25 Mai 2020

Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen (Erinnerungen1914-33)

Rezensionen bei Perlentaucher

"Es war eigentlich nichts Neues an der Abwertung der Mark. Schon 1920 hatte die erste Zigarette, die ich heimlich geraucht hatte habe, fünfzig Pfennig gekostet. Bis Ende 1922 hatten sich die Preise allmählich auf das Zehn- bis Hundertfache des Vorkriegsniveaus erhöht, und der Dollar stand bei etwa 500 Mark. Dies hat sich jedoch allmählich ereignet: Löhne, Gehälter und Preise hatten sich im großen und ganzen gleichmäßig erhöht. [...] Aber nun wurde die Mark verrückt. Schon bald nach dem Ruhrkrieg schoss der Dollar auf 20.000, hielt eine Weile an, kletterte auf 40.000, zögerte kurze Zeit, und fing dann an mit kleinen periodischen Schwankungen stoßweise die Zehntausende und Hunderttausende abzuleiern. Keiner wusste genau, wie es geschah. Wir folgen wir folgten augenreibend dem Vorgang, als ob es sich um ein/ Naturphänomen handelte. Der Dollar wurde Tagesthema, und dann plötzlich sahen wir uns um und erkannten, dass das Ereignis unser Alltagsleben zerstört hatte. (S.56/57)
Wer ein Sparkonto, eine Hypothek oder sonst eine Geldanlage besaß, sah es über Nacht verschwinden. Bald machte es nichts aus, ob es sich um einen Spargroschen oder ein großes Vermögen handelte. Alles wurde ausgelöscht. Viele Leute wechselten schnell ihre Anlagen, nur um zu sehen, dass es überhaupt nichts ausmachte. [...] 
Die Lebenshaltungskosten hatten angefangen davon zu jagen, denn die Händler folgten dem Dollar dicht auf den Fersen. Ein Pfund Kartoffeln, das noch am Vortage 50.000 Mark gekostet hatte, kostete heute schon 100.000; ein Gehalt von 65.000 Mark, dass man am vorigen Freitag nach Hause gebracht hatte, reichte am Dienstag nicht aus, um ein Paket Zigaretten zu kaufen.
Was sollte geschehen? Plötzlich entdeckten Leute eine Insel der Sicherheit: Aktien. Das war die einzige Form der Geldanlage, die irgendwie der Geschwindigkeit standhielt.[...] Unbekannte neue Banken schossen wie Pilze aus dem Boden und machten ein reißendes Geschäft. Täglich verschlang die ganze Bevölkerung den Börsenbericht. Manchmal stürzten einige der Aktien, und mit ihnen stürzten Tausende schreiend dem (S.57/58) Abgrund entgegen. [...]
Den Alten und Weltfremden ginge es am schlechtesten. Viele wurden zum Betteln getrieben, viele zum Selbstmord. Den Jungen, Flinken ging es gut. Über Nacht wurden sie frei, reich unabhängig. Es war eine Lage, in der Geistesträgheit und Verlass auf frühere Erfahrung mit Hunger und Tod bestraft, aber Impulshandeln und schnelles Erfassen einer neuen Lage mit plötzlichem ungeheuren Reichtum belohnt wurde. Der einundzwanzigjährige Bankdirektor trat auf, wie auch der Primaner, der sich an die Börsenratschläge seiner etwas älteren Freunde hielt. [...] die Jungen, die in jenen (S.58/59) Tagen lieben lernten, übersprangen die Romantik und umarmten den Zynismus. Ich selber und meine Zeitgenossen gehörten nicht dazu. Wir waren mit fünfzehn, sechzehn gerade zwei, drei Jahre zu jung. In den folgenden Jahren, als wir die Rolle des Liebhabers mit rund zwanzig Mark Taschengeld spielen mussten, haben wir oft insgeheim die älteren Jungen beneidet, die damals ihre Chance gehabt hatten. Wir hatten gerade einen flüchtigen Blick durchs Schlüsselloch getan, gerade genug um den Duft der Zeit für immer in der Nase zu behalten. Zu einem Fest mitgenommen zu werden, wo Verrücktes sich ereignen musste; ein frühreifes, ermüdendes Sichgehenlassen, und ein kleiner Kater von zu vielen Cocktails; all die Geschichten der älteren Jungen, deren Gesichter seltsam ihre ausschweifenden Nächte verrieten; der plötzliche, entzückende Kuss eines gewagt geschminkten Mädchens.
Es gab eine andere Seite des Bildes. Die Bettler häuften sich mit einem Mal; auch die Berichte über Selbstmorde in den Zeitungen, und die "Gesucht wegen Einbruch"-Anzeigen der Polizei auf den Litfaßsäulen, denn Raub und Diebstahl fanden überall in großem Maße statt. [...]
Ja, mein Vater war einer von denen, die die Zeit nicht verstanden, oder nicht verstehen wollten, wie er sich schon geweigert hatte, den Krieg zu verstehen. Er begrub sich hinter dem Leitspruch "Ein preußischer Beamter spekuliert nicht und kauft keine Aktien." Damals hielt ich das für ein außerordentliches Beispiel von Engstirnigkeit, das schlecht zu seinem Charakter passte, denn er war einer der (S.59/60) klügsten Männer, die ich gekannt habe. Heute verstehe ich ihn besser. Rückblickend kann ich ein bisschen den Ekel nachempfinden, mit dem er diese Ungeheuerlichkeit ablehnte und die ungeduldige Abscheu, die sich hinter der Plattitüde, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, verbarg. [...] Und die Posse hätte zur Tragödie werden können, wenn sich meine Mutter nicht auf ihre Art der Lage angepasst hätte. [...] (S.60/61)
Für meine Eltern muss dies eine böse und schwere Zeit gewesen sein. Für mich war sie seltsam eher als unangenehm. Die Tatsache, dass mein Vater zur Arbeit einen überaus umständlichen Umweg nehmen musste, hielt ihn den größten Teil des Tages von Zuhause fern, und gab mir dadurch viele unbeaufsichtigte Stunden der absoluten Freiheit. Ich hatte kein Taschengeld mehr, aber Meine älteren Schulgenossen waren buchstäblich reich, und man raubt Ihnen nichts, in dem man sich zu ihren verrückten festen einladen ließ. Ich schaffte es, eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber unserer Armut zu Hause und dem Reichtum meiner Freunde zu bewahren. (Seite 61)

