16 Januar 2022

Max Havelaar (Kapitel 4)

Kurzinhalt:  Herr Batavus Droogstoppel findet in dem Paket des Shawlmanns allerlei, was für den Kaffeehandel von Belang ist. Er entschließt sich, »sein Buch« zu schreiben, und schließt zu diesem Zwecke mit Stern einen Vertrag. Sein Besuch bei einer unzufriedenen Familie. 

[...] Ich wollte nicht, daß Fritz bemerkte, daß mich das Paket zu interessieren begann, weshalb ich ihn wegschickte. Mir wurde tatsächlich schwindlig, wie ich so ein Bündel nach dem anderen nahm und die Aufschriften las. Es ist wahr, es waren viel Verse darunter, aber ich fand auch viel Nützliches, und ich war erstaunt über die Verschiedenheit der behandelten Gegenstände. Ich gebe zu, – denn ich halte auf Wahrheit, – daß ich, der ich stets in Kaffee gehandelt habe, nicht imstande war, alles nach seinem Wert zu beurteilen, aber, selbst ohne diese Beurteilung, waren die Aufschriften allein schon seltsam genug. Da ich Euch die Geschichte von dem Griechen erzählt habe, wißt Ihr schon, daß ich in meiner Jugend etwas Latein getrieben habe, und wie sehr ich mich auch in meiner Korrespondenz aller Zitate enthalten, – die ja in einem Makler-Kontor durchaus nicht am Platze wären, – fiel mir doch beim Lesen von all diesen Sachen ein: multa, non multum Wörtlich: Vieles, nicht vielerlei., oder: de omnibus aliquid, de toto nihil Von allem etwas, doch nichts ganzes.. Aber das geschah eigentlich nur aus einem kleinen Anfall von Bosheit heraus, und um das gelehrte Zeug, das da vor mir lag, lateinisch anzusprechen, als daß ich es in Wirklichkeit so meinte. Denn sowie ich mich mit dem einen oder anderen Stück etwas eingehender beschäftigte, mußte ich erkennen, daß der Schreiber über seine Sache Bescheid zu wissen schien, und daß seine Angaben und Meinungen solid und zuverlässig begründet waren. 

Ich fand da folgende Abhandlungen und Aufsätze:

[Die Liste ist gekürzt, nur die Titel, die der Erzähler kommentiert, sind mehr oder minder vollständig aufgenommen.

[...] Über den Rückgang der Zivilisation seit der Entstehung des Christentums. (Nanu?)!

 Über die Isländische Mythologie. Über Rousseaus » Emile«. Über die Zivilklage im Handelsrecht. Über den Sirius als Mittelpunkt eines Sonnensystems. 

Über Einfuhrzölle und ihre Unzweckmäßigkeit, ihr Unrecht und ihre Unsittlichkeit. (Das ist mir neu.) 

Über die Verse als älteste Sprache. (Das glaube ich nicht.) 

Über weiße Ameisen. Über das Widernatürliche von Schuleinrichtungen. 

Über die Prostitution in der Ehe. (Das ist ein schändliches Kapitel.) 

Über hydraulische Bewässerung im Zusammenhang mit den Reispflanzungen. Über das scheinbare Übergewicht der westlichen Zivilisation. Über Kataster, Registratur und Stempel. 

Über Bilderbücher, Fabeln und Sinnsprüche. (Das werde ich mal lesen, denn er dringt darin auf Wahrheit.) 

Über den Zwischenhandel. (Das gefällt mir ganz und gar nicht. Ich glaube, er will die Makler abschaffen. Aber ich habe es mir doch zur Seite gelegt, weil verschiedenes darin vorkommt, was ich für mein Buch gebrauchen kann.) 

Über das Erbrecht als bester Steuerquell. 

Über die Erfindung der Keuschheit. (Das ist mir unverständlich.) 

Über Vervielfältigung. (So einfach dieser Titel ist, ich habe tatsächlich eine Menge darin gefunden, woran ich früher nie gedacht habe.) 

