27 Mai 2024

Christa Wolf: Ein Tag im Jahr - 3. Folge

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Christa WolfEin Tag im Jahr

Nach einigen Monaten Pause habe ich die Lektüre wieder aufgenommen und zunächst den letzten Artikel etwas ergänzt. Jetzt geht es weiter mit der Lektüre

27.9.1960

"Annette ist endlich fertig. Sie ist ein bisschen bummelig und unordentlich, wie ich als Kind gewesen sein muss. Damals hätte ich nie geglaubt, dass ich meine Kinder zurechtweisen würde, wie meine Eltern mich zurechtwiesen. Annette hat ihr Portmonee verlegt. Ich schimpfe mit dem gleichen Worten, die meine Mutter gebraucht hätte: So können wir mit dem Geld auch nicht rumschmeißen, was denkst du eigentlich?

Als sie geht, nehme ich sie beim Kopf und gebe ihr einen Kuss. Mach’s gut! Wir blinzeln uns zu. Dann schmeißt sie die Haustür unten mit einem großen Krach ins Schloss.  
Tinka ruft nach mir. Ich antworte ungeduldig, setze mich versuchsweise an den Schreibtisch. Vielleicht lässt sich wenigstens eine Stunde Arbeit herausholen. Tinka singt ihrer Puppe lauthals ein Lied vor, dass die Kinder neuerdings sehr lieben: 'Abends, wenn der Mond scheint, ins Städtele hinaus…', die letzte Strophe geht so:
Eines Abends in dem Keller.
aßen sie von einem Teller
eines Abends in der Nacht.
hat der Storch ein Kind gebracht… 

Wenn ich dabei bin, versäumt Tinka nie, mich zu beschwichtigen: sie wisse ja genau, dass der Storch gar keine Kinder tragen könne, das wäre ja glatt Tierquälerei. Aber wenn man es singt, dann macht es ja nichts.

Sie beginnt wieder nach mir zu schreien, so laut, dass ich im Trab zu ihr stürze. Sie liegt im Bett und hat den Kopf in die Arme vergraben.

 Was schreist du so?

Du kommst ja nicht, da muss ich rufen.

Ich habe gesagt, ich komme gleich.

Dann dauert es immer noch lange, lange lange bange, bange, bange. Sie hat entdeckt, dass Wörter sich reimen können. Ich wechsle die Binde von ihrem zerschnittenen Fuß. Sie schreit wie am Spieß. Dann spritzt sie die Tränen mit dem Finger weg.  Beim Doktor wird’s mir auch weh tun.

Willst du beim Doktor auch so schreien? Da rennt ja die ganze Stadt zusammen. – Dann musst du mir die Binde abwickeln. – Ja, ja. – Darf ich heute früh Puddingsuppe? – Ja, ja. – Koch mir welche! – Ja, ja.

Der Fußschmerz scheint nachzulassen. Sie kratzt beim Anziehen mit dem Fingernägeln unter der Tischplatte und möchte sich ausschütten vor Lachen. Sie wischt sich die Nase mit dem Hemdenzipfel ab. He! Schreie ich, wer schneuzt sich da in Hemde? – Sie wirft den Kopf zurück, lacht hemmungslos: wer schneuzt sich da ins Hemde, Puphemde…?

Morgen habe ich Geburtstag, da können wir uns heute schon ein bisschen freuen, sagt sie. Aber du hast ja vergessen, dass ich mich schon alleine anziehen kann. – Hab’s nicht vergessen, dachte nur, dein Fuß tut dir zu weh. – Sie fädelt umständlich ihre Zehen durch die Hosenbeine: ich mach das nämlich viel vorsichtiger als du. – Noch einmal soll es Tränen geben, als der rote Schuh zu eng ist. Ich stülpe, einen alten Hausschuh von Annette über den verletzten Fuß. Sie ist begeistert: jetzt habe ich Annettes Latsch an!

