16 Januar 2022

Max Havelaar (5. Kapitel)

Hier beginnt die Kernerzählung über die niederländische Kolonie:

Kurzinhalt: Stern beginnt seine Erzählung. Von Türmen, vom Adel, von Residenten, Adsistent-Residenten, Regenten und Regierten auf Java.

Eines Morgens um zehn Uhr herrschte auf dem großen Weg, der den Bezirk Pandeglang mit Lebak verbindet, eine ungewöhnliche Bewegung. 

»Großer Weg« ist ein bißchen viel gesagt für den breiten Fußpfad, den man aus Höflichkeit und in Ermangelung eines besseren den »Weg« nannte; aber wenn man mit einem vierspännigen Wagen von Serang, dem Hauptorte von Bantam, wegfuhr, mit der Absicht, sich nach Rangkas-Betung, dem neuen Hauptort des Lebakschen, zu begeben, konnte man einigermaßen darauf rechnen, nach einiger Zeit dort anzukommen. Es war also ein Weg. Man blieb zwar fortwährend in dem Sumpfboden stecken, der in den Bantamschen Tiefländereien schwer, lehmig und kleberig ist, man sah sich zwar öfters genötigt, die Bewohner der in der Nähe gelegenen Dörfer zu Hilfe zu rufen – auch waren sie oftmals nicht in der Nähe, denn die Dörfer sind in der Gegend nicht sehr zahlreich – aber wenn man es dann geschafft hatte, so zwanzig Landbewohner aus der Umgegend zusammen zu bringen, dauerte es gewöhnlich nicht mehr lange, bis man Pferde und Wagen wieder auf festen Grund gebracht hatte. Der Kutscher klatschte mit der Peitsche, die Läufer – in Europa würde man sie, glaube ich, Palefreniers nennen, oder besser gesagt, in Europa giebt es nichts, was sich mit diesen Läufern vergleichen ließe – diese unvergleichlichen Läufer also, mit ihren kurzen dicken Peitschen, sprangen wieder an der Seite des Viergespanns einher, kreischten wieder unbeschreibliche Töne und schlugen den Pferden zur Ermutigung unter den Bauch. So ratterte man denn einige Zeit weiter, bis der ärgerliche Augenblick wieder da war, daß man bis über die Achsen in den Modder versank. Dann begann das Hilferufen aufs neue – man wartete, bis die Hilfe kam, man jockelte weiter. 

Oftmals, wenn ich diesen Weg entlang ging, war mir, als müßte ich da einen Wagen mit Reisenden aus dem vorigen Jahrhundert finden, der in den Sumpf gesunken und vergessen worden war. Aber das ist mir doch niemals passiert. Ich nehme daher an, daß alle, die diesen Weg jemals gefahren sind, endlich dahin gelangt sein müssen, wohin sie wollten.

Man würde sich sehr täuschen, wenn man sich von dem ganzen großen Weg auf Java nach dem Maßstabe dieses Weges ins Lebaksche eine Vorstellung machen würde. Die eigentliche Heerstraße mit ihren vielen Seitenzweigen, die der Marschall Daendels mit großer Aufopferung von Menschen[56] herstellen ließ, ist in der That ein prächtiges Stück Arbeit, und man staunt über die Geisteskraft dieses Mannes, der, ungeachtet aller Schwierigkeiten, die seine Neider und Widersacher im Mutterlande ihm in den Weg legten, dem Unwillen der Bevölkerung und dem Mißvergnügen der Stammeshäupter zu trotzen wagte, um etwas zustande zu bringen, was heute noch die Bewunderung jedes Besuchers hervorruft und verdient.

Keine Pferdepost in Europa, auch nicht in England, Rußland oder Ungarn, kann mit der auf Java in Vergleich gestellt werden. Über hohe Bergrücken, an Abgründen, die dich grausen machen, fliegt der schwerbepackte Reisewagen in einem Galopp dahin. Der Kutscher sitzt auf dem Bock wie angenagelt, Stunden, ja ganze Tage hintereinander, und schwingt die schwere Peitsche mit eisernem Arm. Er weiß genau zu berechnen, wie stark er die scheuenden Pferde halten muß, um nach fliegender Thalfahrt, von einem Bergesabhang herab, dort an jener Ecke ...

»Mein Gott, der Weg ist ... wir stürzen in den Abgrund,« schreit der unerfahrene Reisende, »da ist kein Weg ... da ist die Tiefe!«

Ja, so scheint es. Der Weg biegt sich, und gerade, wie ein Galoppsprung mehr das Vorspann den festen Grund und Boten soll verlieren lassen, wenden sich die Pferde und schleudern den Wagen um die Kante herum. Sie fliegen die Höhe hinauf, die du einen Augenblick zuvor nicht gesehen hast, ... und der Abgrund liegt hinter dir. [...]

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