"Ich habe es aber hier mit einem anderen, vielleicht noch interessanteren, wichtigeren und komplizierteren Vorgang ähnlicher Art zu tun: nämlich mit denjenigen seelischen Bewegungen, Reaktionen und Verwandlungen, die in ihrer Simultanität und Massierung das Dritte Reich Hitlers erst möglich gemacht haben, und die heute seinen unsichtbaren Hintergrund bilden.
In der Entstehungsgeschichte des Dritten Reiches gibt es ein ungelöstes Rätsel, das, wie mir scheint, noch interessanter ist, als die Frage, wer den Reichstag angezündet hat. (S.184/85)
Das ist die Frage: wo sind eigentlich die Deutschen geblieben? Noch am 5. März 1933 hat die Mehrheit von Ihnen gegen Hitler gewählt. Was ist aus dieser Mehrheit geworden? Ist sie gestorben? Vom Erdboden verschwunden? Oder, so spät noch, Nazi geworden? Wie konnte es kommen, dass jede merkliche Reaktion von ihrer Seite ausblieb?
Fast jeder meiner Leser wird, von früher her, den einen oder anderen Deutschen kennen, und die meisten werden finden, dass ihre deutschen Bekannten normale, freundliche, zivilisierte Leute sind, Menschen wie jeder andere – abgesehen von ein paar nationalen Eigentümlichkeiten, wie sie auch jeder andere hat. Fast jeder wird, wenn er die reden hört, die heute in Deutschland heraustönen (und die Taten wahrnehmen, die heute aus Deutschland herausduften),  an diese seine Bekannten denken und entgeistert fragen: Was ist mit Ihnen? Gehören Sie wirklich zu diesem Irrenhaus? Merken Sie nicht, was mit ihnen geschieht – und was in ihrem Namen geschieht? Billigen sie es etwa gar? Was sind das für Leute? Was sollen wir von Ihnen halten?
Tatsächlich stecken hinter diesen Unerklärlichkeiten sonderbare seelische Vorgänge und Erfahrungen – höchst seltsame, höchst enthüllende Vorgänge, deren historische Auswirkungen noch nicht abzusehen sind. Mit ihnen habe ich es zu tun. Man kommt ihnen nicht bei, ohne sie dorthin zu verfolgen wo sie sich abspielen: im privaten Leben, Fühlen und Denken der einzelnen Deutschen.[... S.186:...]
Was einer isst und trinkt, wenn er liebt, was er in seiner Freizeit tut, mit wem er sich unterhält, ob er lächelt oder finster aussieht, was er liest und was er sich für Bilder an die Wand hängt – das ist heute die Form, in der in Deutschland politisch gekämpft wird. Das ist das Feld, wo im voraus die Schlachten des künftigen Weltkriegs entschieden werden. Es mag grotesk klingen, aber es ist so. [186-198]

