde wird der Abstand zwischen Wagen und Wagen kleiner. Schon mischen sich einzelne Equipagen der Vornehmeren in den oft unterbrochenen Zug. Die Wagen fliegen nicht mehr. Bis endlich fünf bis sechs Stunden vor Nacht die einzelnen Pferde- und Kutschen-Atome sich zu einer kompakten Reihe verdichten, die sich selber hemmend und durch Zufahrende aus allen Quergassen gehemmt, das alte Sprichwort: »Besser schlecht gefahren, als zu Fuß gegangen«, offenbar zuschanden macht. Begafft, bedauert, bespottet, sitzen die geputzten Damen in den scheinbar stille stehenden Kutschen. Des immerwährenden Anhaltens ungewohnt, bäumt sich der Holsteiner Rappe, als wollte er seinen, durch den ihm vorgehenden Korbwagen gehemmten Weg obenhin über diesen hinaus nehmen, was auch die schreiende Weiber- und Kinderbevölkerung des Plebejer-Fuhrwerks offenbar zu befürchten scheint. Der schnell dahinschießende Fiaker, zum ersten Male seiner Natur ungetreu, berechnet ingrimmig den Verlust, auf einem Wege drei Stunden zubringen zu müssen, den er sonst in fünf Minuten durchflog. Zank, Geschrei, wechselseitige Ehrenangriffe der Kutscher, mitunter ein Peitschenhieb.
Endlich, wie wenn in dieser Welt jedes noch so hartnäckige Stehenbleiben doch nur ein unvermerktes Weiterrücken ist, erscheint auch diesem status quo ein Hoffnungsstrahl. Die ersten Bäume des Augartens und der Brigittenau werden sichtbar. Land! Land! Land! Alle Leiden sind vergessen. Die zu Wagen Gekommenen steigen aus und mischen sich unter die Fußgänger, Töne entfernter Tanzmusik schallen herüber, vom Jubel der neu Ankommenden beantwortet. [...]"
(Franz Grillparzer: Der arme Spielmann, Zeno, S.145/46)

Inhalt u.a. (Wikipedia)


Loveparade in Duisburg 2010

09 März 2019

Wilhelm Raabe: Holunderblüte

Text
Wikipediaartikel:
"[...] Den Kern der Erzählung bildet Jemimas Erzählung von der Tänzerin Mahalath, die auf dem jüdischen Friedhof in Prag begraben liegt. Jemima leitet die Kerngeschichte durch den Ausruf „Das bin ich“ ein, wobei sie auf das Grab deutet. Die tragische Geschichte über eine Jüdin folgt, die sich unglücklich in einen jungen Adligen verliebte und an einem kranken Herzen starb. Ein ebenso krankes Herz besitzt Jemima selbst, und sie weiß, dass sie – wie zuvor Mahalath – daran sterben wird.
Damit ist die Grundproblematik der Novelle dargelegt: In allen drei Figurenpaaren geht es um ein krankes Herz und um eine gesellschaftlich nicht legitimierbare (Liebes-)Beziehung. Der Tod der Frauen lässt die Männer mit dem Gefühl der Schuld zurück.[...]"

"Wenn aber Raabe vorgeworfen wurde, er habe im Hungerpastor ein einseitiges Bild des Judentums entworfen, konnte er seelenruhig erwidern, er habe das alte ehrwürdige Judentum, besonders im leidenden Getto, immer mit schuldigem Respekt behandelt: in Höxter und Corvey wie in Holunderblüte." (Walter Haußmann: Nachwort zu "Das letzte Recht - Holunderblüte" Reclam 8485, Stuttgart 1961, S.96)

Zitate:
"Doch das hat eigentlich nichts mit diesen Aufzeichnungen zu tun; ich will nur an einem neuen Beispiele zeigen, welch ein wunderliches Ding die menschliche Seele ist. Nicht ohne guten Grund überschreibe ich dieses Blatt: Holunderblüte; der Leser wird bald erfahren, was für einen Einfluß Syringa vulgaris auf mich hat." (Text)

Vom heutigen Sprachgebrauch ausgehend wird man verwirrt, wenn man von den weißen und blauen Blüten des Holunders liest, bis man bemerkt, dass für Raabe Holunder gleichbedeutend mit Flieder (Syringa vulgaris) ist.

Das Lied, das der alte Mann  auf dem Klavier vorfindet und das eine Vorausdeutung auf die zentrale Handlung darstellt:

"Des Menschen Hand ist eine Kinderhand,
Sie greift nur zu, um achtlos zu zerstören;
Mit Trümmern überstreuet sie das Land,
Und was sie hält, wird ihr doch nie gehören."


