29 März 2020

Franziska zu Reventlow: Ellen Olestjerne

Schloß Nevershuus lag grau und schwerfällig unter hohen Bäumen mit seinen breiten Seitenflügeln und dem viereckigen Turm, der kaum das Dach überragte. Aber von seiner Plattform aus konnte man weit über Meer und Heide sehen und auf die kleine Küstenstadt hinunter, die sich zwischen Deichen und grünen Wiesen hinzog.
In früheren Zeiten sollte es einmal irgendeiner schlimmen Fürstin als Witwensitz gedient haben – von daher stammten wohl die altersschwarzen Ölbilder droben im Rittersaal und allerhand Spukgeschichten, die immer noch im Volksmund fortlebten, obgleich das Gut jetzt schon lange im Besitz der Familie Olestjerne war und die gemalten Damen mit ihren feierlichen Mienen auf die Schicksale und das Treiben einer anderen Zeit herabsahen.
Es konnte immer noch einen melancholisch unheimlichen Eindruck machen, das alte Schloß, wenn die Herbststürme durch alle Kamine heulten wie geängstigte arme Seelen, oder wenn der Nebel vom Meer heraufstieg und alles in seine wogenden grauen Schleier einhüllte. Aber es hatte auch seinen Frühling und seinen Sommer, wo die Sonne alles Düstere aus den weiten hohen Räumen herausleuchtete, wo der reiche grüne Garten um die grauen Mauern blühte und drüben in der Ferne das Meer blau und schimmernd dalag.
Für die Bewohner von Nevershuus ging die schöne Jahreszeit ebenso still und gleichförmig hin wie der Winter. Der Gutsherr Christian Olestjerne war meist draußen im Felde oder auf der Jagd, und seine Frau saß mit ihrer ältesten Tochter am Steintisch unter den Buchen, wenn sie nicht in Küche und Vorratskammer zu tun hatten. [...]
8. März, nachmittags
Eben komme ich von unsrer so schmählich zerrissenen Zusammenkunft im Dom zurück. Der Schrecken sitzt mir noch in allen Gliedern. Gott im Himmel, wenn mein Vater uns gesehen hätte – ich hätte mir auch denken können, daß er unserm Besuch die Kirchen zeigen würde. Und was der Kirchendiener wohl gedacht hat, als wir auf allen vieren zwischen den Bänken durchliefen. Es war eine gute Idee von Ihnen, denn sonst hätten sie uns sicher gesehen.
Aber es war doch schön, daß wir uns wenigstens so lange in Ruhe unterhalten konnten.
Glauben Sie nur nicht, daß ich Ihnen unsre häuslichen Verhältnisse übertrieben habe. – Seit wir hier sind, habe ich mit Mühe erreicht, daß ich den ganzen Tag in meinem Zimmer sein kann und nicht mehr nähen muß. Da habe ich mir mit einer spanischen Wand eine Art Atelier eingerichtet, wo ich male und modelliere. Aber es ist unmöglich, allein weiterzukommen – ich darf weder Modelle nehmen, noch mir Gipsabgüsse ausleihen. Meine Mutter findet, ich soll dann wenigstens »hübsche, brauchbare« Sachen – Geschenke, Porzellanteller usw. machen. Das fällt mir natürlich nicht ein, und so bleibt mir nichts übrig, wie meine alten Stiefel und ähnliches zu malen. Davon hab' ich schon eine ganze Galerie. – Ich weiß ganz gut, daß meine Mutter mich auf diese Weise zwingen will, nachzulassen. Aber ich lasse nicht nach.
Es ist überhaupt ein fortwährender Krieg. »Jedermanns Hand wider jedermann.«
Mit meinem Vater kann ich auch zu keinem Verständnis mehr kommen, er hat sich in letzter Zeit mehr um mich gekümmert, aber es ist doch zu spät. Ich kann mich nicht freundlich mit ihnen stellen, wenn ich sie zugleich fortwährend hintergehen muß. Und das wieder muß ich, um zu meinem Lebensrecht zu gelangen. Ein ehrlicher, offener Kampf würde mir gar nichts nützen, sie sperren mich dann höchstens noch mehr ein.
Und was das Leben so schön macht, kann nicht schlecht sein. Wo bliebe dann die Wahrheit? In all dieser verschrobenen Sittlichkeit und Moral ist ja doch kein Funke davon.
Ich lese jetzt gerade »Die Frau« von Bebel und Lassalles »Leben«. [...]

Kais Krankheit dauerte sehr lange, und selbst die Kleinen fühlten die trübe, lastende Stimmung, die über dem ganzen Hause lag. Sie suchten sich alles mögliche auszudenken, was ihm Freude machte, denn sie hatten ihn alle sehr lieb.
Kai wollte Naturforscher werden, sein ganzes Zimmer war voll von Steinen, Schmetterlingen, ausgestopften Vögeln, und hinten im Garten stand ein verdorrter Baum, wo er tote Tiere für seine Skelettsammlung aufhängte. Was die Geschwister jetzt an verendeten Katzen, ertränkten jungen Hunden und anderem Getier fanden, kam an den Baum, und sie freuten sich heimlich auf die Überraschung, wenn er wieder aufstand.
Aber Kai stand nicht wieder auf – die Großen wußten es schon lange, daß er sterben mußte. Mama war blaß, sie hatte tiefe Ringe um die Augen und schalt nicht mehr so viel, und der Vater sprach kaum ein Wort.
Eines Vormittags spielten die beiden Jüngsten im Garten. Seit dem Frühstück hatten sie niemand von den anderen gesehen, und unten im Schloß war alles still.
Gegen Mittag kam Erik aus dem Haus, er setzte sich auf die eiserne Treppe, und Ellen hörte, daß er laut weinte. Sie rannten zu ihm hin und quälten ihn mit Fragen, aber er schluchzte nur immer lauter.
»Kai ist tot!«
Tot – Ellen empfand nur einen furchtbaren Schrecken, ein Gefühl von kalter, beklemmender Angst, wie sie es noch nie am hellen Tage gehabt hatte. Sie klammerte sich fest an Erik und weinte entsetzt mit. Detlev wurde auch bange, er wußte nicht, was das alles bedeuten sollte, und rief laut nach Mama. Statt dessen kam die alte Stina heraus, ihr Gesicht war ganz verstört und zusammengefallen – die Kinder hatten sie noch nie in Tränen gesehen. [...]
August
Lange, lange nichts aufgeschrieben – daran kann ich selbst immer messen, ob mein Leben still und einsam gewesen ist, oder ob es mich mitgerissen und durchgeschüttelt hat.
Ich bin viel gesünder, seit ich draußen auf dem Lande bin, male den ganzen Tag. – Und doch denke ich immer wieder, daß ich nicht lange leben werde –, daß es mich doch wieder hinwerfen könnte und ich mich eilen müßte. Dann kommt ein förmliches Fieber über mich, ich möchte in jeden Tag hineindrängen, was er nur fassen kann, an heißer Arbeit und heißem Leben.
Wenn ich mein Tagebuch lese – das klingt alles so, als ob ich immer in tiefer Melancholie herumginge und der dunkle Hintergrund nie ganz wiche. Und dabei gibt es keinen Menschen, der so viel lacht wie ich – niemand glaubt, daß ich auch nur einen Tag ernst oder traurig sein könnte, oder daß mir irgend etwas tief geht. Ich begreife es ja auch selbst manchmal nicht völlig, daß ich immer noch ganz dieselbe bin. Aber immer noch könnte ich für einen Moment der Freude meine ewige Seligkeit verkaufen. – Ich könnte es nicht nur, ich tue es auch.
Seit Johnny fortging, ist es fast wie das Leben im herumziehenden Zigeunerwagen, das ich mir als Kind träumte – von einem Ort zum andern und über dem Hier das Dort vergessen. Nur immer weiter, nicht rückwärts sehen und nicht vorwärts, den Zufall als Gott anbeten und ihm opfern. [...]
September – –
Mein Kind – nun ist es aus seinem langen, dunklen Schlaf erwacht, Tag und Nacht liegt es neben mir – Tag und Nacht scheint jetzt die Sonne, und die letzte Finsternis ist hell geworden – die Welt steht still um uns beide, wie ein Tempel, in dem alle Offenbarungen tönen.
Mein Kind – mein schwererkämpftes – nach all dem stillen, frohen Warten noch einmal hinunter in den allertiefsten Abgrund – durch Martern hindurch, wie sie kein Traum zu ersinnen vermag, die alles hinweglöschen, was noch leben will an Furcht und hoffender Erwartung, alles verstummen machen vor dem einen schaudernden Aufschrei, daß solches Entsetzen möglich ist.
Und dann der lichte Morgen, die hellen strahlenden Stunden, wo das Leben in seine Bahnen zurückflutete –, und wo ich zu fassen begann, daß ein Märchenwunder Wirklichkeit geworden war – das Märchenwunder, das neben mir in weißen Kissen lag und mich aus weiten, dunklen Augen ansah. – Mein Kind – was frage ich jetzt noch, ob es schwer erkämpft war –, mein Kind soll zur Freude geboren sein, nicht die verblaßten Spuren tragen von dem, was ich gelitten habe, und was jetzt mir selber Freude und Reichtum geworden ist. Mein Weg war wohl oft dunkel und blutig, ich habe den Tod von Angesicht zu Angesicht gesehen und seinen Blick gefühlt, den Wahnsinn und die letzte Verzweiflung – nun sehe ich dem Leben ins Auge und bete es an, weil ich weiß, daß es heilig ist. Es hat mich all seinen Reichtum gelehrt an Leiden und Lust – ich liebe alle die Schmerzen, die es mir angetan hat, und all die Opferwunden, die es schlug – ich liebe auch die Verlassenheit und die Not, die vor unserer Tür steht. – Wie konnten wir je Feinde sein? Mag es jetzt geben oder nehmen – ich sehe ihm ins Auge, und wir lächeln beide.
(Franziska zu Reventlow: Ellen Olestjerne)

