Schloß Nevershuus lag grau und schwerfällig unter hohen Bäumen mit seinen breiten Seitenflügeln und dem viereckigen Turm, der kaum das Dach überragte. Aber von seiner Plattform aus konnte man weit über Meer und Heide sehen und auf die kleine Küstenstadt hinunter, die sich zwischen Deichen und grünen Wiesen hinzog.
In früheren Zeiten sollte es einmal irgendeiner schlimmen Fürstin als Witwensitz gedient haben – von daher stammten wohl die altersschwarzen Ölbilder droben im Rittersaal und allerhand Spukgeschichten, die immer noch im Volksmund fortlebten, obgleich das Gut jetzt schon lange im Besitz der Familie Olestjerne war und die gemalten Damen mit ihren feierlichen Mienen auf die Schicksale und das Treiben einer anderen Zeit herabsahen.
Es konnte immer noch einen melancholisch unheimlichen Eindruck machen, das alte Schloß, wenn die Herbststürme durch alle Kamine heulten wie geängstigte arme Seelen, oder wenn der Nebel vom Meer heraufstieg und alles in seine wogenden grauen Schleier einhüllte. Aber es hatte auch seinen Frühling und seinen Sommer, wo die Sonne alles Düstere aus den weiten hohen Räumen herausleuchtete, wo der reiche grüne Garten um die grauen Mauern blühte und drüben in der Ferne das Meer blau und schimmernd dalag.
Für die Bewohner von Nevershuus ging die schöne Jahreszeit ebenso still und gleichförmig hin wie der Winter. Der Gutsherr Christian Olestjerne war meist draußen im Felde oder auf der Jagd, und seine Frau saß mit ihrer ältesten Tochter am Steintisch unter den Buchen, wenn sie nicht in Küche und Vorratskammer zu tun hatten. [...]
8. März, nachmittags
Eben komme ich von unsrer so schmählich zerrissenen Zusammenkunft im Dom zurück. Der Schrecken sitzt mir noch in allen Gliedern. Gott im Himmel, wenn mein Vater uns gesehen hätte – ich hätte mir auch denken können, daß er unserm Besuch die Kirchen zeigen würde. Und was der Kirchendiener wohl gedacht hat, als wir auf allen vieren zwischen den Bänken durchliefen. Es war eine gute Idee von Ihnen, denn sonst hätten sie uns sicher gesehen.
Aber es war doch schön, daß wir uns wenigstens so lange in Ruhe unterhalten konnten.
Glauben Sie nur nicht, daß ich Ihnen unsre häuslichen Verhältnisse übertrieben habe. – Seit wir hier sind, habe ich mit Mühe erreicht, daß ich den ganzen Tag in meinem Zimmer sein kann und nicht mehr nähen muß. Da habe ich mir mit einer spanischen Wand eine Art Atelier eingerichtet, wo ich male und modelliere. Aber es ist unmöglich, allein weiterzukommen – ich darf weder Modelle nehmen, noch mir Gipsabgüsse ausleihen. Meine Mutter findet, ich soll dann wenigstens »hübsche, brauchbare« Sachen – Geschenke, Porzellanteller usw. machen. Das fällt mir natürlich nicht ein, und so bleibt mir nichts übrig, wie meine alten Stiefel und ähnliches zu malen. Davon hab' ich schon eine ganze Galerie. – Ich weiß ganz gut, daß meine Mutter mich auf diese Weise zwingen will, nachzulassen. Aber ich lasse nicht nach.
Es ist überhaupt ein fortwährender Krieg. »Jedermanns Hand wider jedermann.«
Mit meinem Vater kann ich auch zu keinem Verständnis mehr kommen, er hat sich in letzter Zeit mehr um mich gekümmert, aber es ist doch zu spät. Ich kann mich nicht freundlich mit ihnen stellen, wenn ich sie zugleich fortwährend hintergehen muß. Und das wieder muß ich, um zu meinem Lebensrecht zu gelangen. Ein ehrlicher, offener Kampf würde mir gar nichts nützen, sie sperren mich dann höchstens noch mehr ein.
Und was das Leben so schön macht, kann nicht schlecht sein. Wo bliebe dann die Wahrheit? In all dieser verschrobenen Sittlichkeit und Moral ist ja doch kein Funke davon.
Ich lese jetzt gerade »Die Frau« von Bebel und Lassalles »Leben«. [...]
Kais Krankheit dauerte sehr lange, und selbst die Kleinen fühlten die trübe, lastende Stimmung, die über dem ganzen Hause lag. Sie suchten sich alles mögliche auszudenken, was ihm Freude machte, denn sie hatten ihn alle sehr lieb.
Kai wollte Naturforscher werden, sein ganzes Zimmer war voll von Steinen, Schmetterlingen, ausgestopften Vögeln, und hinten im Garten stand ein verdorrter Baum, wo er tote Tiere für seine Skelettsammlung aufhängte. Was die Geschwister jetzt an verendeten Katzen, ertränkten jungen Hunden und anderem Getier fanden, kam an den Baum, und sie freuten sich heimlich auf die Überraschung, wenn er wieder aufstand.
Aber Kai stand nicht wieder auf – die Großen wußten es schon lange, daß er sterben mußte. Mama war blaß, sie hatte tiefe Ringe um die Augen und schalt nicht mehr so viel, und der Vater sprach kaum ein Wort.
Eines Vormittags spielten die beiden Jüngsten im Garten. Seit dem Frühstück hatten sie niemand von den anderen gesehen, und unten im Schloß war alles still.
Gegen Mittag kam Erik aus dem Haus, er setzte sich auf die eiserne Treppe, und Ellen hörte, daß er laut weinte. Sie rannten zu ihm hin und quälten ihn mit Fragen, aber er schluchzte nur immer lauter.