Als ich sie aus dem Bad trage, stößt ihr gesunder Fuß an den Holzkasten neben der Tür. Bomm! ruft sie. Das schlägt ein wie eine Bombe! – Woher weiß sie, wie eine Bombe schlägt? Vor mehr als sechzehn Jahren habe ich zum letzten Mal eine Bombe detonieren hören. Woher kennt sie das Wort? 

Gerd liest in Lenins Briefen an Gorki, wir kommen auf unser altes Thema: Kunst und Revolution, [...]" (S.10/11)


1961:
"Als ich ins Zimmer komme, um sie zum Abendbrot zu rufen, klappt Tinka gerade einen der Bildbände zu: habt ihr nur Bilder von Arbeitern? – Warum? – Die will ich nicht mehr sehen. – Warum nicht? – Weiß nicht. Sie sind langweilig.– aber Arbeiter sind doch sehr wichtig. – Wichtig schon. Aber ich will sie nicht immer zusehen. – Was willst du denn lieber sehen? – Na, andere Menschen. Oder wie ich mit Berit im Kinderzimmer spiele…
Gerd ist entzückt. Literaturkritik auf hohem Niveau, sagt er  Der künftige Leser, meldet seine Ansprüche an. Das lass dir mal gesagt sein, Frau Autorin, keine Arbeiter, wenn’s möglich ist. – Dafür muss ich ihn boxen, Tinka wirft sich sofort auf seine Seite und stellt sich schützend vor ihn, während Annette mit ihrem Gerechtigkeitssinn findet, Vater hätte mir nicht die Freude an den Arbeitern verderben dürfen. Sie weiß, woran ich gerade schreibe. 
Das Abendbrot ist ziemlich turbulent, Tinka, versucht, mit durchsichtigen Tricks nacheinander aus jedem von uns rauszukriegen, was für Geschenke sie morgens zu erwarten hat, wir drei sind eine undurchdringliche Front, Annette hat es gern, wenn sie bei solchen Gelegenheiten zu den Erwachsenen zählt. Sie darf den Geburtstagstisch in meinem Zimmer mit aufbauen,  Die fünf Kerzen in den nassen Sand auf dem Teller stecken und ihn mit Asternblüten schmücken, während Tinka schon im Bett liegt und einsames, verstoßenes Kind spielt. Am Ende kriegen beide noch ihr Gute-Nacht-Lied, am liebsten 'Der Mond ist aufgegangen', weil es so viele Strophen hat. Nach der letzten Strophe sagt Tinka jedesmal: Aber wir haben zum Glück keinen kranken Nachbarn, nicht? " (S.37)

1979.

C. Wolf berichtet über eine Lesung aus 'Kein Ort. Nirgends', das Buch, das sie 1978 während der Arbeit daran noch Günderode-Scheiß genannt hatte. Zusammenfassend schreibt sie über das Gespräch danach und das Gespräch mit einer Lehrerin, zu dem sie mit ihrem Mann Gerd eingeladen wird: "Der Abend war außerordentlich." (S.268)  Es war ein Gespräch, wie man es sich bei Wolf vorstellt.

"Eine andere Bibliothekarin [...] sagte, was mich sehr berührte: Sie empfinde bei der Lektüre solcher Bücher wie der meinen, daß sie, die Leser, in ihren tiefsten Anliegen doch eigentlich wortlos seien und daß da ausgedrückt werde, was sie nicht sagen könnten. [...]

Es bleibt die Erkenntnis, dass Literatur bei uns oft als Ersatz für andere, vorenthaltene Möglichkeiten der Selbstverwirklichung herhalten muss." (S.264)

"Herr St. tritt auf den Plan. Zu tun, was einem Spaß mache, sei nun mal im normalen Alltagsleben selten möglich. Dann müsste man eben tun, was notwendig ist, und man werde merken, es mache einem dann oft auch allmählich Spaß: wenn etwas dabei heraus komme. Auf den Erfolg komme es allerdings an.