Fanny zu Reventlow:
"[...] Während Reventlows eigentliche künstlerische Ambitionen in der Malerei zu keinem nennenswerten Œuvre geführt haben, hat sie durch ihre schriftstellerischen Nebentätigkeiten ein einzigartiges Beispiel humoristisch-satirischer Literatur und ein wertvolles kulturgeschichtliches Zeugnis der Schwabinger Bohème hinterlassen. Ihre Romane und Novellen werden bis heute verlegt und gelesen.
Ihr autobiografischer Erstlingsroman Ellen Olestjerne (1903) kann noch als Bekenntnis- und Selbstfindungsbuch nach einem typischen Muster der Zeit (vgl. etwa Gabriele Reuters Aus guter Familie von 1895) gelten. Sie schrieb ihn auf Anregung (und fast möchte man sagen: unter Aufsicht) von Ludwig Klages als eine Art Eintrittskarte in den Kreis der „Befreiten“ (wie man die Bohémiens in München damals nannte) und verwendete dabei authentische Tagebucheinträge und den Liebesbriefwechsel mit Fehling aus ihrer Jugend in Lübeck. Später distanzierte sie sich allerdings von ihrem Erstlingswerk – und schon 1904 auch vom Kosmiker-Kreis in ihrem Schwabinger Beobachter.

Fotografie aus dem Jahr 1905
Mit ihren eher novellistisch angelegten Romanen und Erzählungen der 1910er Jahre betrat sie völlig neues Terrain. Der hier verwendete humoristische, artifiziell-leichte Plauderstil wurde handwerklich vorbereitet durch ihre Übersetzung von über vierzig meist französischen Gesellschaftsromanen (u. a. von Marcel Prévost) und durch die Witze, die sie für fünf Mark das Stück für das Satireblatt Simplicissimus schrieb. In den „Amouresken“ Von Paul zu Pedro (1912) stellte sie in Form eines Briefromans à la Liaisons Dangereuses eine Art Typenlehre erotischer Begegnungen in der Bohème auf. Ihr berühmtestes Buch ist der Schlüsselroman Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil (1913), in dem die Streitigkeiten zwischen den auseinanderbrechenden „Fraktionen“ des Kosmiker-Zirkels mit dem Pathos eines Revolutionsberichts ironisch konterkariert werden. [...] " (Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Fanny_zu_Reventlow)

28 März 2020

Theodor Storm: Ein Fest auf Haderslevhuus

Ein Fest auf Haderslevhuus (1885)