Über eine gewisse Art von Geist bei den Franzosen, als Folge ihrer Spracharmut. (Das lass' ich gelten! Geist und Armut – er scheint Bescheid zu wissen.) 

Über den Zusammenhang zwischen Romanen von August Lafontaine und der Schwindsucht. (Das werde ich einmal lesen, weil nämlich ein paar Bücher von diesem Lafontaine bei uns auf dem Boden liegen. Aber er sagt, der Einfluß offenbare sich erst im zweiten Gliede. Mein Großvater las nicht.) 

Über die außereuropäische Macht der Engländer. Über das Gottesgericht im Mittelalter und heute. Über die Rechenkunst der Römer. Über den Mangel an Poesie bei Komponisten. [...]

Über die Macht der Vorurteile, ersichtlich aus den vielen Krankheiten, die ihre Ursache in Luftzug haben sollen. (Ich sagte ja gleich, es ist eine sonderbare Aufstellung.) 

Über die deutsche Einheit. 

Über die Länge auf See. (Ich vermute, daß auf See alles genau so lang ist, wie an Land.) 

Über die Pflichten der Regierung bezüglich öffentlicher Lustbarkeiten. Über die Verwandtschaft der schottischen und friesischen Sprache.  [...]

Über die Perkussion bei Handgranaten. (Anmerkung: Das Kapitel stammt aus dem Jahre 1847, ist also vor Orsini Graf Orsini, der 1858 ein Bombenattentat auf Napoleon III. beging. Der Kaiser blieb unverletzt. entstanden.)  [...]

Über die Kaffeekultur in Menado. (Habe ich schon erwähnt.) 

Über den Verfall des Römischen Reichs. Über die deutsche Gemütlichkeit. Über die skandinavische Edda. 

Über die Pflicht Frankreichs, sich im Indischen Archipel ein Gegengewicht gegen die Engländer zu schaffen. (Das war französisch geschrieben, warum weiß ich nicht.) [...]

Über die Rechte des Menschen auf Glück. 

Über das Recht des Aufstandes bei Unterdrückung. (Das war auf Javanisch, ich habe den Titel erst später erfahren.) [...]

Über die berechtigte Forderung eines Volkes, daß die von ihm aufgebrachten Steuern zu seinem Wohle angewandt werden. (Das war wieder auf javanisch.) 

Über das doppelte A und das griechische ETA. 

Über die Existenz eines unpersönlichen Gottes im Herzen der Menschen. (Eine ganz infame Lüge.) [...]

Über eine Verfassung des Reiches »Insulinde« [Anmerkung: Insulinde, die von Multatuli stammende und heute in den Niederlanden sehr gebräuchliche Bezeichnung des holländischen Kolonialbesitzes in Ostindien.. (Von einem solchen Reich hab' ich noch nie etwas gehört.) 

Über Pedanterie. (Ich glaube, dieses Kapitel hat er mit viel Sachkenntnis geschrieben.) [...]

Über bevorzugte Handelsgesellschaften. (Hierin kommt verschiedenes vor, das ich für mein Buch benötige.) [...]

Über persönliche Begriffe als Maßstab der Verantwortlichkeit in der sittlichen Welt. (Lächerlich! Er sagt, jeder müsse sein eigener Richter sein. Wohin würde das denn führen?) [...]

Über die nicht-essende Bevölkerung der Insel Rotti bei Timor. (Da muß es sich billig leben lassen.) 

Über die Menschenfresserei der Battah's und die Kopfjägerei der Alfuren. 

Über das Mißtrauen gegen die öffentliche Sittlichkeit. (Er will, vermute ich, die Türschlösser abschaffen. Ich bin jedenfalls dagegen.) [...]

Über die Zukunft des Niederländischen Handels. (Das ist eigentlich das Kapitel, das mich veranlaßt hat, dieses Buch zu schreiben. Er sagt, daß die Kaffeeversteigerungen nicht immer in so großem Stil abgehalten werden würden wie jetzt, und ich lebe für mein Fach.) 

