25 Oktober 2021

Stefan Zweig: Jeremias Gotthelf und Jean Paul

 Angesichts der Neuausgab der Werke von einerseits Gottheld und andererseits Jean Paul reflektiert Zweig:

Und nun, da sie uns, die beiden Vergessenen, wiedergegeben sind, sei die Frage versucht, erstlich warum sie einmal so lange und so tief verloren und vergessen gehen konnten, und zum zweiten, ob sie und wieviel sie nach unserem gegenwärtigen Gefühl noch bedeuten. [...] 

Die erste Frage, warum die beiden so lang und so tief vergessen waren, läßt sich gemeinsam beantworten: sie waren beide zu umständlich, zu breit, zu abschweiferisch für das Jahrhundert geworden. Sie schrieben im Postkutschentempo und spannen die Erzählung wie einen Spinnrocken, und das vertrug die Epoche der Eisenbahnen und mechanischen Webstühle nicht mehr. Sie hatten Zeit in ihrem Abseits, in ihrem kleinen Dörfchen, der Pfarrer Bitzius und der emsige Skribent Jean Paul Richter, sie setzten sich jeden Morgen, wenn die Hähne krähten, vor ihren Tisch und schrieben Bogen um Bogen voll, und die Menschen, die ihnen zuhörten, waren kleine Leute, die Zeit hatten: sentimentale Mädchen bei Jean Paul und Geistliche und Bauern bei Jeremias Gotthelf, die abends beim Kienlicht diese Erzählungen langsam und geduldig lasen, wie den Bauernkalender und die Postille. Dann aber begann die Zeit rascher zu kreisen, die Menschen Bedürfnisse zu haben nach stärkeren Spannungen, drastischeren Geschehnissen. Den Weltmenschen vergnügungssüchtigeren Sinnes waren die engen Milieus, die moralischen Erörterungen des Pfarrers und Dorfträumers nicht mehr genug, und so verstaubten allmählich die einst so zerlesenen Bände in den Schränken der alten Leute, und die junge Generation schlug sie nicht mehr auf. [...]

da die beiden Werke so ziemlich vollzählig vorliegen, kann man die zweite Frage wagen, was von diesen beiden Werken, von diesen beiden sonderbaren und großen Dichtern unsere Welt denn noch wirklich zu werten vermag.

Hier aber gabelt sich (wenigstens bei mir) die Empfindung, und man kann diese beiden Dichter gleichen Schicksals nicht mehr einhellig, sondern eher im Gegensatz behandeln. Ich gestehe offen, und gegen viele laute (und vielleicht nicht immer ehrliche) Bewunderung, daß ich von Jean Paul kaum mehr als je drei oder vier Seiten hintereinander zu lesen vermag, so restlos ich sonst seine ganz einzige Sprachvielfältigkeit, seinen krausen Einfall und seine sinnreiche Behendigkeit bewundere. [...] Das gewaltsam Schrullige, das unablässig Hyperbolische, das Spielerische und Verspielte seiner krausen, beständig irrlichternden und nie klar bildenden Phantasie verdirbt mir die Fähigkeit der Einfügung, ja sogar die Fähigkeit des bloßen zu Ende-Lesens [...] Ein paar einzelne Seiten bedeuten mir jedesmal unerhörten Genuß, führen mich gleichsam in eine neue Welt der Sprache, in eine heitere Sphäre der Betrachtung, wo sich die Welt aus Chaos oder Geschäften in ein behaglich katzenhaftes, schnurrendes Spiel verwandelt, ich genieße mit innigster Freude die naive ebenso wie die wissende Romantik mancher Szenen und den skurrilen Humor der ›Badereise‹ – aber doch, diese kleinen Stimmungen, so sehr sie befeuern, ermüden, wenn man sie zu einer regelrechten Lektüre dehnen will [...] Ich bin immer umgekehrt vor dem Ende, niemals enttäuscht und immer wieder zufrieden, einen kleinen Spaziergang im Ziergarten Jean Pauls zu tun, aber im ganzen finde ich ihn doch nicht als Welt von unserer Welt, mein Gefühl weicht ab von seinen weiblichen Sentimenten, und ich verstehe, daß diese überschwengliche Seele trotz ihrer Fülle niemals mehr die unsere in Schwung versetzen kann. [...]

Ganz anders dagegen, urmächtig und gewaltig, eine unbekannte riesenhafte Kraft, erhebt sich Gotthelf vor uns, ein mächtiges Schweizer Gebirge, das nun, da die Nebel von ihm gesunken sind, die anmutige und bezaubernde Höhe Gottfried Kellers in vielem überragt. Gotthelf hat den Genius des unbestechlichen Blickes. Er sieht klar in Menschen und Dinge hinein, mit mehr durchdringendem als sentimentalischem Auge. Er hat eine ungeheuere Kenntnis des Lebens, sowohl der Natur als des menschlichen Betriebes und seiner geheimsten Innenwelt der Seele. Er hat die Gabe der Plastik, das saftige sinnliche Wort, das nicht Unzucht mit der Literatur getrieben hat, sondern gesund genährt vom schweizerischen Volksklang, strotzend und saftig aufgewachsen ist. Er hat alle Vorzüge eines großen epischen Erzählers und dazu noch die sittliche Reinheit eines entschiedenen Charakters, der mit seinem Werke nicht nur Zeitungsblätter füllen, sondern eine Jugend bessern, eine Zeit aus ihrer moralischen Verworrenheit herausheben wollte. [...]  Nur scheinbar fehlt es seinen Romanen an Weltweite, wenn sie auch von den großen Schweizer Bergen umgrenzt sind, aber in diesen engen Tälern ist ein unendlicher Reichtum, eine unsagbare Vielfältigkeit von Charakteren und Begebenheiten, eine kulturhistorische unvergleichliche Fülle von Details des bäuerlichen und bürgerlichen Lebens, die sie schon rein dokumentarisch für alle Zeiten unentbehrlich macht. Auch er, Gotthelf, läßt sich ebenso wie Jean Paul nicht in einem Zuge durchlesen, auch er müdet stellenweise durch Breite, durch Predigereinschuß und politische Diskussionen, auch von ihm muß ich bekennen, nicht gleich auf einen Hieb alle seine Romane gelesen zu haben, aber den vieren oder fünfen danke ich seltensten Genuß und den Eindruck mächtigster Persönlichkeit. Kaum an irgendeinem deutschen Gestalter (außer Stifter) hat die immer zu sehr nach Norddeutschland orientierte Literaturgeschichte der letzten Jahrzehnte so sehr Unrecht getan, als an dem Pfarrer von Lützelflüh [...]"


Zweigs Charakteristik des Leseerlebnisses von Jean Paul kann ich sehr gut nachvollziehen, auch wenn oder gerade weil ich einige seiner Romane durchgelesen habe. Gotthelf habe ich wohl zu früh zu lesen versucht. Bei ihm kann ich Zweigs Urteil nicht folgen. "auch er müdet", da stimme ich zu - natürlich mit Ausnahme der Schwarzen Spinne, nachdem sie einmal Fahrt aufgenommen hat -, aber den 'unendliche[n] Reichtum, [s]eine unsagbare Vielfältigkeit von Charakteren und Begebenheiten', die wollte ich und will ich selbst jetzt noch nicht wirklich kennen lernen. Ob sich das aufgrund dieser Rezension noch ändert??

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