Ein schönes blondes Mädchen [... ] widersprach ihm: So sei doch die Frage nicht gemeint gewesen. Gemeint sei, wie man sich verhalten soll, wenn man andauernd etwas gegen seine Überzeugung tun müsse." (S.266)

"Im Raum lag eine deutliche Spannung zwischen der Tendenz, sich an konservativen Normen festzuhalten und einem Drang nach Neuem; einigen Gesichtern sah ich an, dass sie manchen Gedanken zum ersten Mal hörten, verblüfft lachten sie auf. Nicht einer verwahrte sich gegen irgendetwas, dafür war nicht die Atmosphäre. Man merkte, daß sie diese Fragen sonst nirgends aussprachen, daß sie aber auch wussten, wie weit sie gehen, wo sie nicht konkret werden durften." (S.267)

Noch einmal lese ich in den Einträgen ab 1990, besonders 1991, 1992, wo sie in Santa Monica, Californien schreibt und 1993, wo ich schon einiges unterstrichen hatte, um mir den Übergang von der DDR zur Einigung oder Übernahme ins wieder erweiterte Deutschland vor Augen zu führen. Dort finde ich die Verletzungen, die sie erlebt hat, als man ihr ihre IM-Tätigkeit als junge Studentin vorgeworfen hat. (S.471-524) 

Wo ich sonst so sehr die genaue Darstellung aus der jeweiligen Gegenwart heraus zu schätzen weiß: hier vermisse ich etwas dein einordnenden Überblick aus dem Rückblick (so sehr mir klar ist, dass er die "Verfälschung" wäre, die sie mit ihren Tagebucheinträgen gerade zu vermeiden sucht). Bin gespannt auf Einträge im neuen Jahrtausend, wie sie dann zurückblickt oder wie manches ihr unwichtiger geworden sein könnte angesichts der neuen Probleme.

Vorläufig kann ich mich weiterhin nicht entscheiden, was ich daraus hier festhalten will. - Habe ich doch in dieser Zeit mich meinerseits mehr mit ihr identifiziert als je, bevor ich angefangen habe, ihre ausführlichen Tagesberichte zu studieren.


Die 80er Jahre

1982

Wolf ist angefragt worden, jemandem zu helfen, der im Gefängnis sitzt.

"[...] Das führt schon zu den zweiten Grund, der mir solche Briefe so schwer macht: Ich will mit denen nichts mehr zu tun haben, nicht einmal als Intervent für andere. Andererseits ist die Möglichkeit für solche erfolgreichen Interventionen einer der Gründe, dafür, dass ich hierbleibe und mir sagen kann: Ich werde gebraucht. Ich kann, wenn auch in noch so begrenztem Umfang etwas tun. Wenn ich den Faden nach oben vollkommen durchtrennen würde, wären zugleich diese wenigen Möglichkeiten abgeschnitten. Aber ich wäre freier. Ich könnte und müsste meinen Abscheu gegenüber Praktiken, unbekannte Leute für die gleichen Delikte einzusperren, für die man bei uns Bekannteren durch die Finger sieht, offen aussprechen. [...]" (S.325) 
Andererseits sieht sie auch die Möglichkeit, ihre Kinder zu schützen. 
"Gerd gibt eine Sentenz aus seinem  Freeman Dyson zum besten, es sei interessant, ich müßte es auch mal lesen: wie der Mann vom Mitarbeiter an der Neutronenbombe zum Anhänger von Friedenspolitik geworden ist… Einer von den beiden Großen muss anfangen, aufzuhören, sagen wir. Aber besteht dafür irgendeine Chance? Der Kehrreim aller meiner Gedanken." (S.326)
Drei Jahre darauf kam Gorbatschow und 'fing an aufzuhören'. Francis Fukuyama mit seinem Ende der Geschichte überschätzte die möglichen Folgen total. Das Zeitfenster für die deutsche Einigung wurde genutzt, aber die Chancen einer Friedensdividende - wenn sie überhaupt gegeben war - in Überschätzung des erreichten Erfolges vom Westen nicht genutzt.
1983
Gespräch mit Christoph Geiser (S.342u-346oben)