Über Genesis. (Ein tolles Stück.) 

Über die Geheimbünde der Chinesen. Über das Zeichnen als natürliche Schrift. (Er behauptet, ein kaum zur Welt gekommenes Kind könne schon zeichnen.) 

Über die Wahrheit in der Poesie. (Stimmt!) 

Über die Unbeliebtheit der Reisschälmühlen auf Java. Über den Zusammenhang der Poesie und der Mathematik. Über den Preis von Java-Kaffee. (Das habe ich beiseite gelegt.) [...]

Über Gleichgewicht im Handel. (Er spricht darin vom Wechsel-Agio; ich habe es für mein Buch vorgemerkt.) 

Über die Beständigkeit asiatischer Gewohnheiten. (Er behauptet, Jesus hätte einen Turban getragen.) 

Über die Lehren Malthus' über Bevölkerungsziffern im Verhältnis zur Nahrungsbeschaffung [...]

Über das Verhalten europäischer Beamten gegenüber den eingeborenen Fürsten auf Java. (Hiervon beabsichtige ich, einiges in mein Buch aufzunehmen.) [...]

Und das war noch nicht alles. Ich fand, von den Versen abgesehen – Verse waren in allen Sprachen da – eine Anzahl Hefte, bei denen die Aufschrift fehlte; – Romanzen auf malayisch, Kriegsgesänge auf javanisch, und was nicht alles! Auch fand ich Briefe, viele davon in Sprachen, die ich nicht[44] verstand. Einige waren an ihn gerichtet, einige von ihm geschrieben, oder besser gesagt: es waren nur Abschriften; doch schien er damit eine Absicht zu haben, denn alles war durch andere Personen als »gleichlautend mit der Urschrift« beglaubigt. Dann fand ich noch Auszüge aus Tagebüchern, Bemerkungen und lose Gedanken, einige wirklich sehr lose!

Ich hatte, wie ich schon sagte, einige Stücke zur Seite gelegt, weil sie mir schienen in mein Fach zu schlagen, und für mein Fach lebe ich; – aber ich muß gestehen, daß ich um den Rest verlegen war. Ihm das Paket zurücksenden konnte ich nicht, denn ich wußte nicht, wo er wohnte. Es war nun einmal geöffnet; ich konnte es nicht leugnen, daß ich es eingesehen hatte, und das würde ich auch nicht gethan haben, weil ich die Wahrheit liebe und erfolglos versucht hatte, es wieder so zuzumachen, wie es gewesen war. Dazu konnte ich mir nicht verhehlen, daß einige Stücke, die über Kaffee handelten, mir Interesse abnötigten, und daß ich gern davon Gebrauch gemacht hätte. Ich las täglich hier und da einige Seiten und kam, je länger, je mehr, zu der Ueberzeugung, daß man Makler in Kaffee sein muß, um zu solcher Kenntnis zu kom men, was in der Welt vorgeht. Ich bin überzeugt, daß die Rosemeyers, die in Zucker machen, so etwas noch nie zu Gesicht bekommen haben.

Nun fürchtete ich, daß der Shawlmann eines Tages wieder vor mir stehen würde, und daß er mir wieder etwas zu sagen hätte. Ich ärgerte mich jetzt, daß ich jenen Abend den Kapelsteeg gegangen war, und ich sah ein, man soll nie den anständigen Weg verlassen. Natürlich hätte er mich um Geld gebeten und von seinem Paket gesprochen. Ich hätte ihm dann vielleicht etwas gegeben, und wenn er mir dann tags darauf den Packen Schreiberei zugeschickt hätte, wäre es mein gesetzliches Eigentum gewesen. Ich hätte dann die Spreu vom Weizen sondern können; ich hätte die Nummern, die ich für mein Buch gebrauchen konnte, herausgesucht, und den Rest verbrannt oder in den Papierkorb geworfen, was ich nun jetzt nicht thun konnte. Denn wenn er wiederkam, hatte ich es ihm zu liefern, und wenn er nun sah, daß ich für ein paar Schriften von ihm Interesse hatte, konnte er nun leicht zu viel dafür fordern. Denn nichts giebt dem Verkäufer mehr Übergewicht als die Entdeckung, daß der Käufer die Ware wünscht oder braucht. So eine Situation wird denn auch durch einen Kaufmann, der sein Fach versteht, nach Möglichkeit vermieden. [...]