Wie Jemima Löw am Beispiel von Mahalath auf ihr eigenes Schicksal in der Zentralhandlung vorausdeutet:
"Jemima Löw las den Shakespeare nicht, hatte auch in ihrem Leben nichts von dem Mann gehört, und sie verstand aus meinen verworrenen Reden über diesen Punkt nur, daß ich sie mit allerlei christlichen und heidnischen Frauen vergleiche, und lächelte ungläubig, und eines Tages, um die Mitte des Herbstes, als die ersten winterlichen Ahnungen durch die Welt gingen, als die Blätter des Flieders nicht weniger wie alle andern Blätter sich bunt färbten, – eines Tages um die Mitte des Herbstes faßte sie meine Hand und zog mich durch einen düstern Gang nach der Mauer des Kirchhofs zu einem Grabstein, den wir bis jetzt noch nicht betrachtet hatten.
Auf diesen Stein deutete sie und sprach:
»Das bin ich!«
In hebräischer Schrift stand auf dieser Platte:
Mahalath
Und darunter die Jahreszahl:
1780.
Wie kam es, daß ich so sehr erschrak? War es nicht Torheit, daß ich so erstarrt, wortlos das Mädchen neben mir ansah?
Ja, es lachte nicht, es freute sich nicht eines gelungenen närrischen Einfalls. Ernst und traurig, mit gekreuzten Armen stand es da, lehnte sich über den Stein und sagte, ohne eine Frage abzuwarten:
»Sie hieß Mahalath, und sie war Mahalath, das ist eine Tänzerin. Sie hatte ein krankes Herz wie ich und ist die letzte gewesen, welche auf diesem unserm Beth-Chaim eingesenkt wurde, – die allerletzte. Nachher hat's der gute Kaiser Joseph verboten, daß sie noch einen aus unserm Volk hier zu Grabe brächten; die Mahalath ist die letzte gewesen. Der gute Kaiser hat auch die Mauern der Judenstadt niedergeworfen und hat ihr seinen eigenen milden und glorreichen Namen zu seiner und unserer Ehre gegeben. Er hat dies Gefängnis zerbrochen und uns atmen lassen mit dem andern Volk; der Gott Israels segne seine Asche.«
»Aber wer ist die Mahalath? Was hast du mit der Mahalath, Jemima?« rief ich.
»Sie hatte ein krankes Herz, und es zersprang.«
»Sei keine Törin, Mädchen, was weißt du von dieser Toten, die im Jahre siebenzehnhundertachtzig begraben wurde?«
»Wir gedenken lange unserer Leute. Ich kenne die Mahalath ganz genau und weiß, daß ihr Los das meinige sein wird.«
»Dummes Zeug!« rief ich; aber Jemima Löw drückte plötzlich die Hand auf das Herz, und über ihr Gesicht zuckte es, als erdulde sie einen großen physischen Schmerz.
Ich erschrak wiederum heftig, und als sie meine Hand nahm und dieselbe auf ihre Brust legte, erschrak ich noch mehr.
»Hörst du, wie es klopft und pocht, Hermann? Das ist die Totenglocke, welche mir zu Grabe läutet. Du bist ein großer Doktor und hast das nicht gemerkt?«
Dieses Letzte sagte sie mit einem so hellen Lächeln, daß die Idee dieses frühen Sterbens mir um so schrecklicher erschien. Ich faßte beide Hände des Mädchens und schrie sie zornig an: »Scherze nicht auf so tolle Weise! Alles will ich dir hingehen lassen, nur nicht solche Worte.«
»Es ist kein Scherz«, antwortete sie, »soll ich dir die Geschichte der Mahalath erzählen?«"
(Holunderblüte Kapitel 3)

zur Fortsetzung

Weitere Raabe-Lektüre:
"[...] Von den Dohlen bis zu den Glocken ist nur ein Schritt; – die Stadt hat, so viele Jahrhunderte hindurch sie existiert, sich noch nie und nimmer ihr Geläut zuwidergehört. Sie besitzt ein Theater und hat dann und wann ganz gute Gelegenheit, sich mit aller Vergangenheits- und Zukunftsmusik bekannt zu machen; aber ein Ohr für ihre Glocken hat sie sich unter allen Umständen bewahrt.[...]"
Wunnigel (Text)  Inhalt u.a. (Wikipedia)

07 März 2019

Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre

Wilhelm Meisters Wanderjahre (Wikipedia)

Goethes Wanderjahre aus A. Muschgs Sicht (Weites Feld 13.3.2011)

"Alles, worein der Mensch sich ernstlich einläßt, ist ein Unendliches; nur durch wetteifernde Tätigkeit weiß er sich dagegen zu helfen; auch kam Wilhelm bald über den Zustand vom Gefühl seines Unvermögens, welches immer eine Art von Verzweiflung ist, hinaus [...]" (W. Meister 3. Buch 3. Kapitel Zeno, S.326]

„Ich hoffe, meine Wanderjahre sind nun in Ihren Händen und haben Ihnen mancherlei zu denken gegeben; verschmähen Sie nicht einiges mitzutheilen. Unser Leben gleicht denn doch zuletzt den sibyllinischen Büchern; es wird immer kostbarer, je weniger davon übrig bleibt.“
– Brief Goethes vom 19. Juni 1829 an Christoph Ludwig Friedrich Schultz (Jurist, preußischer Staatsrat, 1781–1834)

03 März 2019

Wiedereröffnung des Reclam Verlages und Demontage seiner Produktionsmittel 1946-47 in der SBZ