1984
"Helene hat ihre Haltepunkte: der Springbrunnenwasserfall vor dem Hotel Metropol, das Wasser der Spree, und diesmal entdeckt sie auf den Masten der Weidendammer Brücke die golden angemalten Sonnen. 'Eine Sonne!' schreit sie und ich muss lange suchen, ehe ich sie finde, und sehe sie durch Helene zum ersten Mal. Merkwürdig: Sie zeigt mir diese Sonnen, und ich habe ihr den ersten Mond ihres Lebens gezeigt, und das hat sie bis heute nicht vergessen: 'Oma Hond zeiget', sagt sie heute noch, wenn sie einen Mond sieht, ob in Natur oder im Bilderbuch. Sie bildet die Vergangenheitsform durch Anhängen von -et an den Wortstamm: 'zeiget, kommet'. Mich wundert, dass sie überhaupt schon das Bedürfnis hat, verschiedene Zeitformen auszudrücken. Wir gehen noch schnell in den Kosmetik-Intershop, weiche Taschentücher für Tinka kaufen. Auf der Straße sehe ich immer in die Gesichter, unbewusst auf der Suche nach einem, in das ich mich hineinfühlen kann. In letzter Zeit habe ich das Gefühl, die werden wir immer fremder, besonders die auf Punk-Art oder im Fünfziger-Jahre-Look frisierten jungen Leute, von denen wir wohl nichts mehr wissen." (27.9.1984)

Ch. Wolf ist jetzt 55 Jahre, das Alter, wo man durchschnittlich den Höhepunkt seiner Karriere im Berufslaben erreicht hat. Einerseits fühlt sie sich überfordert von der Erwartungshaltung an sie, was man sich von ihrer Intervention verspricht. Andererseits fühlt sie sich bestärkt darin, in der DDR auszuharren, weil sie hier gebraucht werde ("Es bleibt die Erkenntnis, dass Literatur bei uns oft als Ersatz für andere, vorenthaltene Möglichkeiten der Selbstverwirklichung herhalten muss.", S.264) Sicher ist auch die Rolle als mehrfache Großmutter und die Möglichkeit, in Notsituationen eine Bestärkung des Gefühls der Gebrauchtwerdens.

1989 27.9.
Wie so kurz vor dem Wendepunkt zwei deutsche Ehepaare (das westdeutsche: Otl Aicher und Inge Aicher-Scholl) zusammenkommen, die beide unter ihrem Deutschland leiden, zu dem sie sich in Widerstand befinden, dessen Vorteile sie aber auch sehen, die sie in der Zukunft bewahrt sehen wollen, indem beide Teile aufeinander zu wachsen. All das noch ohne Wissen über den 9. November! Dann beide Deutschland, "Rücken an Rücken" nach Westen und nach Osten sehend. Dann die vertraute Kenntnis der in Mecklenburg Lebenden mit dem Werk Barlachs (Güstrow), eingehend auf die eher rundköpfigen Nord ostdeutschen (slawischer Ursprung, Barlach Figuren, Angela Merkel) im Unterschied zu den Nordwestdeutschen.


111


















Rotis im Allgäu, Wohnort der Aichers, nach dem die Schriftart, die Otl A. 1988 veröffentlichte, benannt ist.  
