Dieser Shawlmann schreibt eine gute Hand, dachte ich, er sah armselig aus, er wußte nicht, wie spät es ist – wie wäre es, dachte ich, wenn ich ihm Bastiaans' Stelle gäbe? Ich würde ihm in dem Falle sagen, daß er zu mir »Mijnheer« sagen müßte: das würde er wohl einsehen; ein Buchhalter kann doch seinen Chef nicht mit Namen anreden, und ihm wäre vielleicht fürs Leben geholfen. Er könnte mit vier- oder fünfhundert Gulden anfangen; Bastiaans hat auch lange gearbeitet, bis er zu siebenhundert aufstieg – und ich hätte eine gute That gethan. Ja, mit dreihundert Gulden hätte er wohl anfangen können; denn da er nie im Geschäft gewesen ist, könnte er die ersten Jahre als Lehrzeit ansehen, was ja auch billig ist, denn er kann sich nicht mit Leuten vergleichen, die schon viel gearbeitet haben. Ich bin sicher, er würde mit zweihundert Gulden zufrieden sein ...

Aber ich war nicht beruhigt über seine Lebensführung ...[46] er hatte einen Shawl um; und schließlich wußte ich auch nicht, wo er wohnte.

Ein paar Tage darauf waren der junge Stern und Fritz zusammen auf einer Bücherauktion im »Wappen von Bern« gewesen. Ich hatte Fritz verboten, etwas zu kaufen; aber Stern, der reichlich Taschengeld hat, kam mit einigen Fetzen nach Haus, das ist seine Sache. Aber sieh da, Fritz erzählte, daß er Shawlmann gesehen hätte, der bei dem Bücherverkauf angestellt schien. Er hatte die Bücher aus den Kisten genommen und sie auf der langen Tafel zu dem Auktionator hingeschoben. Fritz sagte, er sah sehr bleich aus, und ein Herr, der die Aufsicht zu führen schien, hatte ihn gescholten, weil er ein paar Jahrgänge der »Aglaja« hatte fallen lassen. Ich finde das auch sehr ungeschickt, denn es ist eine allerliebste Sammlung von Damen-Handarbeiten; Marie hält es zusammen mit den Rosemeyers, die in Zucker machen; sie häkelt daraus, aus der »Aglaja« meine ich. Aber bei dem Schelten hatte Fritz gehört, daß er fünfzehn Stüber täglich verdiente. »Denken Sie, daß ich Lust habe, fünfzehn Stüber täglich an Sie wegzuwerfen?« hatte der Herr gesagt. Ich rechnete aus, daß fünfzehn Stüber täglich – Sonn- und Festtage werden wohl nicht zählen, sonst hätte er ein Monats- oder Jahresgehalt genannt – zweihundertfünfundzwanzig Gulden aufs Jahr machen. Ich bin schnell in meinen Beschlüssen – wer so lange im Geschäft ist, weiß sofort, was er zu thun hat – und am folgenden Morgen fragte ich bei Gaafzuiger an – das ist der Buchhändler, der den Verkauf abgehalten hatte; ich fragte nach dem Mann, der die »Aglaja« hatte fallen lassen.

