22 Oktober 2021

Wolf Biermann im Interview

Wolf Biermann: „Melancholie ist meine Hoffnung“ von Cornelia Geißler

Herr Biermann, in Ihrem neuen Buch setzen Sie sich nach Themenkreisen geordnet mit Gott und Religion auseinander. Warum? 
Biermann: "Das Buch ist eine Sammlung von alten und neuen Gedichten und Prosatexten, unterteilt in verschiedene Kapitel wie „Melancholie, meine Hoffnung“, „All meine Gläubigkeit“, „Meine Jüdischkajten“ oder ein Text über Johann Sebastian Bachs Kantate: „Ich hatte viel Bekümmernis“. Ich erzähle über meinen Glauben, der noch verrückter ist als der christliche, jüdische oder muslimische, denn ich glaube nicht an einen Gott, sondern an den Menschen. Dafür gibt es wahrhaft noch weniger gute Gründe." 

Biermann: "Als Ungläubiger in einer christlich, jüdischen, muslimischen Gesellschaft führe ich einen lebenslangen Disput mit Gott, an den ich nicht glaube. In Ostberlin besuchte mich in der Chausseestraße eine Gruppe junger Theologen aus dem Westen. Einer schleimte aufgeklärt: „Also Wolf, das mit der Auferstehung, das ist natürlich Blödsinn!“ Dem musste ich heftig widersprechen, denn grade die Auferstehung halte ich für das Bedeutendste an dieser Schwindelstory vom Wanderrabbi Jesus Christus. Wie es in meinem Gedicht heißt: „Es gibt noch Gedichte nach Auschwitz. Und/ Es gibt sogar lustige Lieder. Wir/ Sind eben so. Wir gehn ganz und gar Zugrund./ Und erheben uns wieder.“ Mein Vater ist in meinen Liedern und Gedichten wiederauferstanden und so lebt er etwas länger." 

 Sie treten dort in einer Kirche auf mit „Mensch Gott!“. Werden Sie nun neu einsortiert?

 Das ist nicht nötig. Ich bin immer auch in Kirchen aufgetreten und habe gelegentlich sogar in der DDR für Christen gesungen. Im Prager Frühling 1968 lockte mich der Pastor Karl Kleinschmidt zu einem Konzert für seine Kirche. Ihn und seine Glaubensbrüder und             -schwestern begriff ich als meine Verbündeten. Kurz vor meiner Ausbürgerung sang ich, der total Verbotene, sogar unangemeldet in der Nikolaikirche in Prenzlau. Das war ein gelungener Coup des Jugendpfarrers dort. Unser gemeinsamer Nenner könnte mein Lied „Melancholie“ sein. Ich liebe die Melancholie, mit der ich gegen faule Traurigkeiten ankämpfe. Melancholie ist meine Hoffnung. Auch darüber habe ich im Buch geschrieben.

 Wer ist eigentlich das Bodenpersonal Christi, von dem Sie immer wieder schreiben? 

Das sind die, die davon leben, dass sie Gott den Haushalt führen. Einer von diesem Bodenpersonal, ein Pastor aus Naumburg, hat mir die Idee für den Buchtitel „Mensch Gott!“ geliefert. Er fand, ich hätte in der Ballade „Großes Gebet der alten Kommunistin Oma Meume in Hamburg“ so etwas wie Einsteins Formel gefunden für den Glauben in dieser Zeit: „Mensch, Gott! Wär uns bloß der erspart geblieb’n/ Der Stalin, meint’wegen durch ein Attentat“.  [...] Das Wort „Mensch Gott!“ ist eine ideale Kurzfassung der kompliziertesten Religionsdispute. Es sind Gedichte aus vielen Jahren mit persönlichen Texten dazwischen. Ist es als ein Lesebuch gedacht?  Dazu liefere ich Ihnen für Ihre Leser ein treffendes Wort: „Freiheit ist die einzige Ware auf der Welt, deren Preis sinkt, wenn die Nachfrage steigt.“

 (Interview: Cornelia Geißler)

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