16 Januar 2022

Max Havelaar (3. Kapitel)

 "[...] die gnädige Frau dachte, daß das, was Luise zum Weinen gebracht hatte, auch uns unterhalten würde und bat Fritz, der ganz rot geworden war, um eine Wiederholung. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, was er da bloß ausgekramt haben mochte, denn ich kannte sein Repertoire ganz genau. Das war: Die Goldene Hochzeit »Gouden Bruiloft«, Die Goldene Hochzeit, ein Gedicht Meschaerts, das sehr umständlich und weitschweifig die fraglichen Reize des Familienlebens jener Zeit preist., die Bücher des Alten Testamentes in Reimen und eine Episode aus der Hochzeit von Kamacho »De Bruiloft van Kamacho«, eine zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts von Langendyk unter starker Anlehnung an Cervantes verfaßte Komödie., was die Jungens immer so begeisternd finden, weil etwas von Kriegslist darin vorkommt. [...]

Also schließlich trug Fritz etwas vor, das eigentlich bloß aus lauter Blödsinn zusammengesetzt war. Nein, das Zeug hatte überhaupt keinen Zusammenhang. Ein Jüngling schrieb an seine Mutter, er sei verliebt gewesen, aber das Mädchen hätte einen anderen geheiratet, – womit sie meiner Meinung nach ganz recht getan hatte, – und daß er trotzdem stets seine Mutter über alles liebte. Sind diese drei Sätze klar ausgedrückt oder nicht? Findet Ihr, daß da besonders viel Umstände nötig sind, um das zu sagen? Also, ich habe erst mal ein Käsebrötchen gegessen, danach zwei Birnen geschält, und ich war schon fast fertig mit dem Verzehren einer dritten, ehe Fritz fertig war mit seinem Gedicht. Aber Luise weinte schon wieder, und die Damen fanden es sehr schön. [...]

Der Schluss des Gedichts:

Endlich zeig' die letzte Stunde. 

Wenn mein Mut am tiefsten sank 

In des Lebens ärgsten Nöten, 

Wohl zu Gott ein brünstig Beten 

Dann von meinen Lippen drang: 

Laß den Todesengel schweben, 

Nimm von mir die schwere Last, 

Nimm von mir das bitt're Leben, 

Gib mir Frieden, gib mir Rast! 

Doch kaum war es mir entglitten, 

Setzte sich das Herz zur Wehr, 

Und ich beugt' die Kniee nieder: 

Gott erhöre nicht mein Bitten, 

Laß mich leben noch, o Herr, 

Gib mir erst die Mutter wieder.

(3. Kapitel)

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