(S.451)









1990 27.9.
"Schreib alles auf, sagte er noch. Was man nicht aufschreibt, vergisst man. Du sollst das nicht vergessen. [...] In meinem Kalender finde ich, daß wir am 12. Mai an Brechts und Helene Weigels Gräbern auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof standen und Blumen niederlegten. Ihre Grabsteine waren mit Nazisymbolen und der Schmähung 'Saujud' beschmiert worden. Ich wollte mir nicht eingestehen, daß auch dies nun zur Normalität gehören würde." (S.464)

"Unverhohlen verlangte man meinen Schuldbekenntnis als Entreebillet in die westliche Medienlandschaft." (S.465 oben)

"Natürlich handelt es sich um eine Kampagne gegen Sie. Natürlich geht es gar nicht um Ihre Vergangenheit, sondern um Ihre Aktivitäten in der Gegenwart. Das stört. Und natürlich soll bei Ihnen alles, was einen an Hauch von links hat, zerschlagen werden. Die DDR muss unbedingt delegitimiert werden. (S.465 unten)

"Merkwürdigerweise bringt die Art und Weise, wie die Wiedervereinigung betrieben wird, vorher sehr DDR-kritische Leute dazu, sich jetzt gegen die undifferenzierte Verdammung zu wehren. (In der NZZ las ich, dass man 'Reagans Reich des Bösen' nun auch in der DDR ausmachen könne!)" (S.467/468)

1993 27.9.

"[...] erzählen uns Anekdoten von dem Abend, die uns merkwürdigerweise immer erst Tage später einfallen, immer wieder finden wir, wie vorteilhaft es ist, ein Erlebnis miteinander zu teilen, es bekommt noch eine Dimension, mehr Dichte, und sogar unsere oft / unterschiedliche Beurteilung von Leuten, über die wir früher erbittert streiten konnten, lassen wir nun gelten, um sie – was wir erst lange Zeit später bemerken – allmählich in die eigene Sicht mit einfließen zu lassen."   (S.513/514) 


1996
"Es stellt sich heraus, dass viele der Anwesenden die meisten meiner Bücher kennen, nicht vergessen haben und immer wieder betonen, sie hätten in der DDR 'mit ihnen gelebt'. Aber eine DDR Nostalgie verspüre ich nur bei der einen Frau, die, wie sie später herausstellt, Theaterwissenschaftlerin war und ihre Arbeit verloren hat, Jetzt arbeitet sie mit Kindern und findet, wie sie später erzählt, dass die nicht mehr richtig lesen, lernen wie zu DDR-Zeiten und auch keine Bücher mehr lesen. Andere widersprachen, wollten auch nicht zugeben, dass in der DDR alle Leute anspruchsvolle Literatur gelesen hätten, sonst wäre der Run auf Trivialliteratur nach dem Mauerfall nicht so stark gewesen. [...]
Die meisten der anwesenden Frauen haben in der DDR eine gute Ausbildung bekommen, machen jetzt etwas Berufsfremdes, sind dabei aber nicht unzufrieden: C. war Informatikerin, die Leiterin des Frauenzentrums Theaterwissenschaftlerin, ihre Stellvertreterin, Naturwissenschaftlerin. – Sie fragen, wie wichtig das intellektuelle Gewissen für eine Gesellschaft ist, reden über die Beliebigkeit der moralischen Werte in der Wissenschaft. 

Die Diskussion dauert über eine Stunde, ich setze mich danach noch mit einem Glas Wein ins Café, wir reden jetzt persönlicher, sechs, sieben Frauen in der Runde, eine gelöste, freundschaftliche Atmosphäre, familiär. So würde es wohl im Westen auch im kleineren Kreis nicht sein können, das liegt daran, dass wir alle / von unseren Erfahrungen wissen, darüber  muss nicht gesprochen werden. Manche erzählen, dass sie mir schon lange schreiben wollten, leider wird es die eine oder andere es nun tun. Die Rede kommt auch auf den Herbst '89, die Jahre seitdem scheinen sich zu verkürzen." (1996 S. 573/74) 