Im vierzehnten Jahrhundert in Nordschleswig war es, als dort im tiefen Buchenwalde der Ritter Claus Lembeck auf seiner Höhenfeste Dorning saß. Sie war ihm nach dem Tode seines jütischen Weibes zugefallen; er hatte sein Wappen, einen Geierkopf in rotem Felde, über die Einfahrt des Außentores nageln lassen und zog Wall und Gräben doppelt stark um sich herum. Denn Waldemar Atterdag, der Dänenkönig, trug heimlichen Groll gegen den gewaltigen Mann, der einst aus seinem grimmigsten Feinde sein dienstbeflissener Kanzler geworden war, dann aber wiederum ihm abgesagt und sich zu den Grafen von Holstein, den Schauenburgern, und zum Herzog Waldemar von Schleswig gestellt hatte [...]
er Schwarze Tod war gekommen, der die Welt leerfraß und gegen den nichts half als sterben.
In selbiger Nacht noch blies er den jüngsten Knaben an, und sein Eingeweide brannte, seine Lippen wurden wie Ruß, und am dritten Tage war statt des schönen Knaben ein schreckhafter blauschwarzer Leichnam auf dem in Todesqual zerwühlten Bette; dann griff er nach der schönen ältesten Tochter, dann nach den beiden andern Söhnen; und sie starben alle, alle. Hallen und Gemächer dufteten Tag für Tag nach frischem Gras und Thymian, das gegen die böse Pestluft überall gestreut wurde; aber die Mutter Erde und ihre Kräuter hatten keine Heilkraft mehr; es war, als ob selbst Gott der Herr die Macht verloren habe auf seiner Erde.
Ein paar Monde schien dann das Sterben im Schlosse aufzuhalten; da eines Tages trat die Schloßfrau zu ihrem Eheherrn in sein Gemach, gekrümmten Leibes, mit entstelltem Antlitz. »Benedikte!« schrie er.
»Ja, Hans, ich muß nun auch von dir!«
»Du nicht! Du nicht, Benedikte!« Und er streckte seine Arme nach ihr aus. »Herr Gott, wo bist du? Herr, schütze deine Menschen!«
Aber bevor er sie berührte, war sie mit ihrer letzten Kraft entflohen. »Ade, du mein Herzenstrauter! O süße Dagmar!« So rief sie noch zurück.
Er hatte ihr folgen wollen, aber ein bewußtloser Schrecken hatte ihn festgehalten; dann ging er taumelnd nach ihrem Ehegemach; aber es war leer, und seiner Sinne unmächtig, sank er auf das große Bett.
Die Schaffnerin, die noch lebte, fand ihn am andern Tage; aber sie erkannte, daß das große Sterben ihn nicht ergriffen habe.
Während sie ihn pflegte, war sein Weib verschwunden, und Dagmar, um die sich niemand kümmerte, das blauschwarze Haar wirr um ihr blaß Gesichtchen, lief, nach der Mutter weinend, durch Hall' und Gänge. Da wollte eine der Dirnen ein Gewandstück aus einer entlegenen Kammer holen; aber schreiend stürzte sie zurück, denn auf einem alten dort stehenden Bette lag ein schwarzer Leichnam, dem die Abendsonne das Gesicht beschien. Da die andern Dirnen hinzukamen, sahen sie, es sei die Schloßfrau, die einsam hier gestorben war.
Als der Ritter aus seinem Wirrsal aufwachte, war sein Weib nicht mehr im Hause. Die Kinder lagen drunten auf dem nahen Kirchhof; der aber hatte lang schon keine Erde mehr für neue Tote; seitwärts vom Walde war eine Niederung, dort hatte man mit Pfählen ein Viereck ausgeschlagen, wohin nun alle gebracht wurden, die der Tod erschlug. Draußen auf dem »Pestacker« war auch des Ritters Weib vergraben worden; so erzählte man ihm jetzt.
Er erwiderte kein Wort auf diese Kunde; aber er erhob sich bald von seiner Bettstatt. Den Gürtel lose um den grauen Leibrock geschlungen, die Otterkappe in die Augen gedrückt, schritt er langsam durch alle Hallen und sich kreuzenden Gänge des ganzen Baues, treppauf und -ab; mitunter riß er eine Tür in ihren schweren Angeln auf, er stand wie hintersinnig auf der Schwelle und blickte in das düstere Gemach; aber die Zellen waren alle leer und totenstill; wo die Älteste geschlafen hatte, lag in der Fensterbrüstung noch das verhungerte Rotkehlchen, das der kleine Axel ihr einst gefangen und jubelnd heimgebracht hatte; niemand hatte die Zellen öffnen dürfen, seitdem die jugendliche Gestalten als furchtbare Leichen dort herausgehoben waren.
Das Leben und die Arbeit lag danieder, alle Ordnung und Geschäft war aufgelöst; aber jeden Tag, morgens und wenn die Sonne niedersank, machte der Ritter seine düsteren Gänge durch die Burg; er rechnete nicht mit sich, weshalb; es war auch Sonstiges nicht für ihn zu tun. Ein paarmal war Dagmar ihm leise nachgeschritten, aber er sah nicht rückwärts; auch als sie in Angst und Sehnsucht stärker auftrat, schlossen nur seine Hände auf dem Rücken sich fester ineinander, und ohne sonstige Bewegung schritt er weiter. Da blieb sie stehen, legte die Finger auf ihre zitternden Lippen und verschluckte ein paar Tränen, die ihr aus den Augen fielen; dann kehrte sie um und suchte bei der alten Schaffnerin ihren stillen Unterschlupf.
Nur einmal, da bei seinem Vorübergehen das blasse Gesichtlein ihn so stumm und flehend angesehen hatte, ging er auf seinem Totengang nicht weiter. Er gedachte plötzlich einer Base seines toten Weibes, die einst in ihrer Jugend am Thüringer Hofe auf kurze Zeit zu den gelehrten Frauen gezählt worden sei; denn sie verstand zu lesen und zu schreiben, hatte sogar den Virgilium studiert; auch Paramentenstickerei und derlei Künste hatte sie verstanden. Sie war nun alt und lebte in einer kleinen Stadt von einem Rentlein, welches ihr die Sippe gab. [...]
Diese Frau vertritt dann Mutters Statt an Dagmar.
Dagmar [...] als sie auf den Platz hinaustrat, wo die Würzebeete waren und wo das volle Mondlicht ihr entgegenquoll, da hörte sie nur noch die Nachtigall, die drüben am Waldesrande schlug. Der Atem ging heftig durch ihre offenen Lippen; sie setzte sich auf die Bank und blickte vor sich auf den Wipfel der hohen Pappel, deren Blätter im Nachthauch sich bewegten. Doch aus den beklommenen Atemzügen wurden Worte: »Was wolltest du hier, Dagmar?« sprach sie leise. »Die Nachtigall?« – Sie horchte eine Weile, und der Vogel sang, als müsse er einen Preis ersingen – aber Dagmar schüttelte das Köpfchen, und ihre Lippen flüsterten, indem sie die Hände vor die Augen schlug: »O heilige Jungfrau, wenn du mir hold sein wolltest!«
Da rauschten neben ihr die dichten Pappelzweige; und ehe sie es fassen konnte, schwang ein Mann sich auf die Mauer und hinab in den Garten. Ein Schrei rang sich aus ihrem Munde, aber sie erstickte ihn; denn schon lag er ihr zu Füßen, jung und schön, und sah mit flehenden Augen zu ihr auf: »Seid milde, Fräulein! Oh, wie hold seid Ihr! Ich sah noch nimmer Euresgleichen!«
Sie sagte nichts; mit kindisch weit geöffneten Augen blickte sie ihn an, erschreckt und doch entzückt, als wollte sie die Worte ihm von den Lippen lesen. Doch das Winseln der Dogge scholl vom Hof herüber durch die Büsche, und des Ritters Hand fuhr jäh nach einem Jagdstahl, der an seinem Gürtel hing.
Aber sie schüttelte nur leise mit dem Köpfchen, da ließ er die halb gezogene Waffe wieder fallen. »Wer seid Ihr?« frug er. »Wollet Ihr mir's sagen?«
Und sie antwortete: »Ich bin Dagmar, des Hauses Tochter; und wer seid Ihr?«
Er erschrak und wollte schon eine Mär erzählen, wie er zu andern Zeiten wohl getan; doch da er in dieses Kinderantlitz blickte, so konnte er es nicht; er sagte nur: »Ich, süße Fraue, bin ein selig unseliger Mann, seitdem ich Euch gesehen habe!«
»Aber, Herre, das ist nicht rechte Antwort!«
Da hob er die Hände bittend zu ihr auf: »Verlanget nicht Weiteres; es wäre auf Nimmerwiederkehr!«
»So redet nicht!« rief sie hastig; aber ein Zug der Angst flog dennoch über das zarte Antlitz, und sie setzte bei: »Nur, um der Gottesmutter Leiden, schweigt nicht zu lang; es täte mir weg!« Und wie durch körperlichen Schmerz getrieben, drückte sie die Hand auf ihre linke Brust. Da er sorgenvoll mit den Augen folgte, sprach sie: »Ihr wisset, das große Sterben, als das ins Land kam... aber« – unterbrach sie sich – »wo waret Ihr denn damals?«
»In Paris«, sagte er leise, als wolle er den Laut ihrer Stimme nicht verlieren; »in Prag dann später, auch dort am Königshof.«
Sie sah ihm in sein schönes Antlitz, auf den gestickten Samtrock und wie die goldenen Knöpfe im Mondlicht blitzten. »So wisset Ihr nichts von uns – o herzliebe Mutter! Süße Schwester Heilwig!« rief sie; »o meine Brüder – alle sind gestorben!« Plötzlich ergriff sie seine Hand: »Kommt!« rief sie und zog ihn mit sich auf eine kleine Höhe, von wo man seitwärts bei dem Walde in das flache Land hinaussehen konnte. Er glaubte eine Niederung zu gewahren und einzelne Pfähle, durch dunstigen Nebel schimmernd, der dort umzog. »Dort!« sprach sie kaum hörbar und zeigte mit ausgestreckter Hand dahin. [...]
Da flog ein selig Lächeln über das blasse Antlitz: »Rolf!« hauchte sie; und noch einmal wieder: »Rolf!«
»Weiter!« rief er hastig. »Wie weiter? Der Name läuft auf allen Gassen!«
Aber sie vermochte nur leis den Kopf zu wiegen, als sei das alles, was sie wisse.
»Rolf? Wer ist Rolf?« frug sich der Ritter. Zorn gegen den, der seinem Kinde das angetan hatte, brauste betäubend in ihm auf; aber er durfte jetzt nicht schelten, was sie liebte: ihr Leben hing daran. Des Schreibers Gaspard Nachricht tauchte in ihm auf: ein Junker, ein ritterlicher Mann doch mußte es gewesen sein! Da schlug ein furchtbarer Gedanke ihm durchs Hirn: »Dagmar«, sprach er bebend, »besinne dich! Nicht wahr, er trug einen Rock, einen Gürtel mit Stickereien? War kein Wappentier, zahm oder Gewild, darauf gestickt?«
Er starrte lange vergebens auf ihr Antlitz; dann bewegten sich ihre Augen unter den geschlossenen Lidern: »Ein Geier!« sprach sie leise.
Wie von jähem Stoß getroffen, fuhr der Ritter auf: »Rolf Lembeck!« schrie er. »Verfluchter! Das gilt dir deinen Tod!«
Das Kind aber schlang die Arme fest um seinen Hals: »Vater! Mein Vater!« schrie sie. »Oh, ich sterbe!«
Der Augenblick, den des Königs Arzt vorgesehen hatte, schien gekommen. Zwiefach gespitzt hatte der Pfeil ihr Herz getroffen; sie sprach nicht mehr; erbarmungslose Gichter warfen den jungen Körper in ihres Vaters Armen hin und wider. [...]
So ritten sie über die Brücke durch die Torfahrt in den innern Hof, wo der gewaltige Bau vor ihnen aufstieg; aus seinen vielen kleinen Fensterhöhlen schoß eine Flut von Kerzenstrahlen auf sie zu; nur links am Flügel ragte der stumpfe Turm lichtlos in die Sternennacht. Ihren geblendeten Augen war der Hof bis an die Mauern voll von Menschen; aber ein hochzeitliches Treiben schien es nicht; es war, als ob sie nur die Köpfe wandten und leise zueinander raunten.
Als die Reiter von ihren Rossen gesprungen und Diener vorgetreten waren, die ihnen die Tiere fortführten, stand ein großer Mann mit todblassem Antlitz unter grauem Haupthaar vor dem Ritter; zwei Diener mit Windlichtern, deren Flammen im Nachtwind wehten, waren ihm zur Seite. Da die Herren sich im Fackelscheine sahen, stutzten sie einen Augenblick, ein jeder über des andern schwarze Tracht; dann sprach der graue Mann: »Nehmt Dank, Herr Ritter, von mir und für mein Kind! Ihr durftet hier heut nicht fehlen!«
»So dacht ich auch« erwiderte der andre beklommen. »Doch wollet mich nun führen, Herr Schloßhauptmann, auf daß ich Wunsch und Ehrerbietung der Braut zu Füßen lege!«
Der alte Ritter, der seinen Gast mit starrem Aug gemustert hatte, neigte das Haupt und faßte dessen Hand; die Diener mit den Lichtern schritten ihnen voran, durch die schweigenden Menschen dem Treppenturm im Hochbau zu. Als sie hineintraten, blickte Gaspard, der mit dem Junker folgte, durch eine offene Tür, die seitwärts in die untre Halle ging; es brannten viele Kerzen dort, sonst war es leer; nur mitten auf den Fliesen schlief ein großer Hund.
Aber der Hausherr führte sie die Wendelstiege zum oberen Stock hinan. Da sprach Rolf Lembeck im Emporsteigen: »Der Hof ist voll Menschen, Herr; was ist es so totenstille hier?«
Der Schloßhauptmann aber warf das Haupt zurück: »Mein Kind hat viel Leid gelitten«, sprach er; »es bedarf der Ruhe.«
Sie waren in eine große Halle eingetreten, an deren einer Seite sich viele Türen, im Grunde ein geschlossenes Doppeltor befand; vor diesem war ein niedriger Aufbau, mit weißem Samttuch behangen; an beiden Seiten der Halle standen Männer und Frauen, alle in feierlicher Ruhe und in schwarzen Gewändern; nur an dem Doppeltor stand ein Priester in weißem Maßkleid.
Dem jungen Ritter, da er sich umsah, ward der Atem schwer. »Herr Schloßhauptmann«, sprach er wieder, »wollet mir sagen: ich sah noch nimmer eine Hochzeit mit so dunklen Gästen!«
Der aber erwiderte: »Seit drei Tagen hat mein Kind sich Schwarz zur Leibfarbe angenommen; es ist wohl seltsam, doch es ist mein letztes – so muß ich ihr den Willen tun. Geduldet Euch, die Braut wird bald erscheinen!«
Rolf Lembeck schwieg, und unter all den Menschen war es wieder lautlos still.
Da nahte sich ein Rauschen hinter den geschlossenen Toren, ein Zug von langsamen Schritten wurde hörbar, und indem die Tore sich öffneten, scholl, von jungen Frauenstimmen gesungen, ein De profundis wie von den Sternen nieder.
Ein Schauer schlug Rolf Lembeck durch die Glieder; aber schon hatte der Zug der Jungfrauen die Schwelle überschritten. Er streckte sich und hob den Kopf; so stand er wie erstarrt, und nur sein Auge wurde wie das eines Raubvogels. Er sah die singenden Jungfrauen eine Totenlade von den Schultern heben und sie auf die Samtbühne niederlassen; er sah in weißen Sterbgewändern ein Weib – nein, nicht ein Weib; aus weißen Binden sah ein totes Kinderantlitz –, da ließ der Bann von ihm: ein furchtbarer Schrei scholl durch die Halle. Der Gesang riß ab, und mit erhobenen Armen brach Rolf Lembeck durch die Menschen; er stürzte sich über den Sarg und preßte seine Lippen auf das tote Antlitz seiner Liebe: »O Dagmar, das ist unsre Hochzeit!« [...]"
(Theodor Storm: Ein Fest auf Haderslevhuus)

