Ich habe meinen Artikel zum Thema "Ein Tag im Jahr" von Christa Wolf aus dem Oktober 2023 noch einmal gelesen und merke, dem Buch werde ich nicht gerecht, wenn ich ihm nicht weit mehr Raum gebe: Christa Wolf: Ein Tag im Jahr.
Christa Wolf im Jahr 2021 Briefausgabe, Archivmöglichkeiten (genderblog)
(Rezension von Evelyn Finger, 2003)
Was das Besondere an dem Buch ist, wurde in dem Artikel dargestellt. Es bietet so viel, dass ich mir weit mehr Zeit nehmen will zum Lesen.
Christa Wolf, geb. Ihlenfeld, ist 1929 in Landsberg an der Warthe, im heutigen Gorzów Wielkopolski, geboren, sie wuchs unter der Naziherrschaft auf. Ihre Erfahrungen aus dieser Zeit hat sie literarisch verfremdet in ihrem Roman Kindheitsmuster (1976) dargestellt und verarbeitet. Ich habe das Buch in der 3. Auflage des Aufbauverlags 1978 erworben, in meinem Lektüretagbuch aus der Zeit kommt es nicht vor. Ein Lesezeichen findet sich bei den Seiten 368/69. Was für eine Bedeutung das frühere Buch Nachdenken über Christa T. (1968) hatte, habe ich gewiss aus Rezensionen erfahren, als ich es in den Jahren 1981/83 in England las.
Was für Schwierigkeiten Wolf schon 1962 mit ihrer Rolle als Schriftstellerin hat, wo sie erfahren hat, dass sie nicht mehr schreiben kann, was sie schreiben will. (Freundschaft mit dem alten Kommunisten und Widerstandskämpfer Friedrich Schlotterbeck, der aus Westdeutschland in die SBZ kam, dann aber 1953 wegen Verdachts von Kontakten zu 6 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde "Von den eigenen Leuten eingesperrt zu werden, sagt Frieder, fast entschuldigend, das schlaucht dich natürlich ungeheuer." Ein Tag im Jahr, S.52) Das habe ich erst in ihrem Eintrag 1962 gelesen. Das war ein Jahr, bevor ihr Roman Der geteilte Himmel (1963) herauskam, den ich geschätzt habe, aber auch als zu angepasst angesehen habe. Als sie 1964 den Nationalpreis für Literatur (3. Klasse) erhält, leidet sie bereits unter der ständigen Aufmerksamkeit und wacht erstmals nachts schreiend auf. - Ihre Wahrheit schreiben zu wollen, aber nur verfremdet schreiben zu dürfen, aber bis 1989 aus Solidarität mit ihren Lesern die DDR noch reformieren zu wollen 'schlaucht [sie] natürlich ungeheuer'. ("und ich frage mich, inwieweit die Schwierigkeiten dieses Jahres nicht einfach meine ganz persönlichen Schwierigkeiten sind, eines zu kleinen Talents, eines zu großen Ehrgeizes, eines zu schwächlichen, halbherzigen Lebens, aus dem eben nicht mehr heraus zu holen ist." (1966) Tag im Jahr, S. 83) Am Tag dieses Eintrags geht sie wegen ihrer psychisch-somatischen Probleme zum Arzt, legt aber mehr Make-up auf, um weniger krank auszusehen und nicht zu sehr von ihm durchschaut zu werden. (Auf dem Weg "versuche ich dann hochmütig auszusehen", S.88.)
Sie geht ins Regierungskrankenhaus. "Wie immer der höfliche Ton der Schwester, die meinen Namen nennt. Die Schwestern werden hier besser bezahlt als in anderen Krankenhäusern. [... Der Arzt] Er sagte plötzlich, dass weder die Patienten des Regierungskrankenhauses noch seine Kollegen, die nur dort arbeiteten, überhaupt wüssten, wie es in unserem Gesundheitswesen wirklich aussieht. Dass man in Krankenhäusern ganze Stationen wegen Personalmangel schließen müsse. Bei ihm lägen manchmal Leute mit Gehirntumor drei Wochen lang und könnten nicht operiert werden, daran sterben natürlich auch einige. Aber dafür gäbe es die famose Lösung: Jeder Beruf helfe sich mit seinen eigenen Kräften. In der Landwirtschaft aber kommen sie seit fünfzehn Jahren nicht mit ihrem Käse zurecht, jedes Jahr krauchten die Studenten vier Wochen lang auf Kartoffelecken herum, anstatt wenigstens als Pfleger in die Krankenhäuser zu gehen. Dann würde sich der Beruf mit seinen eigenen Kräften helfen. Aber für die Landwirtschaft scheint diese Lösung nicht zu gelten. Wenn man aber etwas sagt, heißt es von der Fakultätsparteileitung: Genossen, darüber gibt es keine Diskussion, das müsst ihr einsehen! – Ich: ich habe voriges Jahr eine Woche hier im Krankenhaus gelegen. Da ist mir klar geworden, was es heißt, nie mit der Realität in Berührung zu kommen. – Selbstverständlich. Diese Leute fahren nur in ihren Wagen, sie wissen nicht mehr, was in der S-Bahn vor sich geht, noch weniger, was die normalen Leute denken mögen. Die kommen sich doch verhöhnt vor, wenn in der Gemüseverkaufsstelle ein Plakat hängt: Einwecken - Vorsorge für den Winter! Und in ganz Berlin gibt es kein Einweck-glas zu kaufen. Dann soll sowas doch wenigstens die Stasi berichten, die sich auf den Straßen herumtreibt…" (S.91)
Natürlich ist eine so genaue auf die Biographie Wolfs bezugnehmende Darstellung auf die Dauer nicht durchzuhalten, aber - wegen Erkältung mich nicht zu entfremdeter Arbeit verpflichtet glaubend - leiste ich sie mir mal, weil sie mir im Rückblick besser erlaubt, mich zu erinnern, was das Buch mir gegeben hat.