Ich habe nicht mit Christa Wolfs Büchern 'gelebt'. "Der geteilte Himmel" hat mir gefallen, die Einleitung fand ich sprachlich sehr gelungen. Hermann Kants "Die Aula" fand ich gelungener, moderner.  'Nachdenken über Christa T.' fand ich schwierig, 'Kindheitsmuster' hat mich weniger angesprochen als bei jetzigem Hineinsehen. Den 'Störfall' habe ich mit Interesse (wohl Anfang der 1990er Jahre) gelesen, Kleist/Günderode auch, fand aber wohl etwas weniger hinein. Zu 'Medea' habe ich damals keinen Zugang gefunden. - Jetzt bin ich dankbar, dass eine Person von ihrem Rang mich so nah an ihr Leben heran lässt. Es ist ja etwas anderes als kurze Tagebuchnotizen und etwas ganz anderes als eine gestaltete Autobiographie, wo alles eingeordnet ist.
Christa Wolf war mir vor allem, als sie im Westen plötzlich heruntergemacht wurde, menschlich nahe. Bei der Kritik von Biermann an ihr stand ich auf ihrer Seite, obwohl mir Biermanns Werke deutlich besser gefallen als ihre. 

Christa Wolf  Ein Tag im Jahr 2001 - 2011

2001 
27.9. "[...] Während ich dusche, mich anziehe – bequeme Sachen, vorläufig kann ich zu Hause bleiben –, höre ich, Hunderttausende von Flüchtlingen verlassen Afghanistan in Richtung Pakistan, oder sie ziehen sich aus den von Bombardements bedrohten Städten aufs Land zurück – in beiden Fällen haben sie keine Nahrungsmittel, die UNO warnt vor einer humanitären Katastrophe und fordert Millionen, um das Schlimmste zu verhindern, und ich, unverbesserlich, muss ich mir für den Bruchteil einer Sekunde vorstellen, die an dem künftigen, schon als unausweichlich akzeptierten Krieg beteiligten Länder, allen voran die USA, würden die Hälfte der Milliarden Dollar, die dieser Krieg verschlingen wird, nicht auf die Unterstützung ihrer Rüstungsindustrie durch die Erzeugung neuen Bedarfs verwenden, sondern diese Unsummen den von Hungertuch bedrohten Menschen für Nahrungsmittel, Medikamente, für den Aufbau ihres schon jetzt zerstörten Landes / und für die Bestechung ihre anscheinend käuflichen Stammesführer geben und so womöglich künftigen Terroristen Boden entziehen… 
Unrealistisch? Umso schlimmer für die Realität. Rasend schnell, denke ich, gleitet die gute alte Wirklichkeit ins Absurde ab, die Grenzen des Erzählbaren scheinen immer mehr zu schrumpfen. Darüber wäre zu schreiben, denke ich. – Doch wozu? [...]" (S.17/18)

Wolf ist inzwischen 72 Jahre alt. Ihre Gedanken sind im Jahre 2024 genauso aktuell wie 2001. Ein Unterschied: Die israelische Regierung kennt die Erfahrungen, die die USA seit 2001 gemacht hat. 
Andererseits: Die USA haben die Erfahrungen in Afghanistan und dem Irak gemacht, und sie versuchen nicht, sich "am Hindukusch zu verteidigen", sondern eine andere Lösung. Die steht dem Staat Israel nicht zu Gebot.

Joschka Fischer rechtfertigte sich 1999 in Sachen Kosovo* mit "nie wieder Auschwitz". Dieser Gedanke steht in Israel aus verständlichen Gründen so und so an erster Stelle. 
*[Dort ging es um die Rechtfertigung der ersten Beteiligung Deutschlands an einem Krieg und zwar einem Angriffskrieg auf Serbien, der aufgrund eines Ultimatums an Jugoslawien erfolgte, das die Annahme des Vertrages von Rambouillet forderte, der Geheimbedingungen enthielt, die - aus der Sicht Außenstehender - unannehmbar waren. ]

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