(Ich sehe Parallelen zu Fontanes Grete Minde von 1880. - In beiden Fällen handelt es sich um ein Werk, das den Verfasser nicht auf dem Feld zeigt, wo er sein Bestes bieten konnte.)

Text zum Film von 1921, er bietet den Inhalt des Films, eine vergröberte Version der Handlung der Novelle.

24 März 2020

Theodor Storm: Briefe

An Bertha von Buchan
 31.1.1841
Nun, mein herzliebes Blümelein [...]
Wir haben seit meinem letzten Briefe Weihnacht und Neujahr gehabt, was ich ja alles, wie schon gesagt und beklagt, hier in Kiel verleben mußte. Indes hatten wir sechs Husumer doch einen Weihnachtsabend, wovon ich Dir wenigstens etwas erzählen will, da das Ganze bei mir gewiss bleibend einen freundlichen Eindruck zurücklassen wird. Ich mit noch einem Freunde arrangierte das Ganze mit aller möglichen Heimlichkeit vor den anderen; in einem großen Zimmer stellten wir eine prachtvolle acht Fuß hohe Tanne auf, schmückten sie reichlich mit goldenen Äpfeln, Eiern, Netzen, Zuckerzeug und vielen bunten Lichtern; von der Spitze zu jeder Seite herab hängen zwei lange weißseidene Fahnen, auf der einen die Wappen von Schleswig und Holstein, darunter ein Königsausspruch, der die bleibende Vereinigung dieser beiden Herzogtümer ausspricht [...] - auf der anderen Fahne das Husumer Stadtwappen, als Umschrift einen Vers aus einem alten Studentenliede: "Süßer Traum der Kinderjahre, kehr noch einmal uns zurück. [...] 
Daß mein Polterabendgedicht gefallen, ist mir lieb, noch lieber, daß Du gefallen hast. Wenn ich Ostern bei Euch bin, muß ich doch das Vergnügen haben, mein Gedicht einmal aus Deinem Munde zu hören; dann wollen wir auch die "Elemente" zusammen lesen. Bete nur um den Frühling! 
Tausend Grüße an Deine gute Mutter!
Dein Theodor


An Theodor Mommsen
                                                                                                            Husum, 31.10.1842
"[...] Der Brief von Berthas Mutter ladet mich freundlich ein, doch steht nach dem freundlichen Willkomm der verdächtige Satz da: "Ich denke, Sie sollten uns allen eine angenehme Erinnerung hinterlassen. – B.  dankt schön für Ihren lieben Brief." – Ich habe an B. geschrieben, ich hoffte, Weihnacht zu kommen. –
[September oder Oktober 1842 hatte Storm Bertha einen Heiratsantrag gemacht, den sie zurückwies.]
Unsrer plattdeutschen Sprichwörtersammlung verspreche ich hier guten Erfolg; ich habe ganz Prima entzündet; und meine Mutter interessiert sich dafür; auch Nähmädchen sind nicht zu verachten. [...] 
Ach, es ist mir hier so wunderlich öde, unter meinem Fenster, wie vermisse ich da das leichtsinnige Kieler Straßengewimmel, es ist hier so still, und ich versichere sie, obgleich mein Fenster nicht hoch genug liegt, um sie zu sehen, man fühlt sie ordentlich, die große, wüste, menschenfeindliche Nordsee; ich bin’s gar nicht mehr gewohnt; es wird mir ganz unheimlich, wenn mit mir jeden Abend und jede Nacht die Fenster Stoß auf Stoß im harten Nordwest klirren. [...]"

An Theodor Mommsen
Husum, 1.12.1842 bis 9.1.1843
Husum, 23.1. bis 24.2.1843
Husum 14.5. bis 24.5.1843
Briefe im Zusammenhang der Herausgabe einer Sagensammlung zusammen mit Th. Mommsen und Karl Mühlenhoff und einer Liedersammlung "Liederbuch dreier Freunde" , herausgegeben von Storm und Theodor und Tycho Mommsen. 