»Der hat seine Entlassung,« sagte Gaafzuiger, »er war träge, schwerfällig und kränklich.«

Ich kaufte eine Schachtel Mundoblaten und beschloß sofort, es mit Bastiaans noch etwas anzusehen; ich konnte mich nicht dazu entschließen, einen alten Mann so auf die Straße zu setzen. Streng, aber, wo es sein kann, sanft – ist immer mein Prinzip gewesen. Ich versäume indessen nie, mich nach etwas zu erkundigen, was in den Geschäften zu paß kommen kann, und fragte deshalb Gaafzuiger, wo der Shawlmann wohnte. Er gab mir die Adresse, und ich schrieb sie auf.[47]

Ich dachte fortwährend an mein Buch, aber da ich die Wahrheit liebe, muß ich geradeweg sagen, daß ich nicht wußte, wie ich damit zustande kommen sollte. Ein Ding stand fest: die Baustoffe, die ich in Shawlmanns Paket gefunden hatte, waren für Makler in Kaffee von Interesse. Die Frage war indessen, wie ich handeln mußte, um die Baustoffe ordentlich zu schichten und zusammenzubringen. Jeder Makler weiß, wie wesentlich eine gute Sortierung der Haufen ist.

Aber schreiben, abgesehen von der Korrespondenz mit den Prinzipalen, liegt nicht in meiner Thätigkeit, und doch fühlte ich, daß ich schreiben mußte, weil vielleicht die Zukunft der Branche davon abhängt. [...]

Mein Buch muß in die Welt. Daran ist nichts zu ändern – mögen dann Büsselinck & Waterman es auch zu lesen bekommen ... Mißgunst ist meine Sache nicht; aber Pfuscher und Schleicher sind sie, das sage ich. Ich habe es noch heute dem jungen Stern gesagt, als ich ihn in »Artis« einführte; er kann's seinem Vater schreiben.

So saß ich vor ein paar Tagen wieder da und brütete über meinem Buche, und sieh, Fritz hat mich auf den Weg gebracht. Ich habe es ihm selbst nicht gesagt, denn man muß keinen merken lassen, daß man Verpflichtungen gegen ihn hat, das ist ein Prinzip von mir, aber wahr ist es. Er sagte, daß Stern so ein heller Bursche wäre, daß er so schnelle Fortschritte im Holländischen mache, und daß er deutsche Verse von Shawlmann ins Holländische übersetzt habe. Ihr seht, es war verkehrte Welt in meinem Hause: der Holländer hatte deutsch geschrieben, und der Deutsche übersetzt es ins Holländische; hätte sich jeder bei seiner Sprache gehalten, wäre Arbeit gespart worden. Aber, dachte ich, wenn ich nun mein Buch durch diesen Stern schreiben ließe! – wenn ich etwas hinzuzufügen habe, schreibe ich selber von Zeit zu Zeit ein Kapitel. Fritz kann auch helfen; er hat eine Liste von Wörtern, die mit zwei e geschrieben werden, und Marie kann es ins Reine schreiben. Da hat der Leser gleich eine[49] Gewähr gegen alle Unsittlichkeit, denn das versteht sich doch, daß ein anständiger Makler seiner Tochter nichts in die Hände geben wird, was nicht mit Sitte und Anstand zusammenstimmt. 

Ich habe dann mit den beiden Jungen über meinen Plan gesprochen, und sie fanden ihn gut. Nur schien Stern, der, wie alle Deutschen, einen Stich ins Litterarische an sich hat, in der Art und Weise der Ausführung eine Stimme zu verlangen. Das gefiel mir nun nicht, aber weil die Frühjahrsversteigerung noch bevorsteht und ich von Ludwig Stern noch keine Aufträge habe, wollte ich im nicht zu stark widersprechen. Er sagte: »wenn die Brust ihm glühe für das Wahre und Schöne, solle keine Macht der Welt ihn hindern, die Töne anzuschlagen, die mit solch einem Gefühl übereinstimmten, und er wolle lieber schweigen, als seine Worte umklammert zu sehen von den entehrenden Fesseln der Alltäglichkeit.« Ich fand das ganz verrückt von Stern, aber mein Fach geht mir über alles, und der Alte ist ein gutes Haus.