14.3.1946 Lizenz der sowjet. Militärverwaltung zur Wiedereröffnung des Verlages an Ernst Reclam in Leipzig
Juni 1946 die ersten neu gedruckten Nummern der Universal-Bibliothek: Lessing: Nathan, Goethe: Iphigenie, Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag, Heine: harzreise, Puschkin: Dubrowski, Schiller: Fiesco.
November 1946 bis Anfang Januar 1947 Demontage der meisten Maschinen in "235 Kisten mit einem Gesamtgewicht von 500 Tonnen" (Reclam. Daten, Bilder und Dokumente zur Verlagsgeschichte 1828-2003, S.115)

Wiederaufbau des Reclam-Verlags in der Bundesrepublik ab 1949


"In den fünf Jahren 1949-1953 werden, um das Publikum wiederzugewinnen und die Universal-Bibliothek als Schullektüre mehr denn früher durchzusetzen, 44 Serien mit 360 Titeln in Abständen von 1 bis 2 Monaten auf den Markt gebracht. Es handelt sich zunächst um den klassischen Bestand von Lessing bis Storm, von Schiller bis Keller, also die deutsche Literatur zwischen Aufklärung und bürgerlichem Realismus, englische, französische, skandinavische und russische Weltliteratur, Philosophie von Platon bis Nietzsche, Operntextbücher – eine Restitution zunächst der Leipziger Universal-Bibliothek, der eine Modernisierung folgen wird. Anläßlich Goethes 200. Geburtstag bietet Stuttgart wieder 16 Goethe- Titel in der Universal-Bibliothek an, in Leipzig erscheinen 14 seiner Werke.
1950 tritt in Deutschland mit den ersten rororo-Taschenbüchern der Typus des angelsächsischen Pocket-book als preiswerte broschierte Ausgabe auf, in dessen Gefolge sich mit Taschenbuchreihen der Verlage Fischer (1952), Goldmann (1952), Ullstein (1953), Heyne (1958), dtv (1961), Suhrkamp (1963) und Diogenes (1971) ein eigener Markt entwickelt. Reclams Universal-Bibliothek hat Gemeinsames und Trennendes im Verhältnis zu diesen Reihen, die Textsammlung hebt sich ab durch den noch immer niedrigsten Preis für die Einfachnummer, das stärker beachtete Prinzip des ständigen Nachdrucks und der Lieferbarkeit eines einmal aufgenommenen Titels und durch das literarische stringentere Programm. So werden auch Unterhaltungsliteratur und Ratgeberbücher, die in der älteren Universal-Bibliothek eine gewisse Rolle gespielt haben, Beim Wiederaufbau nicht berücksichtigt, eine stärkere Konzentration auf Literatur, Philosophie und geisteswissenschaftliche Disziplinen eingehalten. Der Markt der Kioske und Bahnhofsbuchhandlungen, auf dem Reclam in den zwanziger Jahren zu finden war, wird aufgegeben, dafür die Wirkung im Bereich der Schulen, Universitäten und des Bildungswesens gegenüber früher ganz unvergleichlich verstärkt. (Reclam. Daten, Bilder und Dokumente zur Verlagsgeschichte 1828-2003, S.120)

Deutsche Rundschau

"Die Deutsche Rundschau hat die deutsche Politik sowie Literatur und Kultur zeitweilig maßgeblich beeinflusst und galt als eine der „bestgelungenen Journalgründungen“ in Deutschland. So veröffentlichten Theodor Fontane seine Effi Briest, Theodor Storm seinen Schimmelreiter sowie Zeitgenossen wie Paul Heyse, Gottfried Keller, Conrad Ferdinand Meyeroder Ernst Robert Curtius ihre Werke in dieser Zeitschrift.
Nach Rodenbergs Tod wurde Bruno Hake ihr Herausgeber, dem 1919 Rudolf Pechel folgte. Bis zum Zweiten Weltkrieg war die Zeitschrift das Sprachrohr der Jungkonservativen und später der konservativen Gegner des Nationalsozialismus. Von 1933 bis 1942 war der Redakteur und Schriftsteller Paul Fechter Mitherausgeber der Zeitschrift.
Im April 1942 wurde Pechel verhaftet und die Zeitschrift vom Reichssicherheitshauptamt verboten. Vier Jahre später erschien die Deutsche Rundschau erneut mit Rudolf Pechel als Herausgeber. Nach Pechels Tod führten seine Söhne Jürgen und Peter Pechel sowie Harry Pross die Zeitschrift bis 1964 weiter." (Deutsche Rundschau (Wikipedia))
Von 1937 bis September 1939 wurde sie vom Reclam verlegt, danach in einem eigenen Verlag betreut, aber bis 1942 weiter von Reclam gedruckt und vertrieben,  Werner Bergengruen sagte, sie sei "nicht fortzudenken aus der Geschichte des deutschen Widerstandes" (zit. nach Reclam. Verlagsgeschichte 2001, S.106). Die Autoren entwickelten eine "Kunst der Verschleierung" (W. Röpke, zit. nach Reclam 2001, S.107), die es ermöglichte, dass "jeder Gebildete in jedem Lande [sie] mit Gewinn und Vergnügen lesen konnte" (Röpke ebd.).