"Gestern Abend hielten wir noch das Konzert "Die Zerstörung Jerusalems", worauf wir fünf viertel Jahr geübt haben, und als ich zuletzt den vollen prächtigen Chor von über 50 Sängern, den ich gestiftet, dirigierte, als so alle Blicke an meinem Stäbchen hingen und die Tonwellen nun zum letzten Mal aus begeisterter Menschenbrust brausend hervor strömten, da musste ich mein Herz in beide Hände fassen, um nicht in Tränen auszubrechen.
Auch ich sang noch und sang aus meinem bewegten Herzen und mit mächtiger Stimme die schöne Arie: "Du wirst ja dran gedenken, denn meine Seele sagt es mir." Es war eine lautlose Stille. So, nachdem eben der volle Chor ausgebraust, zu singen und so gehört zu werden ist eins der glückseligsten Momente des Menschenlebens. – Es war für mich zum letzten Mal." (Th. Storm an seinen Vater Johann Casimir Storm, Heiligenstadt 11. März 1864)



An Eduard Mörike Husum, 3. Juni 1865 

"Mein verehrter Freund,

nach langer Zeit komme ich wieder einmal zu Ihnen; diesmal aber als ein Mann, dessen Lebensglück zu Ende* ist und über dessen Zukunft die Worte stehen, die Dante über seine Hölle schrieb. "("Lasst, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren." (Dante: Die Göttliche Komödie, Hölle, 3. Gesang)

Ausgabe von Theodor Storm: Briefe in 2 Bänden, Berlin Weimar 1972 von Peter Goldammer (1921-2014) 

* Seine Frau Constanze Storm starb am 24. Mai 1865 nach der Geburt ihrer Tochter Gertrud.

An Hartmuth und Laura Brinkmann Husum 21. April 1866

"[...] In mein Leben, wie in meine Poesie theilen sich zwei Frauen; die eine die Mutter meiner Kinder, Constanze, die so lange der Stern meines Lebens war, ist nicht mehr; die andre lebt, nachdem sie fern von mir allein und oft in drückender Abhängigkeit verblüht ist. Beide habe ich geliebt, ja beide liebe ich noch jetzt; welche am meisten, weiß ich nicht; die erschütterndste Leidenschaft hat mir einst die noch Lebende eingeflößt; die leidenschaftlichen Lieder, die Ihr ja oft gelesen, sind der Kranz, den sie noch jetzt in ihrem Haar trägt. Beide sind sie, obwohl sonst mannigfach verschieden, die süßesten mildesten Frauenseelen, die ich im Leben gefunden und von grenzenloser Hingebung an den geliebten  Mann. Das wäre noch alles schön u. gut; aber die Leidenschaft für die Lebende brach über mich herein, als die Verstorbene schon mein Weib war. — So kam es.
Während meines Brautstandes kam meine Schwester Cäcilie mit einem etwa 13jährigen Mädchen, einer feinen zarten Blondine, auf mein Zimmer. Sie hatten sich verkleidet und hielten sich eine Zeit lang bei mir auf. Als sie gegangen sagte ich mir betroffen, daß dieses Kind mich liebe, und erinnere mich dessen noch wohl, daß sie schon damals einen eigenthümlichen Reiz für mich hatte.
Ich heirathete und jenes Mädchen, damals eben aufgeblüht kam oft in unser Haus. In meiner jungen Ehe fehlte Eins, die Leidenschaft; meine und Constanzens Hände waren mehr aus stillem Gefühl der Sympathie in einander liegen geblieben. Die leidenschaftliche Anbetung des Weibes, die ich zuletzt für sie gehabt, gehört ihrer Entstehung nach einer späteren Zeit an. Aber bei jenem Kinde, die wie ich glaube mit der Leidenschaft für mich geboren ist, da war jene berauschende Athmosphäre, der ich nicht widerstehen konnte. Vielleicht mag ich auf sie eine gleiche Wirkung gehabt haben. Gewiß ist, daß ein Verhältniß der erschütterndsten Leidenschaft zwischen uns entstand, das mit seiner Hingebung, seinem Kampf und seinen Rückfällen jahrelang dauerte und viel Leid um sich verbreitete, Constanze und uns. [...]"

An Paul Heyse 17.5.1888
Wie köstlich es gestern, unser Frühlingsanfang-Tag, in mei­nem Tannengarten war! Ich wollt, Du wärst bei mir gewesen. Alles voll Vogelgesang, und der tut merkwürdig wohl, wenn man selber matt und sangberaubt sich in der Sonne wärmt. Gartenlaubsänger, Buchfink, Meisen, Hänfling - alle waren sie da und sangen um mich her; sie bauten sich dabei wohl ihre Nester in den dichteren Tannenbeständen; sogar der Star, der Spitzbub, kam und ließ sich, wohl nur um die Ge­legenheit zu besehen, auf einen Kirschbaum nieder, der noch mit unaufgebrochenen Knospen stand. Frau Nachtigall sang freilich am 1. Mai den ganzen Tag in meinen Tannen und dann noch zweimal später; aber es waren nur Höflichkeits­visiten; und gestern abend schrie der Waldkauz aus den Tannen, der nur dem einen Gedanken nachgeht, all meine Künstler aufzufressen; bei Tage, und wohl auch später, schleicht ein schwarzer Kater hier herum: so steht der Tod an allen Freuden, und wir dürfen ihn nicht außer Rechnung lassen.

Dazu:
Storms Frauen in seinen Gedichten
Dorothea Jensen. Die zweite Frau von Theodor Storm, 14.9.2017
Haupt: Theodor Storm

21 März 2020

Hans Christian Andersen und Ambrosius Stub

Hans Christian Andersen setzte Ambrosius Stub in seinem Märchen 'Das Schneeglöckchen' ein literarisches Denkmal:
"[...] Am nächsten Tage schien die Morgensonne hinein auf das kleine, flachgedrückte Schneeglöckchen, das so aussah, als sei es auf den Fußboden hingemalt. Das Dienstmädchen, welches das Zimmer auslehrte, hob es auf, legte es in eins der Bücher hinein, die auf dem Tische lagen, und zwar in der Meinung, es müsse beim Aufräumen herausgefallen sein. Die Blume lag wieder zwischen Versen, gedruckten Versen, und die sind vornehmer als die geschriebenen, wenigstens ist mehr Geld auf sie verwendet.
Darauf vergingen Jahre, das Buch stand auf dem Bücherbrette: dann wurde es einmal in die Hand genommen, man schlug es auf und las darin; es war ein gutes Buch: Verse und Lieder von dem alten dänischen Dichter Ambrosius Stub, die wohl zu lesen werth sind. Der Mann, der in dem Buche las, schlug ein Blatt um. »Da liegt ja eine Blume!« sagte er, »ein Schneeglöckchen, ein Sommernarr, ein Dichternarr! Die wird wohl mit Bedacht hier hereingelegt worden sein; armer Ambrosius Stub! Er war auch ein Sommernarr, ein Dichternarr! Er kam seiner Zeit zu früh, und deshalb mußte auch er die scharfen Winde kosten, als Gast bei den adeligen Gutsbesitzern umherwandern, als Blume im Wasserglase, Blume im gereimten Briefe! Sommernarr, Winternarr, Spaß und Narrheit, und doch der erste, der einzige, der jugendfrische dänische Dichter von damals. Ja, bleib Du als Zeichen im Buche liegen, Du kleines Schneeglöckchen, Du bist mit Bedacht hineingelegt worden.«  [...]" (Das Schneeglöckchen)

"Sommernarr, Winternarr, zu früh gekommen, mit allen Mühsalen einer unzeitigen Geburt; aber mit dem "Alleinstellungsmerkmal", das/der Erste gewesen zu sein.

20 März 2020

Hedwig Richter: Hölderlin und Hölderlins Heidelberg

"[...] Tatsächlich, selten lagen die Schönheit und die Großartigkeit und Bedeutsamkeit von Hölderlin so auf der Hand wie heute: in Corona-Zeiten. Die elaborierten Argumentationsketten, warum uns der schwäbische Dichter vergangener Zeiten auch im 21. Jahrhundert noch etwas zu sagen habe, die Gegenpredigten können wir uns alle sparen. Wir müssen dem Schicksal dafür danken, dass der 250. Geburtstag des Poeten in diese unwirklichen Tage der Einsamkeit und Distanz fällt, die sich womöglich zu Wochen und Monaten ausdehnen werden. [...]"
https://www.zeit.de/kultur/literatur/2020-03/friedrich-hoelderlin-dichter-geburtstag-corona-zeiten/komplettansicht


Hölderlins Heidelberg

Blick auf Neckar, Brücke und Schloss (aus Wikipedia Commons)




Heidelberg

Lange lieb ich dich schon, möchte dich, mir zur Lust,
Mutter nennen und dir schenken ein kunstlos Lied,
Du, der Vaterlandsstädte
Ländlichschönste, so viel ich sah.