Wir setzten also fest:

1. daß er alle Woche ein paar Kapitel für mein Buch liefern sollte;

2. daß ich in seinem Geschreibe nichts ändern sollte;

3. daß Fritz die Sprachfehler verbessern sollte;

4. daß ich das Recht haben sollte, von Zeit zu Zeit ein Kapitel zu schreiben, um dem Buche einen soliden Charakter zu geben;

5. daß der Titel sein sollte: Die Kaffeeversteigerungen der Niederländischen Handelsgesellschaft;

6. daß Marie eine saubere Abschrift machen sollte vor der Drucklegung; daß man aber mit ihr Geduld haben sollte, wenn die Wäsche käme;

7. daß die fertiggearbeiteten Kapitel alle Woche in der Gesellschaft vorgelesen werden sollten;

8. daß alle Unsittlichkeit vermieden werden sollte;

9. daß mein Name nicht auf dem Titel stehen sollte, weil ich Makler bin;

10. daß Stern eine deutsche, eine französische und eine englische Übersetzung sollte herausgeben dürfen, weil man, wie er behauptet, sich im Auslande auf solche Werke besser verstände als bei uns;

11. daß ich (darauf drang Stern sehr stark) Shawlmann ein Ries Papier, ein Groß Federn und eine Kruke Tinte schicken sollte.
[50]

Ich ließ mir alles gefallen, denn es war Eile nötig Stern hatte den folgenden Tag sein erstes Kapitel fertig, – und so kommt es, lieber Leser, daß ein Makler in Kaffee (Lauriergracht Nr. 37) ein Buch schreibt, das wie ein Roman aussieht.

Kaum aber hatte Stern seine Arbeiten angefangen, da stieß er auch schon auf Schwierigkeiten. Außer der Schwierigkeit, aus so vielen Baustoffen das Nötige auszusuchen und zu ordnen, kamen fortgesetzt in den Manuskripten Wörter und Ausdrücke vor, die er nicht verstand, und die auch mir fremd waren. Meist war es javanisch oder malayisch; auch waren hie und da Abkürzungen angebracht, die schwer zu entziffern waren. Ich sah ein, daß wir Shawlmann brauchten, und da ich es nicht gut finde, wenn ein junger Mensch verkehrte Beziehungen anknüpft, wollte ich weder Stern noch Fritz hinschicken. Ich nahm etwas Zuckerzeug mit, was vom letzten Gesellschaftsabend übrig geblieben war, denn ich denke immer an alles, und suchte ihn auf. Blendend war seine Behausung nicht; aber die Gleichheit aller Menschen, was auch ihre Wohnung angeht, ist ein Hirngespinst. Er hat das selbst gesagt in seiner Abhandlung über das Recht auf Glück. Übrigens, ich liebe Menschen nicht, die immer unzufrieden sind.

Es war in einem Hinterzimmer in der Lange-leidschen Querstraße. Im unteren Stock wohnte ein Trödler, der allerlei Dinge verkaufte, Tassen, Schüsseln, Möbel, alte Bücher, Glassachen, Bilder von van Speijk und dergleichen. Ich hatte Furcht, etwas zu zerbrechen, denn in solchem Falle fordern die Menschen immer mehr Geld für das Zeug, als es wert ist. Ein kleines Mädchen saß auf der Schwelle und kleidete ihre Puppe an. Ich fragte, ob Herr Shawlmann da wohne; sie lief davon, und die Mutter kam hervor.

»Ja, der wohnt hier, M'neer. Gehn Se man die Treppe ruf nach's erste Portal, un denn die Treppe nach's zweete Portal, un denn noch 'ne Treppe, denn sin Se da. Mijntje, geh, sag', es ist 'n Herr da. Wer soll se sagen, daß da is?«