Die Lage der nichtnazistischen Deutschen im Sommer 1933 war gewiss eine der schwierigsten, in der sich Menschen befinden können: nämlich ein Zustand völligen und ausweglosen Überwältigtseins, zusammen mit den Nachwirkungen des Schocks der äußersten Überrumplung. Die Nazis hatten uns, auf Gnade und Ungnade in der Hand. Alle Festungen waren gefallen, jeder kollektive Widerstand war unmöglich geworden, individueller Widerstand nur noch eine Form des Selbstmordes. Wir waren verfolgt bis in die Schlupfwinkel unseres Privatlebens, auf allen Lebensgebieten herrschte Deroute, eine aufgelöste Flucht, von der man nicht wusste, wo sie enden würde. Zugleich wurde man täglich aufgefordert: nicht, sich zu ergeben, sondern überzulaufen. Ein kleiner Pakt mit dem Teufel – und man gehörte nicht mehr zu den Gefangenen und Gejagten, sondern zu den Siegern und Verfolgern.
Das war die einfachste und gröbste Versuchung. Viele erlagen ihr. Später zeigte sich dann oft, dass sie den Kaufpreis unterschätzt hatten und dass sie dem wirklichen Nazisein nicht gewachsen waren. Sie laufen heute [Es ist eine Zeit vor dem Herbst 1939 (Angriff auf Polen), als Haffner das Manuskript beiseite legte, bis es 2002 wiedergefunden und vervollständigt werden konnte.] zu vielen Tausenden in Deutschland herum, die Nazis mit dem schlechten Gewissen, Leute die an ihren Parteiabzeichen tragen wie Macbeth an seinem Königspurpur, die mitgefangen, mitgehangen, eine Gewissenslast nach der anderen schultern müssen, vergeblich nach Absprungsmöglichkeiten spähen, trinken und Schlafmittel nehmen, nicht mehr nach zu denken wagen, nicht mehr wissen, ob sie das Ende der Nazizeit– Ihrer eigenen Zeit! – mehr herbeisehnen oder mehr fürchten sollen, und die, wenn der Tag kommt, ganz bestimmt es nicht werden gewesen sein wollen. Inzwischen aber sind Sie der Albdruck der Welt [...] 
Aber die Situation von 1933 barg noch viele andere Versuchungen neben dieser gröbsten; jeder einzelne eine Quelle des Wahnsinns und der seelischen Erkrankung, für den, der ihr erlag. Der Teufel hat viele Netze: grobe für die groben Seelen, feine für die feinern. (S.198/99)
Wer sich weigerte, Nazi zu werden, hatte eine böse Situation vor sich: völlige und aussichtslose Trostlosigkeit; wehrloses Hinnehmen täglicher Beleidigungen und Demütigungen; hilfloses Mitansehen des Unerträglichen; vollkommene Heimatlosigkeit; unqualifiziertes Leiden. Diese Situation hat wieder ihre eigenen Versuchung: scheinbare Trost- und Erleichterungsmittel, die den Widerhaken des Teufels bergen.
Das eine, bevorzugt von Älteren, war die Flucht in die Illusion: am liebsten in die Illusion der Überlegenheit. Die ihr erlagen, klammerten sich an die Züge von Dilettantismus und Anfängerhaftigkeit, die der narzisstischen Staatskunst gewiß zunächst anhafteten. [...]
Es waren die Leute, die zunächst in völliger ruhiger Überzeugtheit, später mit allen Anzeichen der bewußten krampfhaften Selbsttäuschung, von Monat zu Monat das unvermeidliche Ende des Regimes voraussagten. Das Schlimmste kam für sie erst, als das Regime sich sichtbar konsolidierte und als die Erfolge kamen: Hiergegen waren sie nicht gewappnet. [...]
Ein paar von ihnen halten noch heute die Fahne hoch und lassen nach allen Niederlagen nicht ab, von Monat zu Monat oder wenigstens von Jahr zu Jahr den unvermeidlichen Zusammenbruch zu prophezeien. [...]
Die zweite Gefahr war Verbitterung – masochistische Selbstauslieferung an Haß, Leiden und schrankenlosen Pessimismus. Es ist fast die natürlichste deutsche Reaktion auf Niederlagen. Jeder Deutsche hat in bösen Stunden (seines Privatlebens – oder des nationalen Lebens) mit dieser Versuchung zu kämpfen: ganz und für immer aufzugeben, und sich und die Welt mit einer erschlafften Gleichgültigkeit, die an Bereitwilligkeit grenzt, dem Teufel anheimzustellen; trotzig und böse moralischen Selbstmord zu begehen. [...] (S.199-201)
Noch von einer dritten Versuchung muß ich sprechen. Es ist die, mit der ich selber zu tun hatte, und wiederum ganz und gar nicht als Vereinzelter. Ihr Ausgangspunkt ist gerade die Erkenntnis der vorigen: man will sich nicht durch Haß und Leiden seelisch korrumpieren, man will gutartig, friedlich, freundlich, "nett" bleiben. Wie aber Hass und Leiden vermeiden, wenn täglich, täglich das auf einen einstürmt, was Haß und Leiden verursacht? Es geht nur mit Ignorieren, Wegsehen, Wachs in die Ohren tun, Sich-Abkapseln. Und es führt zur Verhärtung  aus Weichheit und schließlich wieder zu einer Form des Wahnsinns: zum Realitätsverlust.
Sprechen wir einfachheitshalber von mir, aber vergessen wir nicht, daß mein Fall wiederum durch aus mit einem sechs- oder siebenstelligen Multiplikator zu multiplizieren ist.
Ich habe kein Talent zum Haß. Ich habe immer zu wissen geglaubt, dass man schon durch ein tiefes Sich-Einlassen in Polemik, Streiten mit Unbelehrbaren, Haß auf das häßliche etwas in sich selbst zerstört – etwas, das wert zu erhalten und schwer wiederherzustellen ist. Meine natürliche Geste der Ablehnung ist Abwendung, nicht Angriff. [...] (S.203)