Wie der Vogel des Waldes über die Gipfel fliegt,
Schwingt sich über den Strom, wo er vorbei dir glänzt,
Leicht und kräftig die Brücke,
Die von Wagen und Menschen tönt.

Wie von Göttern gesandt, fesselt' ein Zauber einst
Auf die Brücke mich an, da ich vorüber ging
Und herein in die Berge
Mir die reizende Ferne schien

Und der Jüngling, der Strom, fort in die Ebne zog,
Traurigfroh, wie das Herz, wenn es, sich selbst zu schön,
Liebend unterzugehen,
In die Fluten der Zeit sich wirft.

Quellen hattest du ihm, hattest dem Flüchtigen
Kühle Schatten geschenkt, und die Gestade sahn
All' ihm nach, und es bebte
Aus den Wellen ihr lieblich Bild.

Aber schwer in das Tal hing die gigantische,
Schicksalskundige Burg nieder bis auf den Grund,
Von den Wettern zerrissen;
Doch die ewige Sonne goß

Ihr verjüngendes Licht über das alternde
Riesenbild, und umher grünte lebendiger
Efeu; freundliche Bilder
Rauschten über die Burg herab.

Sträuche blühten herab, bis wo im heitern Tal,
an den Hügel gelehnt oder dem Ufer hold,
Deine fröhlichen Gassen
Unter duftenden Gärten ruhn.


Eine Burg hängt, eine Brücke tönt, die Ferne scheint in die Berge, Gassen sind dem Ufer hold.
Adjektive werden von ihren Substantiven getrennt.
Nichtssagende Adjektive wie reizend, freundlich, lieblich und "unds" die Menge.
Verquere Wortstellung, immer wieder getrennte Zusammenhänge.
Und Bilder wie der Strom glänzt vorbei, das Bild bebt aus den Wellen.

Warum gilt dies Gedicht trotz aller Heidelbergromantik als das gelungenste über Heidelberg?

Kellers Strophe zeigt uns die Brücke doch so viel treffender als Hölderlins Bild vom Waldvogel:
Schöne Brücke, hast mich oft getragen,
Wenn mein Herz erwartungsvoll geschlagen
Und mit Dir den Strom ich überschritt
Und mich dünkte, deine stolzen Bogen
Sind in kühnerm Schwunge mitgezogen
Und sie fühlten mein Freude mit.

Warum gräbt man die erste Strophe dieses kunstlosen Liedes in Stein und nicht Goethes
Hintenan, bebuscht und traulich,
Steigt der Felsen in die Höhe;
Und mit hohem Wald umzogen,
Und mit Ritterschloß gekrönet"
Ist es doch ein Schloss und keine Burg, wie es bei Hölderlin heißt. Und was soll das mit der hängenden Burg?

Lange lieb ich und dann beim Blick von der Brücke traurigfroh bereit liebend unterzugehn. Es ist etwas anderes als Beschreibung und mehr als Lob.

Wie das - angeblich kunstlos - erreicht wird, ist genauer zu betrachten.
Es ist eine Ode mit asklepiadeischen Strophen. Das Versmaß fließt dahin, wird aber nicht nur durch die Innenzäsuren der ersten beiden Zeilen, sondern stärker noch durch das Aufeinanderfolgen von zwei Hebungen an Schluss und Anfang der beiden ersten und am Anfang der dritten Zeile bestimmt.

Auf die erste Strophe, die eine Art Einleitung darstellt, folgen zwei Bilder: zum einen Brücke mit Fluss, zum anderen das Schloss (hier Burg genannt). Das sind die beiden Elemente, die noch heute den berühmtesten Blick auf die Stadt prägen. Beide Bilder enthalten ein bewegtes Element: beim ersten ist es der Strom, der in die Ebene zieht. Beim zweiten sind es die Bilder, die über die Burg herab rauschen.
Die Abwärtsbewegung des zweiten Teils ist recht dramatisch gestaltet: Die Burg liegt nicht am Hang, sondern hängt "schwer in das Tal", als ob sie abzustürzen drohte und die Stadt dadurch gefährdete. Zusätzlich wird durch die Voranstellung des "nieder bis auf den Grund" in der folgenden Partizipialkonstruktion zunächst die Assoziation erweckt, die Burg hinge bis auf den Talgrund. (Der Hinweis "von den Wettern zerrissen" bezieht sich übrigens auf den durch zwei Blitzeinschläge verursachten Brand von 1794, der letztlich der entscheidende Grund war, weshalb das Schloss Ruine blieb.)
Das "doch" der nächsten Zeile leitet dann aber nicht nur ein freundlicheres Bild ein, sondern lenkt den Blick wieder neu nach oben, von wo aus dann das Licht gegossen werden kann, die Bilder rauschen, die Sträucher und Gassen den Hang herunter kommen.
Eine Spannung ergibt sich daraus, dass gerade die ewige (und somit uralte) Sonne das vergleichsweise neue Schloss verjüngt. Damit wird die verschönernde und belebende Rolle des Lichts noch stärker hervorgehoben, verstärkt durch das vorangestellte "lebendiger". Während der Pflanzenbewuchs von Mauern an sich eher den Eindruck verstärkt, dass es sich um ein älteres Gebäude handelt, zumal wenn es Mauerreste sind, die überwachsen sind, nimmt Hölderlin den Bewuchs als Zeichen der Verjüngung.
Noch freundlicher wird das Bild dann durch die blühenden Sträucher in den duftenden Gärten.

16 März 2020

Aus dem Fontane-Lexikon (Carl Hanser, 2007)

Dabeigewesen: Fontane bekam als Berichterstatter von dem dänischen Krieg als Zeichen des Dabeigewesenseins sowohl die Düppel- als auch die Alsen-Militärmedaille

Daheim Die Zeitschrift druckte Fontanes"Vor dem Sturm" ab, danach nichts mehr von ihm.

Dahn, Felix: Fontane lernte Felix Dahn schon im Tunnel über der Spree kennen. Nach dem Vortrag einer Ballade soll Dahn Fontane nach Dahns eigener Mitteilung mit den Worten gelobt haben: "Na, das ist ja armdickee Poesie". Dahn habilitierte sich in München 1857 (mit 23 Jahren) mit der Schrift "Studien zur Geschichte der germanischen Gottesurteile". Fontane traf ihn 1859 bei seinem Aufenthalt in München. Felix Dahns großer Romanerfolg war "Ein Kampf um Rom" (1876)

Fontane musste dann mehrere Bühnenstücke von Felix besprechen. Meistens lobte er sie relativ ironisch.

12 März 2020

Fanny Lewald: Italienisches Bilderbuch - Florenz

Physiognomie der Stadt 
Im allgemeinen könnte man die Schar der Reisenden in zwei Klassen teilen, die streng voneinander geschieden sind: in diejenigen Menschen, welche reisen, um recht viel zu sehen, und diejenigen, welche reisen, um zu genießen. Dies letztere schließt das »recht viel sehen« entschieden aus. Es gibt nichts Qualvolleres, als immerfort und obenein in Eile eine Menge fremder Eindrücke in sich aufzunehmen, und grade darum sind gewöhnlich die ersten Tage in einer fremden Stadt wenig genußreich, ja unangenehm. [...]