Ich sagte, daß ich Mijnheer Droogstoppel wäre, Makler in Kaffee, von der Lauriergracht, aber ich wollte mich schon[51] selbst anmelden. Ich kletterte so hoch, als sie gesagt hatte, und hörte auf dem dritten Flur eine Kinderstimme singen: »Bald kommt der Vater, der süße Papa.« Ich klopfte, und die Thür wurde geöffnet durch eine Frau oder Dame – ich wußte selbst nicht recht, was ich aus ihr machen sollte. Sie sah sehr bleich aus, und ihre Züge trugen Spuren von Übermüdung: ich mußte an meine Frau denken, wenn sie die Wäsche hinter sich hat. Sie hatte ein weißes langes Hemd oder Jacke ohne Schoß an, die ihr bis an die Knie reichte und vorn mit einer schwarzen Nadel festgemacht war. Anstatt eines anständigen Rocks oder Kleides trug sie darunter ein Stück dunkler geblümter Leinwand, das einigemal um den Leib gewickelt schien und ihre Hüften und Knie ziemlich eng umschloß. Da war keine Spur von Falten, Weite oder Umfang, wie sich das bei einer Frau doch gehört. Ich war froh, daß ich Fritz nicht geschickt hatte; denn ihre Kleidung kam mir sehr ungeziemend vor, und ihre Fremdartigkeit wurde noch erhöht durch die Ungezwungenheit, mit der sie sich bewegte, als fühlte sie sich so ganz in Ordnung. Sie schien durchaus nicht zu wissen, daß sie anders aussah als andere Frauen; – auch hatte ich das Gefühl, als wäre sie durch mein Kommen gar nicht in Verlegenheit gesetzt; sie versteckte nichts unter dem Tisch, schob nicht mit den Stühlen, kurz, sie that nichts, was doch die Sitte ist, wenn ein Fremder von einem würdigen Aussehen kommt. [...] 

Ich sagte also kurzweg, »daß ich Mijnheer Droogstoppel[52] wäre, Makler in Kaffee, Lauriergracht Nr. 37, und daß ich ihren Mann sprechen wollte.«

Sie wies auf einen Mattenstuhl und nahm ein kleines Mädchen, das auf dem Fußboden spielte, zu sich auf den Schoß. Der kleine Junge, den ich hatte singen hören, sah mich an und beguckte mich von Kopf zu Fuß. Der schien auch nicht verlegen. Es war ein Knäbchen von etwa sechs Jahren, auch ziemlich auffallend gekleidet; sein weites Höschen reichte mit knapper Not bis zur Hälfte des Schenkels, und von da waren die Beinchen nackt bis an die Knöchel. Sehr indecent, finde ich. [...] 

Ich sagte, Shawlmann möge nur kommen; aber er solle nicht klingeln, weil das für das Mädchen lästig ist; wenn er wartete, sagte ich, würde sich die Thür wohl einmal öffnen, wenn jemand heraus müßte.

Und dann ging ich hin und nahm mein Zuckerbrot wieder mit; denn kurz gesprochen, es gefiel mir da nicht. Ich fühlte mich nicht gemütlich. Ein Makler ist doch kein Arbeitsmann, und ich denke, daß ich anständig aussehe; ich hatte meine Jacke mit Pelzwerk an, und doch saß sie so gleichgültig da und schwatzte so ruhig mit ihren Kindern, als ob sie allein wäre. Auch schien sie geweint zu haben, und unzufriedene[54] Menschen kann ich nicht vertragen. Dann war es kalt und unfreundlich, natürlich, weil die ganze Wirtschaft weggeholt war, und ich bin für freundliches Aussehen in der Wohnung. [...]

Jetzt folgt die erste Woche von Stern. Es versteht sich von selber, daß viel drin vorkommt, was mir nicht gefällt; aber ich muß mich an Artikel zwei halten, und die Rosemeyers haben es gut gefunden, – aber ich glaube, daß sie nach Stern angeln, weil er in Hamburg einen Onkel hat, der in Zucker macht.

Shawlmann war in der That dagewesen; er hatte Stern gesprochen und diesem einige Worte und Dinge ausgelegt, die er nicht verstand – die Stern nicht verstand, meine ich. Ich lade nun die Leser ein, sich durch die folgenden Kapitel durchzubeißen; dann verspreche ich später wieder etwas soliderer Natur von mir, Batavus Droogstoppel, Makler in Kaffee (Firma Last & Co., Lauriergracht Nr. 37).

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