Nach einer Hitler Rede S. 263:

"Als er ausgeredet hatte, kam das Schlimmste. Die Musik signalisierte: Deutschland über alles, und alles hob die Arme. Ein paar mochten, gleich mir, zögern. Es hatte so etwas scheußlich Entwürdigendes. Aber wollten wir unser Examen machen oder nicht? Ich hatte, zum ersten Mal, plötzlich ein Gefühl so stark wie ein Geschmack im Munde – das Gefühl: "Es zählt ja nicht. Ich bin es ja gar nicht, es gilt nicht." Und mit diesem Gefühl hob auch ich den Arm und hielt ihn ausgestreckt in der Luft, ungefähr drei Minuten lang. So lange dauern das Deutschland- und Horst-Wessel-Lied. Die meisten sangen mit, zackig und dröhnend. Ich bewegte ein wenig die Lippen und markierte Gesang, wie man es in der Kirche beim Choralsingen tut.
Aber die Arme hatten alle in der Luft, Und so standen wir vor dem augenlosen Radioapparat, der nur die Arme hochzug wie ein Puppenspieler die Arme seiner Marionetten, und sangen oder taten so, als ob wir sangen; jeder die Gestapo des andern. 

(Sebastian Haffner Geschichte eines Deutschen, Kapitel 36, Seite 263)

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