Florenz kam mir zu physiognomielos vor, zuwenig italienisch, als ich es zum ersten Male sah, und dieser Eindruck wiederholte sich in höherm Grade, als ich ein Jahr nachher von Rom dorthin zurückkehrte. Die Zivilisation, die allgemeine Bildung. haben im Volksleben das Gepräge der Nationalität verwischt. Der Italiener im übrigen Italien ist vornehm, wenn er ruht, und hastig lärmend, wenn er arbeitet, tätig ist. Die Florentiner sind wie die Deutschen nicht nur tätig, sondern fleißig, das heißt arbeitsam mit ruhiger Überlegung. Die Stadt, mit ihrem Pflaster aus großen, schönen Quadern, ist ungemein sauber. Sie erschien mir dies doppelt, als ich von Rom zurückkam; volklos und still gegen Neapel, trotz dem ameisenhaften Gewühle in den Straßen. Alle Menschen in Florenz gehen nach der Mode ordentlich gekleidet, es sind viel weniger Geistliche als in den andern Städten sichtbar, man könnte sich mitunter in Deutschland wähnen. Da gibt es keine Matrosen und Orientalen wie in Genua, keine Pifferari wie in Rom; keine ausgeflaggten Schiffe, keine Brunnen, aus denen Esel die reiche Mahlzeit grüner Kohlblätter herausfischen, während die rüstigen Carrettieri mit schmutzigen Mönchen und stolzen, wasserschöpfenden Frauen schwatzen wie in Rom. [...]
Will man sich von dieser Unselbständigkeit der meisten Menschen einmal in Masse überzeugen lassen, so braucht man nur die Galerien zu durchwandern und die Mehrzahl der Reisenden Kunstwerke betrachten zu sehen. Da bleiben sie mit den Interjektionen »Göttlich! oh! schön! erhaben!« vor den Schilderungen von Martyrien stehen, gegen die jede Faser menschlicher Empfindung sich sträubt. Sie bewundern die Marterbilder, welche große Künstler, umnachtet von finsterem Wahne einer trübseligen Schwärmerei oder gezwungen durch die Macht des Geldes, erschufen; sie behaupten dann, der Stoff sei Nebensache, die Ausführung mache das Kunstwerk, und geben lange Reihen von Gemeinplätzen zu hören. Wie aber kann man etwas anderes empfinden als das grausenvollste Entsetzen, wenn man eine Heilige knien sieht, der rohe, blutgierige Henkersknechte mit glühenden Zangen die Brust zerfleischen – wie kann man sich nicht mit Widerwillen abwenden, wenn einem Märtyrer das Fleisch vom Körper geschnitten wird oder der heilige Lorenzo auf dem Roste bratet? [...]
Da stehen die eleganten Damen, die englischen Ladies, die bei dem Anblick eines Frosches Zuckungen bekommen und, wenn man das Wort Hemde ausspricht, in Schamröte erglühen, vor ganzen Wänden voll Martyrien und sehen mit dem Lorgnon Dinge und Szenen an, von denen ein gesundes Gemüt sich mit Widerwillen abwendet. [...]
Die Leute sprechen immer von Freiheit; wollen frei sein, ihre Freiheit erringen, ihre Meinung vertreten, ihre Individualität geltend machen; und dennoch haben die wenigsten den Mut, diese Individualität auch nur in der Anschauung des Schönen zu behaupten, wo sie doch keinem fremden Rechte entgegentreten und keine Emeuten und Festungsstrafen zu fürchten haben. [...]
daß ich bei diesen altbyzantinischen Köpfen, die gar nicht viel über chinesischer Malerei stehen, gar nichts empfände als herzliches Bedauern mit dem Genius eines Künstlers, der bei wahrer Empfindung so erfolglos mit der Technik rang und sicher sich selbst nicht genugtun könnte. [...]
Man konnte sich einen wirklichen Kunstgenuß durch die Kopie bereiten, eine vortreffliche Erinnerung an das Original gewinnen, einem Menschen, vielleicht einer Familie, wie ein Rettungsengel erscheinen – man verschmähte es. Es ist nicht »fashionable«, Kopien zu kaufen, man muß Originale, womöglich Werke verstorbener Meister besitzen. Erst wenn der arme Maler, wie Correggio, dem Drucke des Elends erlegen sein wird, wenn eine bleiche Gattin und jammervolle Kinder an seinem Sterbebette geweint haben werden, dann wird es Zeit sein, die Bilder mit Gold aufzuwiegen, das dann freilich nicht mehr Glück und Freude über den Künstler zu bringen vermag. [...]
Es ist die Gesellschaft der Misericordia, welche, wie mir ein Freund erzählte, noch aus den Parteikämpfen der adligen Geschlechter herstammt. Damals geschah es oft, daß die bei den Gefechten Verwundeten ohne Hilfe, ohne Beistand in den Straßen liegenblieben; sei es, daß ihre Kampfgenossen geflohen waren oder daß unbeteiligte Bürger Bedenken hatten, ihnen zu Hilfe zu kommen und dadurch als Anhänger einer Partei zu gelten und sich die Feindschaft von deren Gegnern zuzuziehen. Diese Not, unter der alle gemeinsam litten, führte zu einer Maßregel, nach der man das Parteiwesen nicht auf die Leidenden auszudehnen beschloß und sich verband, in jedem Hilfsbedürftigen nur den Menschen, nicht den Anhänger dieses oder jenes Hauses zu sehen. So ward die Misericordia gestiftet. Fand man einen Toten, einen Verwundeten in den Straßen und gab eine bestimmte Glocke das Signal, welches die Brüderschaft herbeirief, so versammelten sich diejenigen, welche es gehört hatten; man warf die Kutten und Kapuzen über, um sich gegenseitig unerkennbar zu sein, und unter dieser Hülle schwieg der Kampf, verband man sich mitten im wilden Streite der Parteien zu milden Werken wahrer Menschlichkeit. [...]
Solch persönliches, anspruchsloses Helfen ist es, was uns not tut. Dabei prangen keine Namen in öffentlichen Blättern, es ist auch kein Orden dafür zu gewinnen und keine ehrenvolle Anerkennung in frommen Salons. Ungekannt, ungesehen und verloren in der großen Zahl hilft jeder, nicht mit Geld, auf das er vielleicht nur geringen Wert legt, sondern mit eigener Kraft, zu jeder Stunde, bei Tag und Nacht mit Aufopferung der augenblicklichen Bequemlichkeit. Jeder, und dies ist für mich der Hauptvorteil der Misericordia, jeder der reichen Teilnehmer an derselben wird dadurch bisweilen an das Schmerzenslager des Armen, in die Not seines Hauses eingeführt, und das eigene Anschauen derselben ist für tausend Menschen eine unabweisliche Forderung zu helfen, soweit es in ihren Kräften steht. [...]
Dom: Santa Maria del Fiore (Wikipedia)

Der Dom ist von außen ganz mit einer Mosaik von mehrfarbigem Marmor bekleidet, innen dagegen äußerst schmucklos, bis auf die Kuppel, die mit schönen Fresken geziert ist. Er machte in seiner starren Größe auf mich einen unheimlichen Eindruck. Sooft ich in den Dom trat, fielen mir die Worte ein: »Und die Erde war wüst und leer, und der Geist Gottes schwebte über den Wassern.« 
Dom: Santa Maria del Fiore (Wikipedia)

Es ist eine starre, niederdrückende Größe, eine trostlose Öde in dem Charakter des innern Domes, und ich habe immer gedacht, es sei die Absicht des Baumeisters gewesen, dem Gebäude diesen Ausdruck zu geben, damit die beängstete Seele des Menschen sich Rettung, Zuflucht suchend an das Kreuz klammere, das über dem Hochaltare errichtet ist. Man wird nicht erhoben zum Streben nach dem Ideale, nach Gottähnlichkeit, um des Allgeistes würdig zu werden; man wird gedemütigt bis in das innere Sein. Die ganze Lehre von der Erbsünde, von der Nichtigkeit aller menschlichen Bestrebungen schwebt in diesen Räumen und wuchtet sich so erdrückend und lähmend auf die Seele, daß man verzagt und traurig wird. Es ist die einzige Kirche von allen, die ich in Italien sah, welche diesen düstern Eindruck hervorruft. Ich hätte mich gar nicht gewundert, wenn ich hier urplötzlich eine deutsche Predigt gehört hätte, die das schöne Erdenleben eine Prüfungszeit, die Welt ein Jammertal, die Menschen elendes, gottloses Otterngezücht genannt und aller Gnade ungeachtet zu den Qualen der Verdammnis bestimmt hätte. [...]
Wir sind ja zum Glück geschaffene Kinder des Lichtes! Man hat den Menschen so viele hundert Jahre lang dies selige Bewußtsein zu vernichten gestrebt, man hat ihre Seele umnachtet mit den schrecklichsten Bildern von Blut und Tod – man hat ihnen die Freude genommen an dem Guten, das sie taten, denn das wirkte die Gnade in ihnen, und ihnen doch die Verantwortung aufgebürdet für das Unrecht, welches sie begingen, und das freudige Gottbewußtsein hat trotzdem die Oberhand gewonnen. Er bricht sich Bahn, der heitere Glaube [...]
Seid ihr glücklich, wißt ihr das Gute, wer gibt euch ein Privilegium dazu, es für euch allein zu behalten? ihr tadelt ein Monopol, das einer mehr oder minder wesentlichen Entdeckung gegeben wird; wie dürft ihr es wagen, eine Erkenntnis für euch allein behalten zu wollen, die nach eurer Meinung zu dem Heile aller beitragen kann? [...]
Baptisterium (Wikipedia)