»Kai ist tot!«
Tot – Ellen empfand nur einen furchtbaren Schrecken, ein Gefühl von kalter, beklemmender Angst, wie sie es noch nie am hellen Tage gehabt hatte. Sie klammerte sich fest an Erik und weinte entsetzt mit. Detlev wurde auch bange, er wußte nicht, was das alles bedeuten sollte, und rief laut nach Mama. Statt dessen kam die alte Stina heraus, ihr Gesicht war ganz verstört und zusammengefallen – die Kinder hatten sie noch nie in Tränen gesehen. [...]
August
Lange, lange nichts aufgeschrieben – daran kann ich selbst immer messen, ob mein Leben still und einsam gewesen ist, oder ob es mich mitgerissen und durchgeschüttelt hat.
Ich bin viel gesünder, seit ich draußen auf dem Lande bin, male den ganzen Tag. – Und doch denke ich immer wieder, daß ich nicht lange leben werde –, daß es mich doch wieder hinwerfen könnte und ich mich eilen müßte. Dann kommt ein förmliches Fieber über mich, ich möchte in jeden Tag hineindrängen, was er nur fassen kann, an heißer Arbeit und heißem Leben.
Wenn ich mein Tagebuch lese – das klingt alles so, als ob ich immer in tiefer Melancholie herumginge und der dunkle Hintergrund nie ganz wiche. Und dabei gibt es keinen Menschen, der so viel lacht wie ich – niemand glaubt, daß ich auch nur einen Tag ernst oder traurig sein könnte, oder daß mir irgend etwas tief geht. Ich begreife es ja auch selbst manchmal nicht völlig, daß ich immer noch ganz dieselbe bin. Aber immer noch könnte ich für einen Moment der Freude meine ewige Seligkeit verkaufen. – Ich könnte es nicht nur, ich tue es auch.
Seit Johnny fortging, ist es fast wie das Leben im herumziehenden Zigeunerwagen, das ich mir als Kind träumte – von einem Ort zum andern und über dem Hier das Dort vergessen. Nur immer weiter, nicht rückwärts sehen und nicht vorwärts, den Zufall als Gott anbeten und ihm opfern. [...]
September – –
Mein Kind – nun ist es aus seinem langen, dunklen Schlaf erwacht, Tag und Nacht liegt es neben mir – Tag und Nacht scheint jetzt die Sonne, und die letzte Finsternis ist hell geworden – die Welt steht still um uns beide, wie ein Tempel, in dem alle Offenbarungen tönen.
Mein Kind – mein schwererkämpftes – nach all dem stillen, frohen Warten noch einmal hinunter in den allertiefsten Abgrund – durch Martern hindurch, wie sie kein Traum zu ersinnen vermag, die alles hinweglöschen, was noch leben will an Furcht und hoffender Erwartung, alles verstummen machen vor dem einen schaudernden Aufschrei, daß solches Entsetzen möglich ist.
Und dann der lichte Morgen, die hellen strahlenden Stunden, wo das Leben in seine Bahnen zurückflutete –, und wo ich zu fassen begann, daß ein Märchenwunder Wirklichkeit geworden war – das Märchenwunder, das neben mir in weißen Kissen lag und mich aus weiten, dunklen Augen ansah. – Mein Kind – was frage ich jetzt noch, ob es schwer erkämpft war –, mein Kind soll zur Freude geboren sein, nicht die verblaßten Spuren tragen von dem, was ich gelitten habe, und was jetzt mir selber Freude und Reichtum geworden ist. Mein Weg war wohl oft dunkel und blutig, ich habe den Tod von Angesicht zu Angesicht gesehen und seinen Blick gefühlt, den Wahnsinn und die letzte Verzweiflung – nun sehe ich dem Leben ins Auge und bete es an, weil ich weiß, daß es heilig ist. Es hat mich all seinen Reichtum gelehrt an Leiden und Lust – ich liebe alle die Schmerzen, die es mir angetan hat, und all die Opferwunden, die es schlug – ich liebe auch die Verlassenheit und die Not, die vor unserer Tür steht. – Wie konnten wir je Feinde sein? Mag es jetzt geben oder nehmen – ich sehe ihm ins Auge, und wir lächeln beide.
(Franziska zu Reventlow: Ellen Olestjerne)Fanny zu Reventlow:
"[...] Während Reventlows eigentliche künstlerische Ambitionen in der Malerei zu keinem nennenswerten Œuvre geführt haben, hat sie durch ihre schriftstellerischen Nebentätigkeiten ein einzigartiges Beispiel humoristisch-satirischer Literatur und ein wertvolles kulturgeschichtliches Zeugnis der Schwabinger Bohème hinterlassen. Ihre Romane und Novellen werden bis heute verlegt und gelesen.
Ihr autobiografischer Erstlingsroman Ellen Olestjerne (1903) kann noch als Bekenntnis- und Selbstfindungsbuch nach einem typischen Muster der Zeit (vgl. etwa Gabriele Reuters Aus guter Familie von 1895) gelten. Sie schrieb ihn auf Anregung (und fast möchte man sagen: unter Aufsicht) von Ludwig Klages als eine Art Eintrittskarte in den Kreis der „Befreiten“ (wie man die Bohémiens in München damals nannte) und verwendete dabei authentische Tagebucheinträge und den Liebesbriefwechsel mit Fehling aus ihrer Jugend in Lübeck. Später distanzierte sie sich allerdings von ihrem Erstlingswerk – und schon 1904 auch vom Kosmiker-Kreis in ihrem Schwabinger Beobachter.