Christa Wolf 1990 im Gespräch mit ihrer Tochter Annette am 27.9. wenige Tage vor der offiziellen deutschen Einigung:
"Es gibt wohl ein physikalisches Grundgesetz, nach dem Energie nicht verloren gehen kann. Ob dies auch auf seelische Energie zutrifft?
Zum 27.9.1995, S.543 ff.
Eindrucksvoll, wie Wolf an dem Plan festhält, weiterhin jährlich aus ihrer jeweiligen Gegenwart heraus zu schreiben und ungeschützt Tagesgedanken festzuhalten, obwohl sie sich dessen bewusst ist, dass sie so nicht ihre reflektierte Wahrheit festhalten kann, sondern nur 'Augenblicks'gedanken. Und dann nach über 30 Jahren dieser Arbeit die Formulierung: "Und ich muss darüber nachdenken, was für einen Unterschied es macht, wenn man eine Geschichte oder auch nur einen Tag von ihrem/seinem Ende hier erzählen kann, oder wenn man einfach mitstenografiert, ohne zu wissen was / kommt – dann kann man auch keine Zentren schaffen, keine Schwerpunkte setzen, selbst die Reflektionen geraten dann dünner." (S. 552/553)
Andererseits hat sie vorher zum selben Tag festgehalten:
"Am Nachmittag habe ich in den Text für den Luchterhand Verlag, der den Inhalt des Medea- Manuskripts beschreibt, den Satz geschrieben: 'Die Erzählerin lässt durchscheinen, dass sich die Verhaltensweisen der gesellschaftlich lebenden Menschen nicht geändert haben, seit Geschichte überliefert wurde.' Und dass diese Verhaltensweisen sich auch nicht ändern werden, könnte ich hinzufügen. Und ich frage mich, ob diese anscheinend tief in mich eingedrunge Überzeugung mit dafür verantwortlich ist, dass der Schreibantrieb schwächer geworden ist (was mir Lew Kopelew, wie ich es ihm neulich im Krankenhaus andeutete, verübelte und heftig bestritt). Oder woher sonst rührt das von Trifonov beobachtete 'Nachlassen der Schreiblibido'? Aus dem Nachlassen der Gefühllsintensität? Aus dem häufig aufkommenden Reflex: Aber das habe ich doch alles schon erlebt? So dass auch die Befriedigung, ein Manuskript beendet zu haben – wie vorgestern endlich das der Medea, das jetzt beim Schreibbüro ist – sich in Grenzen hält. Und doch ist da etwas, vielleicht nur eine Gewohnheit, vielleicht eine lange eintrainierte Disziplin –, dass mich anhält, eben doch jeden Tag ein Stück zu schreiben, auch meine Tagesabläufe zu notieren." (S.544)
Gerhard Wolf "Er wiederholt, dass er kaum begreifen kann, wie viel wir noch unterwegs sind, [...] und wenn ich ihn so reden höre, kann ich es selber nicht begreifen und nehme mir vor, für das nächste Jahr noch einige Termine abzusagen. [...]
* Vollständiger Text:
In den Ostwind hebt die Fahnen,
Denn im Ostwind stehn
sie gut,
Dann befehlen sie zum Aufbruch,
Und den Ruf hört
unser Blut.
Denn ein Land gibt uns die Antwort,
Und das
trägt ein deutsch Gesicht,
Dafür haben wir geblutet,
Und drum
schweigt der Boden nicht.
In den Ostwind hebt die Fahnen,
Laßt sie neue Straßen
gehn,
Laßt sie neue Straßen ziehen,
Daß sie alte Heimat
sehn.
Denn ein Land gibt uns die Antwort,
Und das trägt ein
deutsch Gesicht,
Dafür haben wir geblutet,
Und drum
schweigt der Boden nicht.
In den Ostwind hebt die Fahnen,
Daß sie wehn zu neuer
Fahrt.
Macht euch stark, wer baut im Osten,
Dem wird keine
Not erspart.
Doch ein Land gibt uns die Antwort
Und das
trägt ein deutsch Gesicht,
Dafür haben wir geblutet,
Und
drum schweigt der Boden nicht.
Melodie und Text Hans Baumann
"Auf dem Anrufbeantworter neben Nachrichten für Gerds Verlag [...] auch ein Anrif von Günter Gaus, seine Stimme ist heiser, er hat seine dritte Chemotherapie hinter sich, es gehe 'ganz gut', er fragt, ob wir uns am 10. Oktober, dem Wahlsonntag, bei uns sehen können. Ich denke sehr oft an ihn [...]" (S.607)
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