Man soll niemand zwingen, seinen Glauben zu ändern; aber ihm das, was man selbst für das Richtige hält, mit allen zu Gebote stehenden Gründen der Vernunft darzutun, damit er selbst prüfe und das Bessere wähle, das scheint mir die Pflicht eines jeden, der in seiner Überzeugung wahres Glück und Ruhe und Friede gefunden hat. [...]
Baptisterium (Wikipedia)

Erztüren von der seltensten Arbeit schließen das Battisterio. Sie sind ein Werk Ghibertis; und Michelangelo hat von ihnen gesagt, daß sie würdig wären, das Paradies zu schließen. 
Baptisterium (Wikipedia)










Sie fesselten uns lange an ihre vollendet schönen Basreliefs, ehe wir nach Santa Croce gingen, dem Pantheon von Florenz. 




St. Croce (Wikipedia)
Das Äußere von Santa Croce hat den einfach würdigen Charakter der meisten altflorentinischen Gebäude. Das Innere ist durchaus imponierend und großartig. Edle Säulenreihen tragen die Decke, Bilder der berühmtesten Künstler schmücken die Altäre, und doch ist es dies alles nicht, was den Fremden hierher zieht und seine Seele zu einer Andacht erhebt, welche man nicht in jeder Kirche empfindet. Santa Croce enthält die Gräber der bedeutendsten Männer Italiens. Michelangelo Buonarroti, Alfieri, Machiavelli, Galilei sind hier begraben. Dante hat ein Denkmal zwischen ihnen, obgleich seine Asche sich in Ravenna befindet. Die beiden schönsten Monumente sind die von Alfieri und Dante. Das erstere ist von Canova, eine über der Aschenurne trauernde Italia. [...]
Hier in dieser Kirche, vor den Grabmälern dieser Männer, tritt uns die hohe Geistesentwicklung Italiens im Mittelalter in all ihrer Ausdehnung vor die Seele, und man fragt sich, wie es möglich gewesen ist, daß ein Land, nachdem es seinerzeit so weit vorangeeilt war, dennoch hinter den darauffolgenden Jahrhunderten so weit zurückbleiben konnte. Das Volk bewahrt mit Pietät und Stolz die Erinnerung an seine Vorzeit, kennt die Namen seiner berühmten Männer, und einzelne Epochen seiner Geschichte leben in dem Gedächtnis eines jeden, da sie an Orte, Gebäude, Denkmale geknüpft sind. [...]
in den Zeitungen herrschte tiefer, schlaftrunkener Frieden. Kaum eine Andeutung fand sich von kleinen Emeuten in Rimini, Sinigaglia und Bologna. Die Blätter brachten artige Hochzeitsgedichte für ein vornehmes Paar, meldeten viel von der Reise der Kaiserin von Rußland, zeigten die glücklichen Entbindungen verschiedener Prinzessinnen an, die Zahl der in Livorno und Genua angekommenen Schiffe und waren ein wahrhaftes Modell zu Hoffmanns von Fallersleben Gedicht: »Wie interessant, wie interessant! Gott segne mein liebes Vaterland!« [...]
Unter den schönen Fresken del Sartos, die ich, als der Gottesdienst beendet war, wiederzusehen eilte, war mir besonders die sogenannte Madonna del Sacco wert, welche ich seit meiner Kindheit in einem guten Kupferstiche geliebt hatte. Die Madonna sitzt auf einem Sacke, gleichsam rastend, das Christkind auf dem Schoße, der heilige Joseph ihr zur Seite. Man sagt, der Künstler habe das Bild um einen Sack Getreide während einer Hungersnot gemalt. Nur der Kopf des heiligen Joseph hat durch die Witterung gelitten, das übrige ist vortrefflich erhalten, und die Madonna sieht in ihrer stillen, in sich begnügten Mütterlichkeit noch so ruhig und sanft auf die Nachwelt hinab, wie die Seele des Künstlers sie erschuf. Ein Maler kopierte sie in Gouache, ein Weltgeistlicher in Kreide. Da ich eine Weile in Betrachtung vor dem Bilde stand, fragte mich der Maler, ob ich del Sarto liebe, und als ich dies bejahte und hinzufügte, daß mir in der Halle »Die Geburt der Maria« große Freude gemacht hätte, mit den schönen, schlanken Gestalten, welche die Wöchnerin, die heilige Anna, zu besuchen kommen, während die kleine Madonna im Vorgrunde gebadet wird und die Pantoffeln der Mutter ordentlich vor dem Bette stehen, wollte der Abbate wissen, wie mir die Kapelle dei pittori gefallen habe. Von dieser wußte ich nichts, denn sie stand weder in Lewalds noch in Försters Handbuch erwähnt, und niemand hatte uns davon gesprochen. So erboten sich die Männer, sie öffnen zu lassen. Es ist eine kleine Kapelle im Kreuzgang des Klosterhofes, welche Cosmus von Medicis zur Begräbnisstätte berühmter Künstler errichten ließ. An der Decke ist eine Himmelfahrt der Jungfrau von Luca Giordano; der Türe gegenüber von Vasari der heilige Lukas, Patron der Maler, wie ihm die Heilige Jungfrau mit dem Christkinde erscheint, damit er ihr Bild für die Menschheit male; darunter das Leben der Jungfrau mit ganz kleinen Bildern auf Holz von dem alten Fiesole. Etwas Lieblicheres als die Bilder Fiesoles habe ich nie gesehen. Seine Engel, seine Heiligen sind wirklich so ätherische Gestalten, sehen so unirdisch rein und schuldlos aus mit ihren blauen Augen und dem zarten Rot des Fleisches unter den goldblonden Locken, daß man ihnen ihre weißen Schwingen glaubt und es natürlich findet, wenn sie durch den Äther fliegen. Sie sind nicht von grobem Erdenstoff wie wir, sie sind leichte, duftige Wesen, die uns nur in Menschengestalt erscheinen, damit uns ihr himmlischer Lichtglanz nicht erblinden mache. Sie sind viel leichter als die Erdenluft, auf der sie schweben mit jener Sicherheit, mit der man im Traume fliegt, weil man es für ganz in der Ordnung hält. Auch der Goldgrund, auf dem sie gemalt sind, steht ihnen vortrefflich an. Es ist die Lichtregion, der sie entstammen, und man wird wieder ein frommes, gläubiges Kind, wenn man diese Engelchen Fiesoles betrachtet, die mit ihren Zimbeln, Posaunen und Harfen die Sphärenmusik machen zu dem Halleluja der lobsingenden Cherubim. An einer Wand der kleinen Kapelle ist eine… [...]
Wollte eine Familie sich einen durchaus angenehmen Aufenthalt wählen, so riete ich ihr zu Florenz; denn Florenz gewährt jedem Wunsche nach Lebensbehagen, nach bürgerlicher Ruhe, nach geregelten Verhältnissen und jedem Streben nach höchster, künstlerischer Befriedigung ein volles Genügen. Man muß sehr glücklich sein können in Florenz. Fragt mich aber jemand, wo er den wilden, phantasievollen Träumen der Jugend, dem heißen, sprudelnden Lebensübermute ein weites Feld zu elastischen Sprüngen eröffnen könne; fragte mich jemand, wo er leben solle, während das Jugendfeuer noch in seinen Adern bebt und sich sehnt nach Lust, Freude und feurigem Leben, dann sage ich ihm: »Gehe nach Genua, freue dich an dem frischen, unermüdlichen Treiben der Menschen, an der südlichen Pracht der Riviera, an den Gesängen und Mandolinen des Volkes, und wenn du glühst vor Daseinsfreude, dann tauche unter in die kühlen Wellen des blauen Meeres, wenn die Sonne sinkt, und freue dich des Bewußtseins, daß sie wieder aufgehen wird, dir noch viele Tage kräftiger Jugend goldig und warm zu beleuchten.«
(Fanny Lewald: Florenz)